Alles Gute kommt von unten, sagen Geologen. In Zeiten zunehmender Kälte und sich leerender Gasspeicher sollte man zuhören, wenn sie von schier unermesslichen Wärmequellen unter unseren Füßen reden. Im Erdmittelpunkt herrschen um die 5000 Grad Celsius, der liegt 6378 Kilometer weg. Diese Wärme steigt auf. Das geht seit der Entstehung der Erde so und wird Jahrmillionen so weitergehen – eine energetische Grundlastproduktion, die überall und zu jeder Jahres- und Tageszeit zur Verfügung steht, zudem keine Speicher und wenig Platz braucht. Also großstadtgeeignet ist.
Berlin ist derzeit auf Suche nach potenziellen Standorten für die Nutzung der Tiefengeothermie. 13 hat die Senatsverwaltung für Umweltschutz identifiziert, drei sollen bis April 2023 als Pilotstandorte ausgewählt werden, wie deren Pressesprecher Jan Thomsen mitteilt. Ab 2024 soll dort gebohrt werden, um „geothermische Nutzhorizonte in 400 bis 1300 Meter Tiefe“ zu erkunden. Erste Anlagen könnten in Berlin im Jahr 2028 in Betrieb gehen. Wissenschaftler der Fraunhofer-Gesellschaft und der Helmholtz-Gemeinschaft haben im Februar 2022 den Plan „Tiefe Geothermie für Deutschland“ vorgelegt und empfehlen, dass der Ausbau „disruptiv“ erfolgen müsse. Man müsse also über alte Strukturen hinwegfegen.

Im Mittel um drei Grad steigt die Temperatur pro 100 Meter Tiefe. Unter Berlin herrschen in 4000 Metern etwa 120 Grad. In dieser Zone liegt der Berliner Vulkan, der einst mit fünf weiteren Vulkanen auf dem Gebiet des heutigen Brandenburg die ganze Gegend zu einem „wahren Hexenkessel“ machte, wie der ehemalige Brandenburger Landesgeologe Werner Stackebrandt beschreibt: „Es dampfte und zischte, und häufig schossen glühende Fontänen aus den Vulkankegeln, begleitet vom dumpfen Grollen der sich zu Tal schiebenden Lavaströme.“ Der Kraterkessel des Berliner Vulkans breitet sich mit etwa zwei Kilometern Durchmesser unter Pankow aus. Das Magma floss bis Potsdam.
Die Feuerberge haben allerdings nichts mit der Hoffnung zu tun, Berlin mit Wärme aus der Tiefe zu versorgen. Sie sind tot, Berlin tanzt auf einem vollständig erloschenen Vulkan. Soll Berlin auf Geothermie setzen? „Ja, unbedingt“, lautet die klare Antwort des Physikers Professor Ernst Huenges, der bis vor kurzem die Sektion Geothermie am Geoforschungszentrum (GFZ) Potsdam leitete und einer der beiden Herausgeber sowie Mitautor des Strategiepapiers „Roadmap Tiefe Geothermie für Deutschland – Handlungsempfehlungen für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft für eine erfolgreiche Wärmewende“ ist.
Huenges ist überzeugt: „Geothermie kann die Hälfte des Energiebedarfs für Wärme in ganz Deutschland decken.“ Allein die Tiefengeothermie, die zwischen 400 und 5000 Meter vordringt, könne ein Viertel liefern und – großartige Nachricht – in Brandenburg viel mehr, eigentlich fast den vollständigen Bedarf, denn „im Land ist fast überall warmes Wasser in der Tiefe vorhanden“.
Wasser dient gewissermaßen als Vehikel für den Wärmetransport von unten nach oben. Das Verfahren ist einfach. Zwei Bohrungen führen in die entsprechende Tiefe: Im ersten Loch kommt das warme Wasser hoch, an der Oberfläche wird ihm Wärme entzogen, die dann zum Beispiel in ein Fernwärmenetz eingespeist wird; im zweiten Rohr geht das abgekühlte Wasser wieder in die Tiefe – ein Kreislauf. Dem Untergrund wird also nichts entzogen. Der Massenausgleich senkt die Erdbebengefahr gegen null. Es treten höchstens kleinere Bodenbewegungen ohne nennenswertes Schadenspotenzial beim Bau der Anlage auf, beruhigt Ernst Huenges.
Die geothermische Begünstigung der Region Berlin-Brandenburg erklärt sich aus der Lage im Kern des Norddeutschen Beckens, das sich von der südlichen Nordsee bis nach Südwest-Polen erstreckt. Hier senken sich seit Jahrmillionen die Erdkruste und mit ihr die Gebirge, die sich vor 300 Millionen Jahren auftürmten. Sie verschwanden mitsamt den Vulkanen tief im Untergrund. Das geschieht bis heute, jährlich im Millimeterbereich. 5000 Meter tief ist das Becken heute, allerdings füllte es sich immer wieder, Schicht um Schicht, vor allem mit dem Abtragungsschutt der Gebirge und mit Meeressedimenten.
