Eine Frau mit grünen Zetteln in der Hand rennt den Passanten im Volkspark Wilmersdorf buchstäblich hinterher, um sie auf den Volksentscheid am Sonntag aufmerksam zu machen. Wenn sie vorbei joggen wollen, joggt sie einfach mit. „Wir sind in einer Klimanotlage“, sagt sie keuchend, „aber es ist noch nicht zu spät.“ Dann übergibt sie einen Zettel.
Die Mitglieder der Initiative Klimaneustart haben es eilig. Berlin soll schon 2030 statt 2045 klimaneutral werden, wenn der Volksentscheid erfolgreich ist. Die Entscheidung wäre dann rechtlich bindend, anders als beispielsweise der Volksentscheid der Initiative „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“.
Wenn am Sonntag 608.000 Menschen und die Mehrheit der Wähler mit Jastimmen, tritt ein bereits ausformuliertes Gesetz in Kraft. Demnach sind die Klimaschutzziele dann Verpflichtungen. Teile der Initiative gestehen ein, dass es möglicherweise unrealistisch sei, die Klimaneutralität 2030 zu erreichen. Andere weisen darauf hin, dass Corona gezeigt hat, wie schnell Veränderungen möglich sind, wenn der politische Wille da ist.
„Wir werden nicht klagen, wenn wir sehen, dass der Senat alles tut, was in seiner Macht steht“, sagte Sprecherin Jessamine Davis auf der Pressekonferenz am Donnerstag. Sprecher der Initiative hatten sich enttäuscht darüber gezeigt, dass der Volksentscheid nicht mit der Wiederholungswahl zusammengelegt wurde. Mit gebündelten Kräften versuchen sie nun, die Menschen auf der Straße dazu zu bewegen, allein für den Volksentscheid zur Urne zu gehen.
Wahlpannen vor dem Wahltag
Vielen ist das zu aufwändig. 430.000 Menschen haben bereits die Briefwahl beantragt, die Bezirksämter melden einen hohen Andrang von Wählern, die schon vor dem Wahltag kommen, um ihre Stimme abzugeben. Kürzlich hat Klimaneustart bekannt gegeben, dass es Verzögerungen bei der Zustellung von Wahlbenachrichtigungen und Briefwahlunterlagen gab.
„Menschen haben die Briefwahl teilweise vor mehr als zehn Tagen beantragt und immer noch keine Abstimmungsunterlagen bekommen“, sagte Sprecherin Michaela Zimmermann am Mittwoch. Die Rücklaufquote der Briefwahlunterlagen sei laut Bezirkswahlämter auffällig niedrig. Menschen, die die Briefwahl beantragt haben und ihre Unterlagen spät oder gar nicht erhalten haben, müssen sich vor der regulären Wahl beim Bezirksamt melden.
Trotz der Hindernisse ist die Stimmung unter den Mitgliedern der Initiative blendend. Allein der Zusammenhalt in der Bewegung, „aktiv etwas zu tun“, macht für sie einen Unterschied. „Mir ist es wichtig, dass wir durch den Aktivismus zusammen Kraft schöpfen“, sagt Alina Lebherz, die das Kiezteam in Schöneberg leitet. „Wir machen das ohne Druck.“
Stattdessen feierte das Kiezteam bei den Unterschriftensammlungen seine persönlichen und kollektiven Zwischenziele. Die 29-Jährige hat ihre ehrenamtliche Arbeit im Kiezteam über ihren Nebenjob am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung gestellt und schließlich gekündigt. „Die machen tolle Arbeit“, sagt sie. „Aber ich habe mich hier wirksamer gefühlt.“

Gegner führen an, dass die soziale Gerechtigkeit leiden könnte. Damit die Mieten nicht steigen, hat die Initiative einen Paragrafen in ihr Gesetz eingebaut: Falls die Warmmiete auf der Grundlage des Gesetzes steigt, müsste die Landeskasse Mehrkosten übernehmen. In Bezug auf den Verkehr sollen Alternativen das Auto unattraktiver machen. Die Menschen, die darauf angewiesen sind, könnten sich laut Jessamine Davis dann schneller durch die Stadt bewegen.
