Essay

Wie ich in der DDR ohne Werbung aufwuchs – und was mich das gelehrt hat

Unsere Autorin will nicht von Geld abhängig sein und sich nicht sagen lassen, wie man als Frau und Mutter zu sein hat. Liegt das an ihrer Ostherkunft? Ein Essay.

Sollen wir immer perfekt funktionieren, gute Mütter sein, selbstständig, unabhängig und dabei auch noch gut aussehen?
Sollen wir immer perfekt funktionieren, gute Mütter sein, selbstständig, unabhängig und dabei auch noch gut aussehen?Nejron/Imago

Warum hat mir niemand gesagt, dass ich schön, jung, sportlich, klug, gesund und gut gelaunt zu sein habe? Warum höre ich diese Stimmen nicht, die das offenbar von den meisten Frauen in meinem Umfeld verlangen? Es wird als unumstößliches Naturgesetz empfunden, und ich frage mich, warum ich bei dieser Lektion schon wieder nicht dabei war.

Wir sollen immer perfekt funktionieren, gute Mütter sein, selbstständig, unabhängig und dabei auch noch gut aussehen, sagen meine Kolleginnen, die zwischen 20 und 40 sind. Die meisten haben Kinder und wir verstehen uns in vielem, aber wenn diese „Wir sollen …“-Sätze fallen, bei denen alle selbstmitleidig nicken, habe ich das Gefühl, man hat mich irgendwie ausgelassen, als diese Gesetze verkündet wurden.

Keine ungesunden Produkte, keine dünnen Models

Ich will eigentlich nicht, dass meine Unkenntnis darüber, wie wir Frauen und Mütter angeblich sein sollen, jetzt auch schon wieder mit meiner Ostherkunft zu tun hat. Das kann doch nach drei Jahrzehnten nicht immer noch der Grund sein!

Ich frage eine Kollegin. Sie kann mir auch nicht genau sagen, woher sie diese wichtige Weisheit eigentlich hat. „Aus der Werbung vielleicht?“, frage ich und sie wiegt nachdenklich den Kopf. Sie ist im Westen aufgewachsen, während ich in der werbefreien Ostzone groß wurde. Sie findet, dass die Werbeindustrie sich ändern muss. Dass sie zum Beispiel keine ungesunden Produkte anpreisen und keine zu dünnen Models zeigen soll.

Aber zu verlangen, dass die Werbung sich ändert, würde doch bedeuten, ihr diesen Erziehungsauftrag wirklich zuzusprechen, anstatt ihn ihr abzusprechen, denke ich.

Wenn das Wesen der Werbeindustrie nicht darin besteht, über Produkte zu informieren, sondern darin, zum Kaufen zu verführen, ist das doch noch lange kein Grund, sich als Konsumentin selbst in ein verführerisches Produkt verwandeln zu wollen. Oder doch?

Ich war 15 Jahre alt zur Wende und fuhr mit meiner Mutter und meiner Schwester nach Hamburg, um eine kurz zuvor dramatisch ausgereiste Freundin zu besuchen, von der wir geglaubt hatten, sie nie wiederzusehen. Die Freundin sah schon im Osten immer aus wie eine Westfrau, was sehr aufwendig gewesen ist. Man brauchte eine Nähmaschine, Improvisationstalent und Westkontakte. In Hamburg sah sie aus wie alle anderen Frauen, was nicht so aufwendig war.

Bei der Elbe-Bootsfahrt wurde uns vom Stadtführer an jeder Brücke mitgeteilt, wie viele Millionen der Bau gekostet hatte. Das war das Seltsamste, was mir an Hamburg in Erinnerung geblieben ist. Ich verstand, dass ich hier was ganz Grundlegendes nicht verstehe. Mir fiel absolut keine Erklärung dafür ein, warum es jemanden interessieren könnte, was eine Brücke gekostet hat. Es konnte sich nur um eine Art Erziehungsmaßnahme handeln, mit der uns auch in der DDR ständig Informationen übergeholfen worden waren, die uns überhaupt nicht interessierten. Zum Beispiel, wann Lenin geboren wurde und welche Zensuren er hatte.