So bildete das in die Senke gelaufene Wasser vor etwa 257 Millionen Jahren das Zechsteinmeer, das sich 1500 Kilometer von der heutigen britischen Insel bis kurz hinter Warschau ausdehnte – Berlin etwa auf halber Strecke. Immer wieder trocknete es aus und lief wieder voll. In der nächsten Phase (vor 250 bis 200 Millionen Jahren) lagerte das Muschelkalkmeer im heutigen Brandenburg bis zu 450 Meter dicke fossilreiche Kalkschichten ab, die zum Beispiel im Tagebau Rüdersdorf zu sehen sind.
Wo die attraktive Wärmeschicht liegt
In der Jura- und Kreidezeit (vor 200 Millionen bis 66 Millionen Jahren) wie auch im folgenden Tertiär wechselten Land und Meer in relativ kurzer Folge: Immer wieder überfluteten flache Meere die Einsenkung des Norddeutschen Beckens – die Ur-Nordsee flutete Brandenburg vor 66 bis 24 Millionen Jahren mehrfach.
Entstanden ist ein geologisches Sediment-Sandwich, durchzogen von wasserführenden Schichten. Durch fünf bis sechs solcher Schichten führt eine etwa 2,5 Kilometer tiefe Geothermiebohrung – wie ein Spieß durch das Gesteins-Schaschlik, wie Huenges sagt. Die für die Wärmeversorgung hierzulande besonders attraktive Schicht mit 40 bis 60 Grad Celsius liege in etwa zwei Kilometern Tiefe. Die Berliner Wärme der Zukunft? Wieder sagt der Wissenschaftler: „Ja, unbedingt!“ und bedauert, dass bisher in der Hauptstadt so wenig gebohrt wurde.
Dabei sieht Huenges für Berlin „mehrere Optionen in der Tiefe“ und zerstreut Bedenken, das Trinkwasser könne durch die Bohrungen bedroht sein. Zwar sei das uralte Tiefenwasser salzhaltig, doch trenne erstens eine fast unter ganz Berlin vorhandene tonführende Schicht zuverlässig die tiefen Salzwasser- von den Trinkwasserschichten. Zudem werde die Bohrung so abgedichtet, dass es nicht zu Vermischungen komme.
Berlin sucht – immerhin
Sein Fachurteil fällt eindeutig aus: Berlin geothermisch zu erschließen und zu „schauen, was möglich ist“, sei „eine sehr gute Entscheidung“ von Senatorin Jarasch. „Wenn drei Bohrungen stattfinden, wird man mindestens auf zwei wasserführende Schichten treffen. Allerdings müsste man nach Möglichkeit tiefer als 1300 Meter bohren, um mehr Optionen zu erlangen“, ist Huenges überzeugt. Die Botschaft der Geoforscher ist endlich im Senat angekommen.
Tatsächlich wird sich ein Stadtstaat wie Berlin nicht auf Windräder und Solardächer verlassen können, wenn, wie im Energiewendegesetz festgelegt, spätestens bis zum Jahr 2045 Klimaneutralität erreicht werden soll. Eine Studie des GFZ rechnet damit, dass bei einer Wassertemperatur von 60 Grad in etwa 2000 Metern Tiefe eine Gesamtleistung von bis zu 450 Megawatt für das Fernwärmenetz erreicht werden kann. Das fossil betriebene Heizkraftwerk Reuter in Ruhleben liefert 160 Megawatt. Die Tiefengeothermie könnte also drei solcher CO2-Schleudern ersetzen.
Fürs Erste hält die Senatsverwaltung für Umweltschutz „15 hydrothermale Anlagen mit einer Gesamtleistung von circa 50 MWth (Megawatt thermisch) bis 2035“ für realistisch. So jedenfalls lautete die Antwort auf eine Anfrage des CDU-Abgeordneten Stefan Evers im Juli 2022. Damit wären etwas mehr als 7000 Haushalte zu versorgen. Ein kleiner Anfang.
Laut Strategiepapier reichen zudem die 60 Grad Celsius Quelltemperatur für eine direkte Einspeisung in das bestehende Wärmenetz nicht aus. Ergänzend müssten Hochtemperatur-Wärmepumpen zum Einsatz kommen. Solche Pumpen stehen inzwischen zur Verfügung. In der fossilen Heizwelt wird mit einer Vorlauftemperatur von 110 Grad gearbeitet, damit in den Wohnungen um die 20 Grad erzielt werden.
Ernst Huenges sieht eine Alternative: Die Wärmenetzbetreiber und Wohnungsgesellschaften passen ihre Fernwärmesysteme auf Niedrigtemperatur an. Die Wärmebereitstellung solle über größere Heizflächen beispielsweise als Fußboden- oder Wandheizung erfolgen. Ein großer Aufwand für die nächsten Jahre, aber „Temperatur ist Luxus“, sagt der Physiker Huenges. „Die Gaskrise hilft, das Richtige zu tun.“
Potsdam bohrt bereits
Schneller als Berlin wird Potsdam eine hydrothermale Geothermieanlage haben, die Bürger Potsdams mit klimaneutraler Fernwärme aus der Tiefe versorgen soll. Die Stadtwerke starteten am 16. Dezember die Bohrung, die 2000 Meter tief gehen und im Juni 2023 fertig sein soll. In Schwerin und München arbeiten solche Anlagen zu allgemeiner Zufriedenheit.





