Nun also wieder von vorn? Nach wochenlangen Diskussionen und Exegesen über antisemitische Motive in einigen Kunstwerken bei der Kunstausstellung Documenta Fifteen in Kassel schien vorübergehend Ruhe eingekehrt. Inzwischen aber befindet sich Alexander Farenholtz, der Mittle Juli die glücklose Generaldirektorin Sabine Schormann an der Documenta-Spitze abgelöst hat, selbst in der Situation, Fehler einzugestehen, Ausflüchte zu formulieren und schnelle Lösungen anzupeilen. Atemloses Krisenmanagement wie gehabt.
Wie am Mittwoch bekannt wurde, sind weitere antisemitische Darstellungen in der Ausstellung aufgetaucht. Erst am Mittwoch? Nein. Schon vor drei Wochen, so räumte Farenholtz ein, habe eine Besucherin die Verantwortlichen auf Zeichnungen in einer Broschüre des Projekts Archives des luttes des femmes en Algérie aufmerksam gemacht, das die Geschichte der algerischen Frauenbewegung dokumentiert. Daraufhin habe man die Broschüre zunächst aus der Ausstellung genommen und von der Staatsanwaltschaft auf mögliche Straftatbestände überprüfen lassen. Sowohl die Behörden als auch die Documenta-Leitung seien, so Farenholtz, zu dem Schluss gekommen, dass es nicht um die Diffamierung von jüdischen oder vermeintlich jüdischen Personen gehe.
Meron Mendel: „Ich bin fassungslos“
Das wird von vielen anders gesehen. Meron Mendel, der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, ist entsetzt. „Während unser pädagogisches Team am Infostand auf dem Friedrichsplatz über antisemitische Bildsprache aufklärt“, sagte Mendel der Nachrichtenagentur dpa, „werden erneut übelste antisemitische Karikaturen bekannt (…) Es stimmt mich ehrlich fassungslos, dass ich als damaliger Berater der Documenta nicht darüber informiert und stattdessen auf Basis eines juristischen Gutachtens entschieden wurde, die problematischen Werke mit eindeutig antisemitischer Bildsprache in der Ausstellung zu belassen.“
Mendel hatte wegen der vielen kommunikativen Pannen seine Beraterfunktion bei der Documenta Anfang Juli aufgekündigt. In der Diskussion um den Antisemitismusskandal, der inzwischen weit über die Documenta hinausragt, bleibt er jedoch ein gefragter Mann. Mendel kritisiert denn auch den Versuch, die umstrittene Broschüre lediglich um einen erklärenden Text zu ergänzen. „Dass die künstlerische Leitung nun das Werk lediglich kontextualisieren will, statt den Rat des neuen Expertengremiums abzuwarten, das am Freitag seine Arbeit antritt, zeugt nicht davon, dass Ruangrupa Expertenmeinungen zu Antisemitismus wirklich ernst nimmt und respektiert.“ Er appellierte an die künstlerische Leitung, die Bilder aus der Ausstellung zu nehmen und mit dem neuen Expertengremium zu besprechen.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, erhebt schwere Vorwürfe gegen die neue Documenta-Leitung. „Die Leitung der Documenta tut weiter so, als ginge sie das nichts an. Offensichtlich ist es unerheblich, wer dort die Geschäftsführung innehat“, erklärte er laut Mitteilung am Donnerstag. Man müsse sich fragen, „wie weit wir in Deutschland sind, wenn diese Bilder als vermeintliche ‚Israelkritik‘ für gut befunden werden können“, erklärte Schuster. Das Schweigen der Verantwortlichen in der Kulturpolitik hierzu sei dröhnend. „Diese Documenta wird als antisemitische Kunstschau in die Geschichte eingehen. Dass sie wirklich bis zum 25. September laufen kann, erscheint kaum mehr vorstellbar.“
Der neuerliche Vorfall zeigt, wie müßig es ist, die Ausstellungsobjekte der Documenta nach mutmaßlichen antisemitischen Darstellungen abzusuchen. Von Anfang an bestand das Dilemma der Schau darin, es hier sehr wenig mit Kunst und sehr viel mit der Präsentation politischer Aktivitäten zu tun zu haben. Archives des luttes des femmes en Algérie, heißt es im Ausstellungskatalog der Documenta, „entwickelt aus dem gesammelten Material eine Szenografie: eine fragmentierte Chronik der Frauenbewegungen und -mobilisierungen in Algerien – wobei die Verbindung gegenwärtiger politischer Kämpfe mit früheren herausgearbeitet wird“. Nach solch einer Ouvertüre mögen sich die Besucher der Documenta, wenn sie denn willens sind, in Text-Gebirge versenken. Den Eindruck, dass es sich um Weltausstellung des Kampfes politischer Initiativen handelt, wird man zwischen Documenta-Halle und Karlsaue jedenfalls nicht los.
Das allerdings bietet noch keine hinreichende Erklärung, warum viele der beteiligten Initiativen immer wieder auf Israel Bezug nehmen. Im Fall der antisemitischen Karikatur in der algerischen Broschüre verläuft die Spur über den syrischen Künstler Burhan Karkoutly, dessen Bild maschinenhaft grimmige Soldaten mit Davidsternen auf den Helmen zeigt, die offenbar palästinensische Kinder quälen. Aus heutiger Sicht ist es zumindest unverständlich, warum sich die Documenta-Macher und die hinter ihnen stehenden Politiker und Politikerinnen derart lange geweigert haben, diesen obsessiven Israel-Bezug überhaupt wahrzunehmen.
Die Documenta Fifteen hat sich sehr bewusst als Forum politischer Anliegen inszeniert und die Bedeutung künstlerischer Ausdrucksformen, die in der Geschichte der Kasseler Ausstellung immer auch ein Gradmesser zeitgenössischer ästhetischer Entwicklungen waren, marginalisiert. Alle Bemühungen, die antisemitischen Motive in einzelnen Werken zu kontextualisieren und so zwar nicht ungeschehen, aber vielleicht erklärbar zu machen, scheiterten schließlich an der Überforderung, mit der die Kuratoren im Konzert mit den verantwortlichen Politikern zuvor unter der Idee einer ganz anderen Documenta kokettiert haben. Bis heute jedoch fehlt eine Stellungnahme zu den Vorkommnissen seitens der Findungskommission, die die Ausrichtung für 2022 maßgeblich auf den Weg gebracht hat.
Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie
Stattdessen setzt Kulturstaatsministerin Claudia Roth auf die aufklärerischen Fähigkeiten eines sich neu konstituierenden Expertengremiums. Zuvor hatten die Gesellschafter der Documenta mitgeteilt, dass sie davon ausgehen, dass die künstlerische Leitung die Zeichnungen bis zu einer angemessenen Kontextualisierung aus der Ausstellung nimmt. „Der Umgang mit diesen Zeichnungen vor dem Amtsantritt von Herrn Farenholtz zeigt erneut“, so Claudia Roth, „wie wichtig und notwendig ein externes Gremium von Expertinnen und Experten ist, das eine Analyse und Einordnung der auf der Documenta gezeigten Werke in Bezug auf mögliche antisemitische Bildsprachen vornimmt. Diese Expertise sollte dann von den Verantwortlichen der Documenta auch sehr ernst genommen werden.“


