Erst gestern war ich in der Buchhandlung meiner Mutter, habe mir das neue Buch von Theresa Enzensberger gekauft, das, nun ja, irgendwie danach klingt, als würde sie eine Welt beschreiben, in der die FDP gewonnen hat.
Meine Mutter, hinter mir stehend, mit einer mütterlichen Geste mir in die Nackenhaare fahrend, eine Geste von großer Liebe, die früher die Niedlichkeit des eigenen Kindes unterstrich, heute aber bedeutet, dass meine Mutter mich vermisst. Meine Mutter streichelt also ihrem 41-jährigen Sohn durchs Haar und fordert an diesem Tag. Mütter können das gut, fordern.
Aber sie fragt nicht danach, wann sie endlich Oma wird, sie will nicht wissen, ob ich auch für später spare oder verlangt, dass ich mich öfter bei meinem geliebten Bruder melden soll. Nein, sie sagt, mit leiser Stimme: „Kannst du nicht mal was Fröhliches schreiben, die Welt ist so traurig geworden.“ Und ich lächle und sage ja.
Die Welt ist wirklich scheiße geworden, ich selbst habe ja eindrücklich in den letzten Wochen hier, an dieser Stelle, versucht, zu erklären, warum sich alles so anfühlt, wie es sich anfühlt. Als einzige Lösung erschien mir da noch der kontrollierte Versuch, die Substanz „MDMA“, leicht überdosiert und stark unvernünftig, zu konsumieren.
Und ja. Ich versuche eine fröhliche Kolumne, will die Geschichte von Amir erzählen, den ich im Mai in Afghanistan kennengelernt habe, ein junger Mann, Jahrgang 2000. Groß gewachsen, schöne Augen, ein beneidenswert dichter Bart und eine helle Stimme, die so klingt, als würde Wind durch Schilf rauschen. Wenn Amir sein Afghanistan beschrieb, dann waren das Bilder von poetischer Dichtheit, von persischer Übertreibung. Dieses staubige Land, in dem die Weintrauben köstlich sind, in dem die Frauen keine Rechte haben, in dem Amir vergessen ist. Weil er Englisch spricht, weil er studiert hat, weil er heimlich mal einen Schnaps trinken will, weil er in Dubai mit einer Frau geflirtet hat, weil er so ist, wie ich bin: frei.
Ein Mensch wie ich, in einer Welt, die niemand mehr versteht. Nur Amir lebt dazu in einem Land, das ihn nicht mehr will. Weil er westlich ist, weil er sich den uralten, überlebten Kulturen dieses Landes nicht mehr anschließen will. Er will nicht so leben wie früher. Wie viele seiner Altersgenossen, überall auf der Welt. Manche kleben sich auf die Straße, weil sie nicht mehr so sein wollen wie ihre Eltern, manche an Kunstwerke, andere gründen radikale Flügel, andere verzweifeln, und ein großer Teil resigniert. Weil früher nicht alles besser war, und das kann nur jemand verstehen, der „Früher“ nicht erlebt hat. Also Menschen wie Amir, die Afghanistan, Kabul, nur als westlich orientiertes Land kennen. Sie kennen nicht die Herrschaft der Taliban, wie sie früher war. Und die jungen Menschen hier: Sie kennen keine Welt, in der alles gut ist. Deswegen glauben sie den Alten auch nicht mehr.
Wie überall auf der Welt haben die Alten nämlich entschieden, was gut für die Jungen ist. Und das ist die Sehnsucht nach einer Zeit, die nie wiederkommen wird. Die in der Geschichte der Menschheit noch nie wiederholt werden konnte: Dieses ominöse Früher. Die radikale Kräfte, ob nun im Islam, beim Tempolimit oder bei Gasumlagen werden scheitern. Ich bin mir sicher.
Amir schreibt: „Hol mich nach Deutschland, ich halte es hier nicht mehr aus.“ Und ich verstehe ihn, er, der in seiner Freizeit eine illegale Schule für Mädchen und Jungen betreibt, der will, dass Männer lernen, Frauen nicht infrage zu stellen. Er, der sagt: „Eine gebildete afghanische Frau bedeutet: Fünf gebildete afghanische Männer.“
Amir kann nicht mehr und ich will ihn holen. Ich bin noch frei, er nicht mehr. „Kein Problem“, sage ich. Und Amir freut sich sehr in Kabul.
Ich würde ihn in meiner Produktionsfirma anstellen, ich würde ihn zum Tonmeister ausbilden, er würde Deutsch lernen, er könnte Schnäpse trinken, flirten, Bücher lesen, Techno hören, er könnte das Leben eines 22-Jährigen leben, so wie wir es alle aus dem Internet kennen.
Florian, ein Freund und Kollege, bietet an, das Amir bei ihm wohnen könne, meine Eltern würden bestimmt für Amir kochen und er würde sich bedanken, mit Geschichten aus seinem Land, er würde lachen und wir würden zusammen weinen, diesmal vor Freude und nicht wie im Mai, vor Traurigkeit, in Afghanistan. Ich kümmere mich. Da ist dieser Arbeitsvertrag, da ist der Wille. Das muss doch klappen.
Und dem gegenüber stehen die Behörden der Bundesrepublik, die schulterzuckend sagen: So einfach ist das nicht. In Pakistan müsse er warten, mit seinem Antrag. Da würden aber gerade um die 30.000 Menschen auf eine Erlaubnis warten.
„Wie lange dauert das?“, will ich wissen.
„Naja, schon zwei Jahre“, sagt die Behörde. „Kann er nicht einfach aus Dubai kommen?“, frage ich. „Nein.“
Vier Buchstaben, weniger Wert als ein Stempel im Pass, aber trotzdem entscheidend.
„Amir“, schreibe ich. Und er, aufgeregt, wartend, ich weiß, dass er, wie bei einer sehnsüchtigen Liebe sein „WhatsApp“ öffnet, obwohl keine neue Nachricht da ist. „Es klappt noch nicht“, sage ich. Und Amir ist nie enttäuscht, nie traurig, nie sauer, nie ungeduldig.
„Kein Problem, mein Freund“, sagt er.
Und was ist nun das Heitere an dieser Kolumne? Das ist ganz einfach. Wir geben nicht auf.
Wir probieren es weiter. Ich werde Amir nach Deutschland holen. Und ich helfe ihm damit und unterstütze damit den Protest dieser jungen Generation. Jeder Protest dieser jungen Generation macht mich glücklich. Sie schaffen es nicht alleine, jene, die mit allen Mitteln versuchen werden, das Früher zu verhindern. Amir und seine Millionen Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter.
Die einen kleben sich auf der A100 fest, die anderen lassen die Alten in Afghanistan einfach zurück. Ich hoffe auf Amir und all die anderen, jungen Menschen. Ich hoffe auf ihre Wut.
