Kolumne

Thilo Mischke: Die tollwütigen Wesen von Twitter und wir

Ein Kollege verändert sich. In den sozialen Netzen verbreitet er seine Haltung mit religiösem Eifer. Unser Kolumnist sucht nach einem Umgang damit.

Kolumnist Thilo Mischke
Kolumnist Thilo Mischkeimago

Die Kolumne, die Sie jetzt lesen, ist nicht die Kolumne, die eigentlich gedruckt werden sollte. Ich habe bereits einen anderen Text geschrieben, ihn unzählige Male korrigiert, immer wieder überlegt, ob ich das so schreiben kann und habe mich dann dagegen entschieden. Ich habe die Kolumne zerknüllt und weggeschmissen. Habe sie nicht freigegeben. Trotzdem will ich erzählen, worüber ich in dieser anderen, ursprünglichen Kolumne geschrieben habe.

In diesem Text hatte ich von einem Kollegen erzählt, der sich, wie wir alle, entwickelt hat. Der Kollege und ich, wir kennen uns drei, vier Jahre, und in dieser Zeit ist er erwachsen geworden. Wir haben als Journalisten zusammengearbeitet und uns gut verstanden, irgendwann haben wir weniger zusammengearbeitet und uns auch weniger gut verstanden. Auch, weil wir politisch unterschiedlich positioniert sind. Ich irgendwie Mitte links, er irgendwie konservativ.

Grundsätzlich ist das kein Problem für mich, ich unterhalte mich sogar ausgesprochen gern mit Menschen, die anderer Meinung sind, auch weil ich dadurch immer etwas lernen kann. Aber dieser Kollege begann mit religiösem Eifer seine Haltung zu verteidigen – und da fängt es für mich an uninteressant zu werden. Wenn Haltung mit Persönlichkeit verwechselt wird, wird es oft ideologisch. Da bin ich raus.

Gestern Eintopf, heute Deep State

Ich merke, ich schreibe auch im zweiten Versuch dieselbe Kolumne. Die, die ich eigentlich nicht veröffentlichen will. Es zeigt, wie sehr es mich beschäftigt, auch weil ich immer predige, dass wir füreinander da sein müssen. Dass die Gräben zugeschüttet werden, dass wir miteinander reden müssen, anstatt einander zu ignorieren. Alles andere führt nur zu Konflikten, zu Abneigung, und am Ende zu Hass. Alles andere führt zu dem, was wir auf Twitter beobachten. Zu dem, was der Kollege nun erlebt. Er hat sich an den Rand des Konsens navigiert, und die einzige Reaktion, die er nun noch beherrscht, ist, wie ein tollwütiges Wesen nach jenen zu schnappen, die für ihn da waren. Die für ihn da sind.

Ich frage mich oft, wie solche radikalen Persönlichkeitsveränderungen passieren. In meinem Leben als Journalist habe ich diese Menschen oft treffen können, die sorgenden Mütter, die plötzlich Querdenkerinnen sind und sich einer jüdischen Weltverschwörung ausgesetzt fühlen. Gestern Eintopf, heute Deep State. Ich habe mit Neonazis Zigaretten geraucht, die mir ganz menschlich davon erzählt haben, wie sie unmenschlich wurden. Ja, selbst bei meinen eigenen Eltern konnte ich es beobachten. Vom Leben in Arbeit in die Orientierungslosigkeit der Rentner.

Spüren wir das in uns selbst? Spüren wir diese Veränderung? Oder ist es menschlich, Veränderungen zu ignorieren? Der Kollege, die Deep-State-Mutti, der Neonazi: Spüren sie, dass sie sich verändert haben? Ich fühle mich heute, jetzt in diesem Moment, wie dieselbe Person, die 1996 in der U5 mit dicken Filzstiften die Türen bemalt hat, wie dieselbe Person, die 2001 vor der Buchhandlung meiner Mutter wegen New York geweint hat, ich bin dieselbe Person, die 2003 gegen den Irak-Krieg war und 2022 für die Ukraine und gegen den Krieg auf die Straße gegangen ist. Ich glaube, ich habe mich nicht verändert, weiß aber: Das ist natürlich Quatsch. Natürlich bin ich ein anderer Mensch, ich kann es nur nicht sehen. Nicht spüren. Das Ich in dieser Welt bleibt immer gleich und damit immer richtig.

Sind Precht, Augstein und Wagenknecht deshalb so laut?

Fällt es uns vielleicht deshalb so schwer, den Klimawandel zu akzeptieren, die Pandemie, diesen Krieg, die Energiekrise, die Preisexplosion? Weil die Welt sich anfühlt, als wäre sie noch so, wie sie immer war? Sind Precht, Augstein und Wagenknecht deshalb so laut? Weil sie nicht akzeptieren können, dass sich alles ständig verändert und nichts bleibt, wie es ist? Das auch sie sich verändert haben? Aber vermutlich würden Precht, Augstein und Wagenknecht von sich sagen: Ich bin dieselbe Person wie früher.

Viele Menschen denken über meinen Kollegen nach, sorgen sich um ihn, er wird das nicht merken. Er fühlt sich lediglich angegriffen. Angefeindet. Er fühlt sich isoliert. Und ja, er ist es auch, er ist isoliert. Ich wüsste nicht, was diesen Zustand beenden würde, ich weiß nur, dass es nicht darum geht, recht zu behalten. Denn das ändert nichts.

Es geht im Klimawandel, in der Pandemie, in der Energiekrise, im Krieg niemals darum, recht zu haben. Im Recht sein bringt nicht an Corona gestorbene Großeltern zurück, rettet nicht die Inseln im Pazifik. Im Recht sein heizt nicht die Wohnung. Wer nur recht haben will, der will nichts verändern, der will nur gehört werden. So wie der Kollege.