Es sind menschenunwürdige Szenen, die es in Berlin immer häufiger gibt: Menschen, die in der Öffentlichkeit eine Kippa tragen, werden angespuckt, Hebräisch sprechende Berliner beleidigt, antisemitische Hasskommentare überfluten die sozialen Medien und auch im hauptstädtischen Amateurfußball drohen Mitspieler mit der Verbrennung von Juden. So wie die Nazis es bis 1945 praktizierten.
Antisemitische Straftaten nehmen bundesweit zu, auch in Berlin gehören sie wieder zum Alltag. Die nackten Zahlen verdeutlichen den wachsenden Judenhass: 3145 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund verzeichnet das Bundeskriminalamt für 2022. Eine Steigerung um 117 Gewaltdelikte, wie aus einer Anfrage der Linkspartei hervorgeht. Allein in Berlin hat es im vergangenen Jahr 691 judenfeindliche Gewalttaten gegeben. Die Dunkelziffer soll laut Experten fünfmal höher sein. Berlin ist somit eine Hochburg des Antisemitismus.
Eine Schande für Deutschland
„Es ist eine Schande für unser Land“, sagt die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zur zunehmenden Gewalt gegen jüdische Mitmenschen. Sie ist besorgt über die Rekordzahlen zum Antisemitismus und kündigt eine härtere Gangart gegenüber den Tätern an. Die Denkfabrik European Leadership Network (Elnet) kritisiert ebenfalls die antisemitischen Handlungen, die immer offener auch in der politischen Mitte geäußert werden. „Es braucht ein vielfältiges politisches und gesellschaftliches Engagement, um Antisemitismus gesamtgesellschaftlich entgegenzutreten“, schreibt die Denkfabrik in einem Grundsatzpapier.
Um solchen Tendenzen entgegenzutreten, veranstaltet Elnet im Axica-Kongresszentrum, gelegen im Herzen von Berlin, eine Konferenz mit deutschen, israelischen und weiteren internationalen Größen aus Politik, Wissenschaft, Kultur, Medien und Gesellschaft. Es stehen in diesen Tagen viele Themen auf der Agenda, stets unter der Prämisse: Wie kann Antisemitismus bekämpft werden?

Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff, Schirmherr der diesjährigen Konferenz, hält die Eröffnungsrede, in der er sich über ein „aufblühendes jüdisches Leben in Deutschland“ freut. Er mahnt jedoch zugleich, dass die Erinnerung an den Holocaust „auf ewig eine deutsche Verantwortung“ bleibt. Wulff tritt während der Videoschalte diplomatisch auf, wägt seine Worte genau ab, schaut hin und wieder auf seine Redenotizen.
Im Anschluss diskutieren mehr als zehn Stunden lang Regierungsbeamte, Diplomaten und Professoren aus Berlin, Tel Aviv, Wien und New York über nachhaltige Strategien im Kampf gegen den Antisemitismus in der heutigen Zeit. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, fasst während einer Podiumsdiskussion zusammen, von wem antisemitische Straftaten ausgehen. „80 Prozent kommen von rechts, aber auch linker und islamischer Antisemitismus nehmen zu“, sagt er.
Rodger Waters und Documenta – kultureller Antisemitismus
Im Fokus der Antisemitismusbekämpfung der kommenden Jahre soll der Bereich Kunst und Kultur stehen. „Die Beispiele Roger Waters und Documenta 15 verdeutlichen den kulturell verfestigten Antisemitismus in Deutschland“, sagt eine Konferenzteilnehmerin. Erst kürzlich wurde in Frankfurt am Main ein Konzert des Pink-Floyd-Mitbegründers abgesagt, während in München sein Konzert stattfinden wird. Bei früheren Auftritten hat Waters einen Ballon in Schweineform aufsteigen lassen, auf dem auch ein Davidstern zu sehen war. Außerdem sympathisiert der Rocksänger mit der Israel-Boykottbewegung BDS. Er selbst bestreitet den Antisemitismus-Vorwurf und sagt, er sei lediglich Kritiker falscher Politik.
Auch die Documenta 15 im vergangenen Jahr und der Antisemitismus-Vorwurf sind auf der Konferenz ein heiß diskutiertes Thema. In Zukunft solle noch intensiver darauf geachtet werden, wohin öffentliche Gelder fließen, heißt es. Kritisch wurde von Konferenzteilnehmern angemerkt, dass außer der Generaldirektorin Sabine Schormann niemand persönliche Konsequenzen aus dem Documenta-Skandal gezogen habe.
Wann findet Jom Kippur und Chanukka statt?
Ein weiterer Aspekt, über den gesprochen wird, ist die Sichtbarkeit jüdischen Lebens in Deutschland. So weiß ein großer Teil der Berliner nur wenig über das Judentum und seine Traditionen. Laut einer Umfrage ist beispielsweise fast die Hälfte der Deutschen noch nie mit einer Jüdin oder einem Juden in Berührung gekommen; noch weniger haben jemals eine Synagoge besucht oder einen jüdischen Feiertag miterlebt. Kommt es in der Arbeitswelt oder in der Freizeit etwa in Vereinen zu Kontakten mit jüdischen Menschen, sind diese oft mit Fragen und Unsicherheiten verbunden, welche zu Missverständnissen und Vorurteilen führen können.
Wie viel wissen Sie über den Sabbat? Was wird an Jom Kippur gefeiert und welche Bedeutung haben die Kerzen am Chanukkafest? Um jüdische Feste im öffentlichen Bewusstsein sichtbarer zu machen, schlägt eine Konferenzgruppe vor, die Feiertage in Terminkalendern zu vermerken. Die Kalender sollen Entscheidungsträger in Schulen, Universitäten und auf der Arbeit sensibilisieren – damit beispielsweise nicht unbedingt an Jom Kippur die Jahreshauptversammlung stattfinden muss.
Auch die Idee eines jüdischen Straßenfestivals begeistert die Konferenzteilnehmer. Diskutiert wird eine Art Mischung von Karneval der Kulturen und dem Tag der offenen Türen in verschiedenen Bundesministerien. Die jüdische Community könnte an einem solchen Tag die Pforten der elf Berliner Synagogen öffnen oder Einblicke in jüdische Kindergärten und Schulen gewähren. Bei einem Straßenfest sollen Gäste mit der jüdischen Kultur in Kontakt kommen: Es soll koscheres Essen zubereitet werden, jüdische Künstler sollen vor einem breiten Publikum auftreten können, in Podiumsdiskussionen sollen aktuelle Themen rund ums Judentum besprochen werden.

Sicherheitsbedenken im Alltag
Neben all den Ideen und Anregungen gibt es auf der Konferenz aber auch Bedenken. Schließlich muss heutzutage jüdisches Leben polizeilich geschützt werden. Veranstaltungen ohne Vorabanmeldungen gibt es faktisch nicht. Nicht zu übersehen sind die Polizeikräfte, die vor den Synagogen Berlins patrouillieren. „Das Training und die Sensibilisierung für jüdisches Leben muss auch weiterhin fester Bestandteil einer Polizeiausbildung sein“, sagt eine Diskussionsteilnehmerin.
Im Fokus stehen zudem Strategien gegen eine der wirkungsmächtigsten Form von Antisemitismus – der israelbezogene Antisemitismus. Für Carsten Ovens, Direktor von Elnet, ist es deshalb wichtig, „zwischen legitimer Kritik an Israel einerseits und andererseits der Delegitimierung, Dämonisierung sowie der Anwendung doppelter Standards in Bezug auf Israel zu unterscheiden“.







