Brutal Berlin

Affenpocken: „Wegen zwei Pickeln am Hintern muss ich doch nicht zu Hause bleiben“

Der Sommer 2022 steht für: Rekordhitze, „Layla“ und die Affenpocken. Bisher haben sich 1600 Berliner angesteckt. Vier Patienten und ein Arzt berichten.

Jay Daniel Wright für Berliner Zeitung

Als Anton in die Praxis geht, weiß er schon, weshalb. Das Problem ist, dass es die anderen im Raum nicht erfahren dürfen. Am Telefon wurde ihm deshalb gesagt, er solle sich durch das Codewort „Infekt“ zu erkennen geben. „Ich bin hier wegen des Infekts“, sagt er. Das klingt unverdächtig, nicht nach Urwald und Sex im Park.

Die Schwestern reagieren sofort und führen ihn in ein Nebenzimmer, das sonst nicht mehr gebraucht wird. Es ist das Zimmer für alle mit diesem Infekt. Hier sitzt Anton und wartet und starrt weiter auf diese kleinen Flecken auf seiner Haut, die doch für zwei, drei Tage aussahen, als seien sie nur Mückenstiche. Der Doktor braucht nur wenige Sekunden, er sagt nach einem Blick: „Ja, das sind sehr wahrscheinlich Affenpocken.“

Affenpocken haben diesen Sommer für einen Teil der Berliner Bevölkerung sehr verändert. Am Sonnabend, dem 21. Mai 2022, wurde der erste Fall in Berlin festgestellt, aber genau wie bei Corona hieß das, dass das Virus schon längst „unterwegs“ war in der Stadt. Der Verlauf der Epidemie in den vergangen drei Monaten war interessant, zumindest soziologisch: Weil sich das Virus vor allem durch engen Hautkontakt und durch Sex überträgt, blieb es vor allem in der Community der Männer, die den mit Männern haben.

Die Zahlen scheinen immer noch nicht sehr dramatisch: Von rund 51.000 offiziell gemeldeten Affenpocken-Infizierten auf der ganzen Welt in diesem Jahr sind bisher 17 gestorben. Mehr als 98 Prozent der Infizierten sind nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation Männer. In Deutschland haben sich bisher 16 Frauen angesteckt. Die internationale Verteilung der Krankheit lässt außerdem mit Sorge auf westliche Industrieländer blicken: Berlin gehört zu den Städten mit der höchsten Zahl an Infizierten. 1.600 Menschen hatten oder haben in Berlin die Affenpocken, das sind ungefähr die Hälfte aller Infizierten in Deutschland.

Anton weiß noch genau, wo er es sich geholt hat, möchte darüber aber nicht sprechen. Sein Partner Georg weiß nicht genau, bei wem er sich angesteckt hat. „Es kommen auf jeden Fall mehrere Männer in Frage“, sagt der 45-Jährige. „Also, genau drei, aber das ist jetzt für einen solchen Zeitraum nicht so viel.“ Einer von den dreien sei Anton. „Der hatte es nämlich schon, und wir haben uns trotzdem getroffen“, sagt er, „also ohne großen Körperkontakt.“ Das macht die Ansteckung unwahrscheinlich. Georg kann aus seinem Kopf acht Freunde aufzählen, die „es“ gerade hatten. 

Georg infizierte sich zwei Tage, bevor er die Impfung bekam, da war es schon zu spät. Er war über das Schöneberger Straßenfest gelaufen und lernte abends kurz nacheinander zwei Männer kennen, mit einem hatte er engeren Kontakt. Anton und Georg sind seit 14 Jahren zusammen und haben eine offene Beziehung. Als Anton einige Wochen vor Georg allerdings mit der Diagnose heimkam, machten sich alle Beteiligten Sorgen: Eine seltene Krankheit – und was ist mit den Kindern der Freunde, die in der Inkubationszeit zu Besuch waren? War jemand in Gefahr? Wenn man nur nebeneinander auf der Couch sitzt, ist es allerdings außerordentlich unwahrscheinlich, sich anzustecken, weiß man inzwischen.

Unterschiedliche Symptome und Regel-Wirrwarr

Die Symptome unterscheiden sich in den verschiedenen Regionen der Welt, sagt ein Infektiologe aus Pankow. Es gebe in Berlin sehr viele leichte Verläufe. Das bedeute: Einige Pocken an der Haut, aber selten mehr als zehn, eher deutlich weniger. Treten diese im Gesicht auf, können sie hässliche Narben hinterlassen. Nur wenn sie im Rachen oder vermehrt im Darm auftauchen, empfehlen Ärzte einen Klinikaufenthalt. Der Arzt Heiko Jessen aus Schöneberg rät zu Schmerzmitteln und einer Salbe für die juckenden Pocken. Andere Ärzte sagen, nur Abwarten helfe.