Die Initiative Klimaneustart geht den institutionellen Weg
Oft werden die Stimmensammler von Passanten mit den Aktivisten der „Letzten Generation“ verwechselt, erzählt Sprecher Stefan Zimmer. Im Gegensatz zu ihnen geht Klimaneustart den institutionellen Weg, sagt er. Das motiviere ihn mehr als die Teilnahme an einer Demonstration: „Mit direkter Demokratie kann man ganz konkret politische Veränderungen herbeiführen“, sagt er.
Schon vor dem Volksentscheid hat Klimaneustart erfolgreich Unterschriften für zwei Volksinitiativen gesammelt, Berlin hat daraufhin den Klimanotstand ausgerufen und einen „Klimabürger:innenrat“ gegründet. Der besteht aus einhundert zufällig ausgelosten Berlinerinnen und Berlinern. Der Rat spricht sich für eine emissionsfreie Innenstadt 2030 aus und hat empfohlen, bis 2035 Öl- und Gasheizungen zu verbieten. Der Senat handelt nicht danach und hat das Volksbegehren der Initiative abgelehnt, deshalb also der Volksentscheid.
Der Senat weist darauf hin, dass die Sanierung des gesamten Gebäudestands und die notwendigen Baumaßnahmen im Verkehr mehr Planungszeit erfordern. Studien belegen, dass es notwendig ist, 2030 klimaneutral zu werden, um das Ziel der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad zu erreichen.
Expertinnen und Experten bezweifeln trotzdem, dass es sinnvoll ist, der Regierung Ziele vorzuschreiben, die kaum erreichbar sind. Die Mitglieder der Initiative meinen dagegen, die Anstrengungen würden in jedem Fall eine Verbesserung darstellen. Eine weniger ambitionierte Zielsetzung könnte dazu führen, dass Berlin es auch 2045 noch nicht geschafft hat, klimaneutral zu werden. CDU und SPD haben signalisiert, dass sie das Gesetz nach der Volksabstimmung „nicht mehr anfassen“ und den Volksentscheid bei einem Erfolg umsetzen würden.
Unternehmensverbände „keine Gegner des Klimaschutzes“
Das Bündnis, das am Donnerstag auf einer Pressekonferenz für den Volksentscheid wirbt, argumentiert, dass eine Verschiebung in die Zukunft nur teurer und schwieriger werden würde. „Der Senat hat vielleicht recht, zieht aber den falschen Schluss“, sagt Julian Zuber von German Zero.
Ein Vertreter einer Initiative von über 300 Vertretern aus der Kultur, die das Vorhaben unterstützt, formuliert es noch einmal klarer. Pessimisten müssten sich mit Blick auf den Berliner Flughafen klarmachen: „Wenn wir 2045 schaffen wollen, müssen wir uns 2030 mindestens vornehmen.“

Carsten Brönstrup von den Unternehmensverbänden Berlin-Brandenburg (UVB) stört genau diese Ungenauigkeit bei der Machbarkeit. Der Verbandssprecher spricht für 60 Mitgliedsverbände, die sich mehrheitlich gegen den Volksentscheid ausgesprochen haben. „Wir sind keine Gegner des Klimaschutzes“, sagt er, „aber es bringt nichts, wenn ein Ziel in einem Gesetz steht, das letztlich nicht erreicht werden kann.“
Brönstrup hält die Handreichung des Senats zum Volksentscheid für zu wenig aussagekräftig und hätte sich gewünscht, dass auch auf den sozialen Medien ehrlicher über die realen Bedingungen gesprochen werde. „Wenn die Zahl der E-Autos erhöht werden soll, wie es gefordert ist“, sagt Carsten Brönstrup, „dann muss man auch so ehrlich sein und erwähnen, dass der Ausbau der Ladeinfrastruktur sich verfünffachen müsste.“ Außerdem werde das Gesetz auch politisch scheitern, weil für viele notwendige Gesetze und Regeln die Hoheit beim Bund und bei der Europäischen Union liege.
