An einem Mittwochmorgen in Köpenick, im Dezember 2022, wurde ein kleines Wesen geboren, das den Namen meiner Großmutter trägt. Dieses Wesen hat sich ins Leben geschlichen. Ruhige Straßen, zwischen den Jahren. Nur manchmal das nervöse Knallen frühzeitig gezündeter Böller. Es trägt an zweiter Stelle den Namen meiner Großmutter, niemand will heute sein Kind noch Karin nennen.
Ich habe dieses kleine Wesen über das Telefon sehen können, kleinste Hände, ein winziges Gesicht und der ungläubige Blick, warum es denn aus der wärmenden Mitte der Mutter in die Wirklichkeit gezerrt wurde. Als wüsste es, dass es in dieser Wirklichkeit erst einmal nichts zu holen gibt.
Dieses kleine Kind ist 40 Jahre, nachdem ich geboren wurde, auf die Welt gekommen. So wie ich 40 Jahre nach meiner Oma geboren wurde. Es ist ein irrer Zufall. Immer liegen 40 Jahre dazwischen. Eine Zeitspanne, die nichts im ewigen Donnern der Zeit ist, nicht mal ein Augenzwinkern, nein. Aber die Welten, in denen diese drei Menschen geboren worden sind, könnten nicht unterschiedlicher sein. Für eine Familie sind 40 Jahre eine Ewigkeit. Ein Donnern.
2062 werden wir gesünder sein
Die Oma Karin geboren in einem Berlin, für das wir uns heute schämen. Ich in einem Berlin, das zweigeteilt existierte und meine Identität scharfkantig geprägt hat. Und der neue Mensch an diesem lauwarmen Dezembermorgen 2022, heute, in einem vereinten Berlin, aber einer entzweiten Welt.
Es fasziniert mich, über dieses teewurstfarbene Würmchen nachzudenken, wohin es gehen wird und, vor allem, was in 40 Jahren sein wird. Wenn ich alles richtig gemacht habe, dann bin ich da noch am Leben, 81-jährig und hoffentlich endlich Sitzplätze in der U5 erhaltend.
Ich stelle mir oft vor, alt zu werden und habe erst kürzlich gelernt, dass dies ein Zeichen für Burn-out ist. Männer wünschen sich in die Rente, Frauen ein Kind. Beides ist furchtbar anstrengend, aber offensichtlich denken Menschen, die arbeiten, bis sie ihre Seele spüren, alt sein oder Mutter werden sei einfach. Einfacher als das, was wir ein Berufsleben nennen. 2062 werden wir gesünder sein, denke ich, wenn ich über die Zukunft nachdenke.
Wird es den Euro noch geben?
Gentherapien und individuelle Medikamente werden die Krankheiten, die unveränderlich in unserer DNA stehen, ausgerottet haben. Krebs ist nur noch ein Schreck, aber kein Todesurteil. Wir werden gesünder sein, die Welt wird gesünder sein, der kleine Wurm, dann eine 40-Jährige Frau, wird eine von fast 10 Milliarden sein.
Wird es den Euro noch geben? Wird Christian Lindners herzlose Art der Altersvorsorge für mich gelten? Werde ich von ETFs und Aktien leben anstatt vom Sozialstaat? Es wird keine fliegenden Autos geben und ich hoffe, obwohl ich kein Grünen-Wähler bin, der Stadtverkehr ist passé.
Die Welt wird wenigstens 1,5 Grad wärmer sein. Das halte ich für unvermeidlich. Doch ich bin mir sicher, für das Kind meines Bruders und seiner Frau werden wir uns angepasst haben. Nicht für die Ökosysteme, die wir in den Abgrund reißen, aber wir haben es dieser Generation versprochen. Überleben wird möglich sein, zumindest für den Menschen.
Wie konntet ihr nur?
Wir werden die Natur nicht zähmen können, aber wir können ihrer Wildheit trotzen. Das haben wir Menschen doch immer, dass ist der Antrieb, der uns nach vorne blicken lässt. Ich glaube, wir werden in Städten leben, in ultrasmarten Häusern, die keine Updates mehr brauchen. Unsere Wohnung, das große Licht im Wohnzimmer, die Dusche, sie wird schlauer sein als wir. Es ist eine faszinierende Vorstellung.
Vielleicht werde ich mit dieser erwachsenen Frau im Café Intimes in Friedrichshain sitzen, und vielleicht wird sie mich fragen, wie wir nur konnten. „Wie konntet ihr uns diese Welt nur so übergeben?“, vielleicht wird sie mich das fragen und ich werde keine Antwort haben. Wir haben es nicht gewusst, wir konnten nicht ahnen, welche Konsequenzen es hatte. „Der Widerstand war gering“, werde ich sagen. „Und jeder hat zu seiner größten Bequemlichkeit gehandelt“, werde ich mich rechtfertigen. Und es wird mir peinlich sein.
Vielleicht wird mich diese erwachsene Frau, die Tochter meiner Schwägerin, die Enkelin meiner Mutter und meines Vaters auch nach Karin fragen. „Warum heiße ich eigentlich Karin mit zweitem Namen?“, will sie dann vielleicht wissen. Und ich weiß die Antwort sofort. „Damit du ein Vorbild wirst“, werde ich sagen. „Egal in welchem System du groß wirst. Egal welche Probleme auf dich zukommen werden.“
Und vielleicht wird das kleine Wesen, im Dezember 2022 geboren, etwas verändern. Für sich, für alle. Dies ist die Hoffnung, die in jedem dieser mittlerweile acht Milliarden steckt.








