„Bitte schreib keine Kolumne über mich“, sagt meine Mutter noch. Dabei legt sie ihren Kopf auf meine Schulter und wir beobachten gemeinsam eine Robbe, die sich ungelenk in der Sonne sonnt. Der Wind weht durch die Kleidung, ein warmer Novembertag, wir sind müde, über den Klimawandel zu sprechen, weil: „So ein Wetter dürfte ja nicht sein.“ Wir schämen uns, die Sonne zu genießen, weil sie nichts Gutes bedeuten kann.
Mutter hat Geburtstag. Immer wenn ich ihr Alter sage, betonen alle anderen, wie jung meine Mutter sei, und ich kann dem nur zustimmen. Ich fühle mich meiner Mutter mit meinen 41 Jahren intellektuell näher als Menschen, die 20 Jahre jünger sind als ich. Das macht sie jung.
Meine Mutter mag das Neptun Hotel an der Ostsee, in Warnemünde. Vater kann auf dem Balkon sitzen und einfahrende Frachtschiffe bestimmen, als wären es Vögel aus Stahl. Sitzt dort mit Fernglas und ruft Namen schwedischer Reedereien. Und meine Mutter kann vom Bett aus Möwen beobachten, die Touristen den Fisch aus den Brötchen stehlen. Beiden bereitet das große Freude. Menschen, winzig klein, aus der oberen Etage dieses Hotels. Oder „Schiffe aus dem fernen Ausland“, wie mein Vater sagen würde.

Gescheitert wird, wo die Sonne aufgeht. Im Osten
Da sind sie nun beide in diesem seltsamen Gebäude schamlosester sozialistischer Architektur, hineingeworfen in diese trostlose Flachheit der Ostsee. Der beständige Wind an der Küste zerrt am Gebäude, an meinen Eltern. Oma war hier, kurz bevor sie starb.
Es ist der ostigste Ort, den ich kenne, es ist die Erinnerung an den Osten in meiner Familie. Einer der wenigen Orte, die aufgeladen sind mit Geschichten von früher, obwohl weder meine Eltern noch meine Großeltern hier in diesem Hotel übernachtet haben. Vor dem Fall der Mauer.
Ich weiß nicht, woran es liegt, aber dieses Hotel, Warnemünde, der lange Schatten der Sonnenblumenhäuser in Lichtenhagen, sichtbar aus dem Zimmer meiner Eltern, macht etwas mit mir.
Meine geschätzte Kollegin Wiebke Hollersen schrieb kürzlich über diese innere Betrachtung des Ostbürgers. Das seltsame Reportage-Format der Ossis, das Ossis verstehen und dem Rest der Republik erklären soll. Hollersen stellte richtig fest: 45 Minuten reichen nicht, um das zu verstehen, was unter anderem meine Eltern sind. Was ihre Eltern sind, was ich bin, was sie ist.
Und es macht mich zunehmend traurig, dass die alten Bundesländer noch immer davon überzeugt sind, dass Ossis etwas anderes sind als Wessis. Dass die Nähe zu Putin, die AfD, die Schwurbelscheiße, die Q-Anons, die Idiotie der Zurückgelassenen eine Erfindung des Ostens sei. Gescheitert wird da, wo die Sonne aufgeht. Im Osten.
Ich denke an diesen gesellschaftlichen Rand, der mich regelmäßig auf Facebook beleidigt, mir den Tod wünscht, ich denke an sie, hier oben in MV. EmFau, wie wir in Berlin sagen. Mecklenburg-Vorpommern. Ich denke daran, dass die Verführer aus dem Westen kommen, der NSU in Hessen gut aufgehoben war, in München dem Einkaufszentrum von einem Rechten die Unschuld genommenen wurde, und ich denke, dass der Reflex von Deutschen, über Deutsche abschätzig zu sprechen, ein großer Fehler ist.
Auch frage ich mich, wie man in der Reflexion zum „Ossi“ darauf kommt, dass wir alle irgendwie eins sind. Wie kann man einem Berliner sagen, er sei wie ein Sachse. Einem Schweriner, er sei wie ein Leipziger.
Der Ostdeutsche existiert nur noch in der Vorstellung großer Medien
Wenn ich Deutschland beobachte, reicht schon der Wechsel einer Straßenseite in einer dieser Krebsrisikostädte im Ruhrpott, um auf völlig verschiedene Menschen zu treffen. „Wir sind nicht die“ ist eines der deutschesten Mottos. Und es macht nicht halt vor der Grenze in unseren Köpfen, ja vielleicht macht es uns das Leben sogar leichter.
In zahlreichen Essays im Spiegel, im Stern, in der Süddeutschen, manchmal auch in der Zeit lese ich immer und immer wieder von der Intoleranz der Ossis, vor der Angst vor dem Fremden, die „wir“ haben. Was ich in diesen Essays auch lese: Eine Angst vor dem Fremden und die Intoleranz gegenüber dem, den man nicht versteht. Dem Ostdeutschen. Der nicht mehr existiert. Nur noch in der Vorstellung, in den schmerzhaften Erklärungsversuchen großer Medien. Nur noch dort gibt es den „Ossi“.
Er wird verwechselt mit den Menschen, die blieben, nachdem die Mauer verschwunden ist. Er wird verwechselt mit den wirtschaftlich erfolgreichen Sachsen, mit denen, die es nach der Wende zu etwas gebracht haben, die Steuern zahlen, die viel Geld in diesen Staat gespült haben. Die sächselnden Querdenker, die Putin verstanden haben wollen, sind nicht arm, sind keine RTL2-Protagonisten.

Nein, es sind Menschen, die das verinnerlicht haben, was sie 1989 über Nacht lernen mussten: Missgunst, Neid und vor allem: nicht mehr teilen. Sie haben die Wirkmechanismen des Kapitalismus verstanden und wenden sie nun an. Vollkommen ungelenk und überdreht übernehmen sie das, was die FDP lehrt: Das Ich im Mittelpunkt und alle anderen haben unrecht. Der einzige Unterschied zum Wessi ist, dass der Ossi erst 30 Jahre Zeit hatte, zu lernen, wie man eine egoistische Arschgeige wird.
Ich beobachte meine Eltern in ihrer bunten Kleidung, mit ihren teuren Sonnenbrillen, den schicken Schuhen, sie sind richtige Westdeutsche. Zum Glück tragen sie keine Camp-David-Kleidung, so lassen sich hier Rentner aus Köln von Rentnern aus Frankfurt (Oder) unterscheiden.
„Warum fühlst du dich hier wohl?“, frage ich meine Mutter am Abend. In der Lobby dieses seltsamen Hotels. Hoffe auf eine Antwort, die mir ein gutes Ende für diese Kolumne bietet, ein Ende, das versöhnt, das Deutschland vereint. „Weil hier jeder aus unserer Familie so sein kann, wie er will, niemand muss irgendwas spielen“, sagt meine Mutter und wird wieder traurig.
„Warum bist du traurig?“, will ich von ihr wissen. Und dann, egal wie sehr sich Deutschland entzweit, flüstert meine Mutter das, worum es im kleinen und im großen gehen sollte: „Weil wir uns so selten haben“, sagt sie.








