Lesen hilft, auch jetzt wieder. Lesen Sie mal genau, worüber Sie, das Volk, am Sonntag abstimmen sollen. Klimavolksentscheid klingt ausgezeichnet.
Ja, viel mehr muss getan werden, um den weiteren Klimawandel aufzuhalten: Energieeinsparung, Energiewende weg von den fossilen Brennstoffen, weniger und emissionsärmerer Verkehr und so fort – alles muss passieren und zwar schnell.
An einem Herbstabend habe ich mich in die Liste pro Klimavolksentscheid eingetragen. Erst später las ich genauer, was da zum Gesetz werden soll: Klimaneutralität in Berlin bis 2030 – in sieben Jahren zu Null-Nettoemissionen! Bis übernächstes Jahr, also 2025, soll der CO2-Ausstoß im Vergleich zum Referenzjahr um 70 Prozent gesenkt werden. Etwa die Hälfte davon ist geschafft – binnen 33 Jahren!
In den kommenden sieben Jahren wären dafür alle öffentlichen Gebäude energetisch zu sanieren. Häuser und Wohnungen sind für etwa die Hälfte der CO2-Emmissionen der Stadt verantwortlich; öffentliche Gebäude machen nur einen Bruchteil des Bestandes aus.
Das bleibt ein Traum, leider. Alle wissen es. Etwa 100 Milliarden müssten ausgegeben werden. Derweil explodieren die Baukosten und der Streit ums Geld wird schärfer. Auch Landesverteidigung, Wohnungsnot, Bildungsmisere, Flüchtlinge drängen. Dabei ist das fehlende Geld gar nicht das größte Hindernis. Material und Bauteile aller Art fehlen.
Es gibt weder das Personal in den Planungsämtern oder Ingenieursbüros noch die Bauarbeiter und Handwerker, die die Arbeit erledigen könnten. Ganz abgesehen von der zu erwartenden Ablehnung der Bürgerinnen und Bürger, der Klagen bei den Verwaltungsgerichten, sobald der Klimaschutz konkret wird – also etwas kostet oder Komfortverlust bedeutet.
Senat lässt Klima-Fragen unbeantwortet
Wo bitte werden die Windräder und Solarparks stehen, die Berlin klimaneutral versorgen? Irgendwo bei den anderen? Die „Umländer“ haben aber wenig Lust, für die ungeliebten, großmäuligen, neunmalklug-woken Hauptstädter die Lasten zu tragen. Nach fünf Jahren grüner Mitregierung begann vor wenigen Wochen die erste Erkundung der Potenziale von Tiefengeothermie.
Ehe aus dieser Quelle eine stabile Grundlastversorgung für Fernwärmenetze gewonnen werden kann, dauert es Jahrzehnte. Die Frage, wie die 332.052 Wohnhäuser der Stadt klimaneutral werden sollen, bleibt unbeantwortet. Eine halbe Million Wohnungen weist miserabelste Energieeffizienz auf, aber der Senat hat keine Übersicht, welche Gebäude zu welcher Effizienzklasse gehören.
Wo werden die Wärmepumpen stehen, die ein Prenzlauer-Berg-Gründerzeitquartier versorgen? Im Hinterhof? Auf dem Radweg? Noch nicht einmal grundlegende Probleme sind ansatzweise geklärt, geschweige denn durchgerechnete Konzepte erstellt, die Prioritäten festlegen, wo mit welchen Maßnahmen am schnellsten die höchsten Effekte zu erreichen sind.
Habecks Wärmepumpen-Plan zerpflücken die Fachleute und legen lauter Fantasieprodukte bloß. Aber kommt nicht das Heil durch Wasserstoff? Die Experten scherzen seit Jahrzehnten: Wasserstoff ist die Technologie der Zukunft – und wird es bleiben. Ein paar technologische Fortschritte sind inzwischen erkennbar, aber die Rettung lässt auf sich warten.
Reines Wunschdenken der Grünen
Bis 2030 ist die Umstellung auf die elegante Energiequelle keinesfalls möglich – aber in jenem Jahr wären nach grünen Wünschen nicht nur Gas und Atom perdu, sondern auch die Braunkohle. Der Maximal-Sofortismus der Klimaaktivisten sieht aus wie der Bruder des Leninismus, wonach eine revolutionäre Minderheit nur die Macht ergreifen müsse, damit die Weltrevolution gelingt.
Alle wissen, dass die Forderungen des Volksentscheids vollkommen irreal sind, reines Wunschdenken. Auch die Berliner Grünen wissen es. Und doch wird das Volk aufgefordert, eine Politik der Illusionen einzuleiten. Ein riesiger Selbstbetrug in bester Absicht.
Als könnte ein anderer Begriff der Klimaneutralität bis 2030 auf die Sprünge helfen, soll die Beschwörungsformel nicht „Klimaziel“, sondern „Klimaschutzverpflichtung“ lauten. Das läuft auf Voodoo-Politik hinaus.
Dem zuzustimmen bedeutet, sich von sachlichen Einschätzungen der Realitäten als Ausgangspunkt demokratischer Politik zu verabschieden und die „Kraft des Willens“ zur Richtschnur zu erheben. Im Erfolgsfall wäre dies ein weiterer Schritt hin zu einer nicht mehr von Vernunft geleiteten Gesellschaft. Das will ich nicht.