Nicht nur bei der Behandlung wird von Bezirk zu Bezirk offenbar anders vorgegangen. Auch die Gesundheitsämter in Berlin beraten die Betroffenen am Telefon sehr unterschiedlich. Je nach Bezirk. So musste Georg nicht einmal zu Hause bleiben, durfte mit einem Mund-Nasen-Schutz sogar in den Supermarkt, musste aber der Dame vom Gesundheitsamt versprechen, sich für zwei bis drei Wochen mit engem Kontakten und Sex zurückzuhalten. Anton wohnt im Süden der Stadt. Als ihn sein Amt zurückrief, wurde er darauf hingewiesen, dass er sich komplett zu isolieren habe. Der Beamte habe gesagt: „Küsse mit einem Nicht-Geimpften stellen auch acht Wochen nach der Erkrankung ein Risiko dar.“

Wegen zwei Pickeln muss ich doch nicht zu Hause bleiben!

Robert, ein Mann mit Affenpocken

Robert hat sich an gar nichts davon gehalten. „Ich musste arbeiten“, sagt der 44 Jahre alte Schweizer, der auch in Berlin lebt. „Ich hatte zwei Pickel am Hintern, meine Güte, deswegen muss ich doch nicht zu Hause bleiben.“ Diese Isolierungsmaßnahmen seien komplett absurd und nicht gerechtfertigt. Zwei weitere Pocken am Arm habe er mit einem Pflaster abgedeckt, er sei auch weiter zu Dinnerpartys von Freunden gegangen. „Meine Infektion war im Juni“, sagt Robert, „ein bisschen nervös war ich schon.“ Er habe seitdem aber von keinem einzigen Fall erfahren, bei dem sich jemand über die Luft oder durch eine Umarmung angesteckt habe.

Heiko Jessen, Infektologe in einer Schwerpunktpraxis, ist unzufrieden mit dem Durcheinander der Regeln in Berlin. „In einem Bezirk wird keine Quarantäne verhängt“, sagt er, „ein anderer verordnet eine dreiwöchige Isolation.“ Das führe zu viel Verwirrung. Die Sache werde nicht ernst genug genommen. Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey habe doch klar gesagt: „Berlin ist ein Affenpocken-Hotspot.“ Danach konnte Jessen allerdings „keine weiteren Aktivitäten“ erkennen. „Sie hätte zum Beispiel dafür sorgen können, dass Berlin entsprechend der Inzidenz mehr Impfstoff erhält.“ Bislang wurden mehr als 6000 Impfungen gegen Affenpocken verabreicht. Ab Dienstag soll Nachschub kommen – Berlin erwartet 5380 weitere Impfdosen.

„Sie hatten die Affenpocken, aber jetzt ist es vorbei, oder?“

Berlin hat trotz der vielen Infizierten anfangs nicht mehr Dosen bekommen als andere Bundesländer. Tagelang musste Jessen impfwillige Männer abweisen. Der Stoff kam zu einem Zeitpunkt, als er in den USA und Kanada schon längst verimpft wurde. Aber auch in den USA bilanzierte der Comedian John Oliver in seinem Beitrag von „Last Week Tonight“, dass die Affenpocken eine Epidemie mit Ansage seien: Die Behörden schauten dabei zu, wie sich eine sehr schmerzhafte Krankheit weiter verbreite. Immer wieder gab es statt Impfstoff und Medikamenten Kritik am Sexualverhalten von queeren Männern.

Auch Arne, 35, aus Kreuzberg, fühlte sich unwohl in seiner Arztpraxis, Anfang Juli. Auch er heißt wie alle Patienten in diesem Text anders, auch er musste das Codewort „Infekt“ am Schalter sagen, saß in einem speziellen Zimmer. Allerdings wartete er dort mehr als eine Stunde. Der Arzt sagte dann, die Punkte auf der Haut könnten auch Mückenstiche sein, er solle das Ergebnis eines Abstrichs abwarten. Arne schrieb in den Tagen danach E-Mails, rief in der Praxis an, nichts. Rund vier Wochen nach der Untersuchung klingelte sein Mobiltelefon, an einem Mittwoch, 20 Uhr: „Oh, das tut mir leid“, sagte der Arzt. „Sie hatten wirklich die Affenpocken, aber jetzt ist es wahrscheinlich vorbei, oder?“

Dann nahm sich der Arzt ausführlich Zeit. Er wollte wissen, wie die Krankheit für seinen Patienten, der sie allein durchstehen musste, denn war, fragte nach Details des Verlaufs. Arne erklärte ihm,  wie sich Affenpocken anfühlen können, wenn man Pech hat: „Es ist, als würde im Inneren jemand den Körper mit Sandpapier aufreiben.“