Vom Dach der Sky-Lounge des Kaufhauses Galeria aus betrachtet erscheinen die Documenta-Gebäude in Kassel wie ein Miniaturmodell zum Nachspielen des vorausgegangenen Antisemitismus-Eklats. Dabei ist das Stangengerüst, an dem das umstrittene Banner des indonesischen Kollektivs Taring Padi angebracht und ein paar Tage lang vor dem Fridericianum noch als mahnendes Gerippe zu sehen war, längst verschwunden. Und mit ihm die Diskussion? In der drückenden Hitze streben die Menschen aufreizend langsam von hier nach da. Später im Gedränge zwischen den Exponaten ist das A-Wort, das die ersten zwei Wochen der 15. Ausgabe der Documenta dominiert hat, nicht zu vernehmen.
Und die Kunst? Im zweiten Obergeschoss des Fridericianums, unweit jener legendären Passage, an der einst Joseph Beuys während der Documenta 6 seine berühmte Honigpumpe installierte, sind einige Gemälde von Richard Bell zu sehen. In grellen Farben formulieren sie ohne Umschweife politische Botschaften, die sich auf den Kampf um Landrechte der Aborigines in Australien beziehen. „We want land, not handouts“, heißt es auf einem Bild, auf dem Protestplakate hochgehalten werden. Man will nicht länger mit leeren Versprechungen abgespeist werden – eine programmatische Haltung, die viele Aktivitäten dieser Documenta kennzeichnet.
Abhängen oder sich anstrengen?
Richard Bell, 1953 in Charleville im australischen Queensland geboren, setzt sich als Künstler seit Langem für die Interessen seines Volkes ein. Er selbst bezeichnet sich als „propagandist“, über ihn kursieren Zuschreibungen wie „Bad Boy of Aboriginal Art“ oder auch „angry Aboriginal artist“. In Kassel ist er eine der wenigen anerkannten Größen des weltweiten Kunstbetriebs. Formal knüpft Bell, der zu einschlägigen Anlässen in Sydney, Jakarta, New York und Venedig ausgestellt hat, an Pop-Art-Künstler wie Roy Lichtenstein an, zum Vergleich werden auch Jasper Johns und Jackson Pollock herangezogen. Bell hat sich gegen das prominente Verweissystem nicht gewehrt, wohl aber gegen die folkloristische Übernahme von Aborigines-Ästhetik zu Marketing- und Werbezwecken.
Zweifellos haben die klare Formensprache und das Aktivistische seiner Kunst Richard Bell für die Netzwerkidee des indonesischen Kuratorenteams Ruangrupa interessant gemacht. Auf der Wiese vor dem Fridericianum ist ein Zelt aufgeschlagen, eine Aboriginal Embassy, in der sich die Besucher über den Kampf um das angestammte Land der Aborigines informieren können.
Wenn sie denn die Zeit dazu finden. Die Aufforderung, den Kontext des jeweils Gezeigten zu erschließen, prangt unausgesprochen an jeder Wand und jeder Installation. Zwar verbirgt sich hinter dem in einem Glossar aufgeführten Begriff Nongkrong das Prinzip demonstrativer Gelassenheit. Sich treiben lassen, abhängen, abschweifen. Bei Nongkrong gehe es nicht um Leistung, heißt es, sondern um das gemeinsame Verbringen von Zeit und das wechselseitige Erzählen von Geschichten. Aber wenn man sich erst einmal auf den in der ganzen Stadt verteilten Ausstellungsparcours begeben hat, werden die meisten Geschichten aus einer Richtung und mit vielen Querverweisen erzählt. Zumindest wird man sehr schnell mit dem Eindruck konfrontiert, dass es zu nichts führt, das gerade Gesehene kontemplativ auf sich wirken zu lassen. Vielmehr ist man permanent aufgefordert, sich den jeweiligen Bezugsrahmen zu erschließen, in den man eingetreten ist. Anstelle von Nongkrong ruft dem Ausstellungsbesucher das schlechte Gewissen zu: „Kontext, Kontext, Kontext.“
Um über die Kolonialgeschichte der Niederlande aufzuklären, haben The Black Archives mehr als 10.000 Bücher, Fotos, Artefakte und andere Materialien in ihren Depots in Amsterdam zusammengetragen, von denen in Kassel nun ein kleiner Teil zugänglich gemacht wird. Es dient dem Versuch, die immer noch weitgehend unbekannte Kolonialgeschichte der Niederlande in Surinam sichtbar zu machen. Die Black Archives sind nur ein Beispiel von vielen. Über weite Strecken gleicht die Documenta einem Treffen indigener Initiativen, aus deren Arbeit Kunst hervorgehen kann, aber nicht muss.