Das Gefühl einer Scheinwelt

Mit Kindern, die in unserem Alter waren, lebte die Freundin jetzt in einem Haus in einem Hamburger Vorort. Während sie und ihr neuer, aber betagter Mann den Eindruck vermittelten, sie würden jetzt in der richtigen Welt leben, hatten wir vier Ost-Kinder das Gefühl einer Scheinwelt. Trotz der Ablenkung durch die tollen Spielsachen und coolen Klamotten kam es uns vor wie eine Vergnügungsparkkulisse und wir fragten uns, wo hier das richtige Leben versteckt war.

Der Werbung und dem Konsum als Lebenszweck wurde offenbar der größtmögliche Spielraum eingeräumt. Als die Werbeindustrie auch im Osten an die Macht kam, ging es plötzlich nur noch um das, worum es vorher nie gegangen war. Die Werbung erzog alle dazu, mehr individuelle Bedürfnisse als möglich zu haben.

Dreißig Jahre später sitze ich also mit Kolleginnen zusammen und stelle fest, dass von den Ostfrauen nur die jungen einfallen in die Beschwerden darüber, dass sie sich notorisch überfordert fühlen, weil sie sich neben der Kariere nicht nur zu vielen eigenen Bedürfnissen verpflichtet fühlen, sondern auch zur Verwaltung der vielen Bedürfnisse von Kindern und Partnern. Dazu wurden sie erzogen. Schlecht erzogen, wie ich finde. So schlecht, dass sie es nicht mehr wagen, Handcreme fürs Gesicht oder Gesichtscreme für die Hände zu verwenden. Aber was soll man denn erwarten von Mutter-Konsum und Vater-Werbung, deren Interesse an ihren Kindern nur darin besteht, an ihnen Geld zu verdienen? Die perfekt erzogenen können sich sogar selbst verkaufen.

DDR-Kindheit: Tauschen und selbst bauen

In meiner Kindheit war es üblich, die Dinge, die wir brauchten, irgendwie zu besorgen. Geld war da oft keine Lösung. Wenn man etwas, das über die Grundversorgung hinausging, nicht kaufen konnte, wurde mit Freunden und Bekannten getauscht oder selbst gebaut. Das Lebensnotwendige war billig, Luxus war teuer, stand kaum zur Verfügung und musste daher auch nicht beworben werden.

Heute ist es umgekehrt. Mieten sind teurer als Flugreisen. Die Nahverkehrsmonatsmarke, mit der man zur Arbeit fährt, so teuer wie ein paar neue Schuhe. Das widerspricht meiner Prägung so sehr, als müsste ich zwei Gehirnregionen jeden Tag von Neuem umdrehen und damit leben, dass das reale Leben eben falsch herum läuft.

Wer mit Werbung aufgewachsen ist, scheint reflexartig zu verlangen, dass einem die Dinge von der Konsumwirtschaft angeboten werden, als hätte man ein Recht darauf. Dieser Rechtsanspruch hat sich in mir nie entwickelt. Offenbar war ich mit 15 schon auserzogen. Die Verpflichtung zum Konsum habe ich nicht angenommen. Das Bedürfnis, auf ein Werbeplakat zu passen oder eine wettbewerbsfähige Karriere-Mutter zu sein, fehlt mir.

Im Osten gingen die „Wir sollen …“-Sätze in eine Richtung weiter, die implizierte, dass der Staat uns als Arbeitskräfte mit stolzem Gemeinschaftscharakter und fester ideologischer Überzeugung brauchte. An der Ideologie lag mir nichts. Am Gebrauchtwerden schon. Ab meinem 15. Lebensjahr schien mein Land mich aber nur noch als Käuferin zu brauchen. Charakter und Ideologie egal. Der Arbeitsmarkt dagegen brauchte mich überhaupt nicht.

Rasierte Beine, blendend weiße Zähne, gute Laune

Meine Kollegin sagt, dass wir leichter Jobs bekämen, wenn wir jung, schön und entspannt aussehen. Aber wenn wir überlegen, welche Jobs das eigentlich sind, hängen die im weiten Sinne auch mit Werbung, Medien, Verkauf, Konsum und Vergnügen zusammen. Die Versorgungsjobs brauchen keine Mitarbeiter, die rasierte Beine, blendend weiße Zähne, teuer gecremte Wangen, verwöhnte Kinder und gute Laune haben.