Die Volksentscheid-Befürworter sagen, dass Klimaneustart keine konkreten Maßnahmen vorschreibe. Doch es gibt Ideen, wie eine technische Umsetzung schneller gelingen könnte. Mailand schaffe zum Beispiel mit schnellen Maßnahmen, die nicht permanent sind, verkehrsberuhigte Zonen.
Stefan Zimmer führt außerdem alternative Methoden zur Dämmung an: Es gebe Firmen, die im 3D-Druck ganze Fassaden vorproduzieren und die Möglichkeit, nur in den oberen Geschossen und Decken Hohlräume mit Papierabfällen zu füllen. Dieses „kostengünstige und effektive Verfahren“ dauere statt Monate nur einige Tage, sagt Zimmer. Dafür seien auch nicht immer Facharbeiter nötig, dies könnten überwiegend ungelernte Arbeitskräfte bewerkstelligen, wenn sie vorher Schulungen absolvierten. Genauso bei den Solaranlagen: Fachkräfte könnten diese anschließen, ansonsten könnte man mit Hilfskräften arbeiten. Dies ist wichtig, weil der Fachkräftemangel in den nächsten Jahren zunehmen wird, wenn die Boomergeneration in Rente geht.
Auch Jochen Wermuth führt diese technischen Möglichkeiten aus. Er hat den offenen Brief von hundert Unternehmen initiiert, der Klimaneustart unterstützt. „Klimaschutz rechnet sich“, sagt Wermuth. Das Vorhaben koste nicht nur Geld, es bringe Arbeitsplätze und wirtschaftliche Einnahmen.
Er rechnet vor, dass bei der Installation von Solarpanels die Rendite nach Abzug aller Kosten immer noch bei zehn Prozent liege. Geparkte Elektroautos könnten in Zukunft als Energiespeicher genutzt werden. Der ehemalige Flughafen Tegel sollte seiner Ansicht nach als Hyperloop, ein Hochgeschwindigkeits-Transportsystem, wiedereröffnen. Warum viele Vertreter der Wirtschaft sich trotzdem dagegenstemmen? Weil sie von den Milliardeneinnahmen der Öl- und Gasindustrie in den letzten Jahren profitiert haben, meint Wehrmuth, „ohne größere Verschwörungstheorie“.
Berlin müsse als Mitverursacher der Klimakrise vorangehen
Die „Omas for Future“ haben bei der Unterschriftensammlung und im Wahlkampf vor allem ältere Menschen angesprochen. 56 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind über 50 Jahre alt, die Hälfte davon über 70 Jahre. „Wir versuchen sie zu bewegen, für die Jugend zu stimmen“, sagt Katharina Dietze. Dabei verwenden sie drei Begriffe: Heimat Berlin, Sicherheit und Fortschritt.
Die Omas sprechen sich für Naturschutz im Stadtraum und bessere Luft aus. Sie werben für sichere Energien, die Deutschland unabhängig von diktatorischen Regimen und der Ausbeutung des globalen Südens machen. Und sie argumentieren, dass Berlin als einer der Verursacher der Klimakrise jetzt auch als eine der ersten Städte vorangehen muss.
Berlin würde sich mit einer Entscheidung für die Klimaneutralität 2030 an die Spitze einer deutschlandweiten Bewegung stellen, sagt Julian Zuber von German Zero. Die Organisation unterstützt Städte dabei, bis 2035 klimaneutral zu werden. Außerdem haben europaweit bereits etwa einhundert Städte Fördermittel der EU beantragt, um bis 2030 klimaneutral zu werden. Darunter Paris, Rom und Madrid.