Und so wird, wer sich die Zeit nimmt, mit der Geschichte Anton de Koms konfrontiert, der 1898 als Sohn einer afrosurinamischen Familie geboren wurde. In den Niederlanden geriet De Kom mit kommunistischen Arbeitskämpfen in Berührung und wurde zu einem Vorkämpfer des surinamischen Nationalismus. Sein auch ins Deutsche übersetztes Buch „Wir Sklaven von Suriname“ gilt als Klassiker im Kontext der postkolonialistischen Theorie, es handelt von der Entwicklung eines surinamischen Widerstandes, der schließlich auch zu einem gegen die deutsche Besetzung der Niederlande während des Zweiten Weltkriegs wird. Anton De Kom könnte ein guter Kronzeuge sein für eine enge Verzahnung der Gewaltpolitik des Kolonialismus mit jener, die zum Holocaust führte – in der zuletzt als „zweiter Historikerstreit“ aufkeimenden Debatte war es als Widerspruch und Opferkonkurrenz dargestellt worden. De Kom starb 1945 als Gefangener bei einem der sogenannten NS-Todesmärsche aus dem norddeutschen KZ Neuengamme.
Die Documenta bietet einen Lehrpfad durch die globalisierte Welt
Mit Blick auf die antisemitischen Motive im Banner der Gruppe Taring Padi ging es jedoch weniger um Zusammenhänge und ideologische Kontinuitäten. Zur Erklärung und Entschuldigung des Auftauchens antisemitischer Symbole wurde vielmehr auf wechselseitige Weltfremdheit insistiert. Von unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Interpretationsmustern war da abwiegelnd die Rede. Man erkenne jetzt, hatte das indonesische Kollektiv Taring Padi gesagt, „dass unsere Bildsprache im historischen Kontext Deutschlands eine spezifische Bedeutung bekommen hat“. Aus dieser Perspektive wurde Antisemitismus zu einem deutschen Sonderproblem erklärt.
Tatsächlich aber bestätigen derlei Ausflüchte eine strukturelle Überforderung, die sich in der Ausstellung auch anhand Dutzender vernachlässigter Unterdrückungs- und Gewaltverhältnisse aus sehr unterschiedlichen Kolonisierungsgeschichten zeigt. Die Documenta Fifteen erweist sich so gesehen als verwinkelter Lehrpfad durch eine vermeintlich globalisierte Welt, in der die Marginalisierten nun verstärkt um Aufmerksamkeit bitten. Dagegen ist wenig einzuwenden, und das bringt in Kassel durchaus bemerkenswerte Ergebnisse zu Vorschein. Das plakative Versprechen der ganz anderen Kunstpräsentation zerrinnt beim Rundgang jedoch in der Mühsal, den Überblick zu behalten.

Ging es bei Kunstausstellungen dieser Größenordnung nicht schon immer um die Ökonomie der Aufmerksamkeit? Inmitten der riesigen Kunstlandschaft steht ein bootähnliches Gebilde, das ganz unmittelbar die Assoziation einer Flucht übers Meer auslöst. Die Anmutungen traditioneller afrikanischer Kunst entpuppen sich als schnöde Industriereste. Der aus Benin stammende Künstler Romuald Hazoumé hat Hunderte Ölkanister aus Plastik zu einem Boot zusammengefügt, das erkennbar fahruntauglich ist. Die Kanister sind durchlöchert, die Hoffnung auf Flucht erweist sich als tödliche Illusion. Im Sinne der derzeit in Kassel stattfindenden Documenta Fifteen ist Hazoumés Werk, es trägt den Titel „Dream“, eine Manifestation des sogenannten globalen Südens, ein subtil dramatisierter Blick von außen auf unsere – die westliche – Ausbeutung der Ressourcen.
