Interview

Affenpocken-Experte: „Franziska Giffey hätte mehr für Berlin tun können“

Berlin ist der Affenpocken-Hotspot weltweit. Doch es gibt Probleme, sagt Heiko Jessen, etwa beim Impfen. Erleben wir die Ruhe vor dem Sturm?

 Eine kolorierte transmissionselektronenmikroskopische Aufnahme von Partikeln des Affenpockenvirus (rot) in einer infizierten Zelle (blau). 
Eine kolorierte transmissionselektronenmikroskopische Aufnahme von Partikeln des Affenpockenvirus (rot) in einer infizierten Zelle (blau). imago/ZUMA Press

Rund 3500 Fälle von Affenpocken wurden laut Robert-Koch-Institut (RKI) bisher in Deutschland amtlich registriert, mehr als 1600 davon in Berlin. Die deutsche Hauptstadt ist damit der Hotspot weltweit, sagt der Infektiologe Heiko Jessen, der in Schöneberg eine Schwerpunktpraxis betreibt. Er warnt davor, die Gefahr zu unterschätzen. Das Vorgehen der Politik irritiert ihn.

Herr Jessen, nach den ersten Fällen von Affenpocken in Berlin ist die Zahl der Infektionen rasch angestiegen. Wie ist die Situation derzeit?

Es scheint einen leichten Abschwung zu geben, ebenso weltweit, mit Ausnahmen, London zum Beispiel. Wir erleben auch in unserer Praxis einen leichten Rückgang. Wir haben etwas mehr als 250 bestätigte Diagnosen bisher, einige stehen aber noch aus.

Ist das bereits ein Trend?

Die CDC, die Centers of Desease Control and Prevention in Atlanta, halten den Abschwung nur für die Ruhe vor dem Sturm. Die US-Behörde rechnet damit, dass das Virus in andere Bevölkerungsgruppen vordringen wird, aber das kann niemand seriös voraussagen, weil viele Faktoren dabei eine Rolle spielen.

Ist Berlin einer der Affenpocken-Hotspots weltweit?

Berlin hat die höchste Inzidenz einer Stadt überhaupt, es sind ungefähr genauso viele Fälle aufgetreten wie in ganz Kalifornien.

Auch schwere Fälle?

Es gibt vereinzelt Berichte über Tote, aber nicht aus Deutschland. In unserer Praxis haben wir einige schwere Fälle, allerdings ist das ja eine Frage der Definition. Die Zahl der mit Pocken besetzten Hautfläche mag ein Kriterium sein. Es korreliert aber nicht zwangsläufig mit dem Allgemeinzustand des Patienten. Manchen Menschen geht es körperlich diffus schlecht, obwohl sie wenige Pocken aufweisen.

Wann wird es kritisch?

Es können Entzündungsödeme auftreten, Schwellungen, Rötungen. Problematisch wird es, wenn durch eine Schwellung die Durchblutung unterbrochen wird. Das hat ein Kollege in Bonn erlebt: Der Patient hat eine schwarze Nase bekommen, sie heilt eventuell jedoch ohne Operation ab. Es gibt einen Fall in München, wo ein Penis ebenfalls schwarz wurde. Das sind Ausnahmen, die aber verdeutlichen, dass es sich um eine gefährliche Krankheit handelt, die Menschen verstümmeln kann.

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Privat
Zur Person
Heiko Jessen, Jahrgang 1958, ist Allgemeinmediziner und Infektiologe. Er betreibt zusammen mit seinem Bruder Arne B. Jessen eine HIV-Schwerpunktpraxis in Schöneberg. Der erste in Berlin registrierte Fall von Affenpocken stellte sich dort vor. Heiko Jessen steht in regelmäßigem Austausch mit dem Bundesgesundheitsministerium und dem Robert-Koch-Institut (RKI).

Coronaviren verändern sich laufend, Affenpocken auch?

Wir wissen nicht genau, wie weit das Virus mutiert ist. Ausschließen lassen sich Mutationen natürlich nicht. Die Erfahrungen sind aber noch sehr begrenzt.

Schützt eine Impfung zuverlässig?

Der Impfstoff wurde vor wenigen Jahren zugelassen, allerdings für Menschenpocken. Er funktioniert deshalb auch gegen Affenpocken, weil er zur selben Familie gehört, den sogenannten Orthopocken. Wie übrigens auch Kamelpocken und Kuhpocken. Ursprünglich hieß es, nach zwei Impfungen sei man geschützt. Dann wurde behauptet, zwei Wochen nach der ersten Impfung würde der Schutz beginnen und mindestens ein Jahr anhalten. Es gibt aber einzelne Geimpfte, die erkranken. Auch hier gilt: Uns fehlt noch die Erfahrung.

Reicht der Impfstoff?

Momentan überwiegt die Nachfrage das Angebot deutlich. Wir haben wie alle anderen Zentren in Berlin zu Anfang 300 Dosen bekommen, später zusätzlich 60 weitere. Die erste Lieferung stammte aus einer Charge von 40.000 Dosen, die leider nicht nach Inzidenzen, sondern gleichmäßig über die Bundesländer verteilt wurden. An diesem Mittwoch haben wir noch einmal 160 Impfdosen bekommen. Das Problem ist, dass die Lieferung erst zwei Tage vorher angekündigt wurde. Mir ist nicht klar, warum der Senat das nicht besser plant. Mir hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach neulich gesagt, er habe 200.000 Dosen bestellt, aber bis heute weiß niemand, wann sie kommen.

Berliner Praxis mit 5000 gefährdeten Patienten beklagt Mangel an Impfstoff

Wie verteilen Sie den knappen Impfstoff?

Wir haben in unserer Praxis allein 5000 Patienten mit einer medizinischen Indikation, die also besonders von einer Infektion bedroht sind. Davon haben wir 360 geimpft, 160 folgen jetzt. Wir suchen die besonders Vulnerablen heraus. Wenn sich die Versorgungslage bessert, werden wir wieder zur freien Terminwahl übergehen wie am Anfang.

Täglich infizieren sich Menschen mit Affenpocken, müssen sie in Quarantäne?

Leider haben die Gesundheitsämter in Berlin keine einheitliche Linie. In einem Bezirk wird keine Quarantäne verhängt, ein anderer verordnet eine dreiwöchige Isolation. Das führt zu sehr viel Verwirrung. Die politisch Verantwortlichen müssen dringend Klarheit schaffen. Sie müssen das Problem insgesamt ernst nehmen. Die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey hat gesagt: „Berlin ist ein Affenpocken-Hotspot“. Danach konnte ich allerdings keine weiteren Aktivitäten erkennen. Sie hätte mehr tun können. Sie hätte zum Beispiel dafür sorgen können, dass Berlin entsprechend der Inzidenz mehr Impfstoff erhält.