Halt! Stopp! Hazoumés Werk befindet sich nicht in Kassel. Oder nicht mehr. Es war 2007 eine der zentralen Arbeiten der Documenta 12 und wurde damals mit dem Arnold-Bode-Preis ausgezeichnet. Es jetzt zu erwähnen, könnte natürlich als bösartige Rhetorik aufgefasst werden, um die Formel vom „globalen Süden“ zu diskreditieren, indem es darauf verweist, dass Künstler aus dem globalen Süden schon lange vor der 15. Ausgabe in Kassel präsent waren. Der Rückgriff auf Hazoumés Arbeit soll hier allerdings nicht als Indiz für eine schon länger praktizierte Verteilungsgerechtigkeit dienen. An ihr ließe sich vielmehr eine künstlerische Dringlichkeit beschreiben, die die Documenta Fifteen mit dem Verweis auf Netzwerk und Kooperation behauptet, deren Evidenz aber an Katalog und Hinweistafeln delegiert wird mit der Aufforderung, sich endlich mit dem Elend der Welt und auch ihren oft als auffälliges Paradox hervortretenden Schönheiten vertraut zu machen.
Hazoumés „Dream“ ist von einer poetischen Kraft, die die politische Botschaft, die es gleichwohl enthält, weder verdrängt noch überbietet. Es nährt die Illusion einer Weltsprache der Kunst, die ohne umständliche Kontextualisierung regionaler Besonderheiten auskommt. Es kann nicht darum gehen, Kontext gegen Ästhetik auszuspielen. Der Wert der Kunst besteht aber gerade darin, Erklärung und Kontext in einem höheren Sinn aufzuheben. Lange bevor die europäische Welt sich mit der Flucht Zehntausender Menschen übers Mittelmeer konfrontiert sah, hatte Romuald Hazoumé eine Geschichte vom wachsenden Migrationsdruck erzählt, die ihren Ursprung eher zufällig in Benin hatte.
Zweifellos sind Spaß, Erkenntnisgewinn und Entdeckungen möglich auf der Documenta, selbst wenn man sich der omnipräsenten Aufforderung zum Mitmachen und Kooptieren freundlich-mild entzieht. Die Bereitschaft, sich auf die fröhliche Lumbung-Partizipation einzulassen, ist wohl auch eine Frage des Alters. Und wenn man der demonstrativen Gegenerzählung vom „globalen Süden“ ihren ideologischen Kern entreißt, kann das Gezeigte zweifellos durch eine Vitalität begeistern, die hier in vielen Beispielen zelebriert wird.
Am Ende landet die Documenta Fifteen in der Kunstgeschichte
Ist die Anmutung der Documenta Fifteen aus dieser Perspektive nicht die eines alternativen Humboldt-Forums, das lokale Perspektiven mit dem Bedürfnis nach Welterschließung verbindet, dabei historische Entwicklungen nicht nur zur Kenntnis nimmt, sondern auch für die Zukunft bewahrt? Aus aktivistischer Perspektive galt das Berliner Humboldt-Forum zuletzt als Manifestation eines paternalistischen Weltverständnisses, das besser wieder verschwindet, weil es den Bedürfnissen der einst Kolonisierten nicht gerecht werden kann. Schon der Versuch gerät da in den Verdacht, das Gegenteil des Beabsichtigten zu erwirken. Die Sprache der Kunst genießt demgegenüber den Vorteil, zugleich Aufklärung, Vernebelung, Behauptung, Übertreibung und Umkehrung all dessen zu sein.