Eine weitere Beschwerde, in die ich nicht einfallen kann, ist die Forderung danach, dass Care-Arbeit bezahlt werden muss. Ich kann drüber nachdenken, so viel ich will, die Idee, dass ich, indem ich meinen Kindern Essen koche, eine Arbeit leiste, für die ich entlohnt werden müsste, bleibt mir vollkommen fremd. Es käme mir vor, als würde ich dafür Geld verlangen, dass ich mir die Zähne putze. Als wäre ich ein Produkt, das sich selbst instand hält, um so lange wie möglich für den Markt attraktiv zu bleiben und sich im Schaufenster als makellos zu präsentieren. Will ich wirklich dafür, dass ich weitere gute Produkte erzeuge, die ich später nicht in den hinteren Regalen, sondern auch vorne im Schaufenster sehen möchte, etwas abhaben vom Erlös?
Meine Kinder sind doch keine Wirtschaftsprodukte, die ich für den Staat erzeuge.

Wenn ich Geld für die Versorgung der eigenen Kinder bekäme, hätte ich das Gefühl, das System zu unterstützen, das auf das Funktionieren des Hochleistungsalltags ausgerichtet ist. Dazu kommt, dass das System auch noch vorrangig von Männern gestaltet wird, denen es recht ist, Frauen die Kinderversorgung zu überlassen. Unter den System-Gestaltern dürfen auch mal ein paar Frauen sein und unter den Versorgern auch mal hier und da ein Mann. Das verschleiert die vorherrschende Aufgabenteilung ein bisschen, die sich durch Bezahlung der Fürsorgearbeit vermutlich auch nicht in Gleichberechtigung verwandeln würde.

Kinderbetreuung bezahlt zu bekommen, wäre für mich wie Haushaltsgeld vom Ehemann, das die Abhängigkeit manifestiert. Nur dass der Staat der Ehemann wäre. Wie man es auch dreht und wendet, Kindergarten, Hort und Ferienbetreuung für alle bleiben einfach die bessere Lösung. Aber auch das scheint ein Naturgesetz, dass es in Deutschland niemals ausreichend Kindergartenplätze geben darf, um niemals alle Frauen auf den Arbeitsmarkt loszulassen. Nicht mal jetzt, wo wir sie gebrauchen könnten. Als ich mit 24 mein erstes Kind bekam, wurden keine Arbeitskräfte gebraucht. Und ich hatte noch nicht verstanden, dass man sich verkaufen können musste, wenn einen niemand braucht. Dann muss man sich stattdessen aufwerten und präsentieren können.

„Wie lange wollen Sie dem Steuerzahler noch auf der Tasche liegen? Mit einem Kind wird Ihr Leben auch nicht einfacher. Sie können Ihrem Kind doch nichts bieten!“, sagte damals die Bearbeiterin des Jobcenters. Dabei sollte mein Leben gar nicht einfacher werden. Ich brauchte eine Aufgabe. Wenn schon meine Arbeitskraft nicht gebraucht wurde, wollte ich wenigstens Kinder kriegen. Die brauchten mich. Und was ich ihnen bieten konnte? Ein Leben! Das sagte ich nicht, sondern steckte meinen Mutterpass ein und schluckte den Kloß im Hals runter.

„Ich habe meine Kinder auch aus Trotz bekommen“

Ich habe meine Kinder auch aus Trotz bekommen, weil ich die Fortpflanzung nicht vom Geld abhängig machen wollte. Es ging nur mit vielen Kompromissen.

Meine Hauptaufgabe bestand darin, für die Kinder alles, was Geld kostete, gebraucht, geborgt, geschenkt, getauscht und manchmal auch geklaut zu besorgen, und ich fragte mich, wie viele Bewerbungsablehnungen ein Mensch eigentlich ertragen kann. Unser Leben funktionierte durch die Beanspruchung von Hilfe. Wir profitierten davon, in einer Gesellschaft zu leben, in der die meisten genug oder zu viel besitzen und gar nicht so ungern etwas abgeben, wenn es jemand wirklich braucht. Wir brauchten es wirklich und ich musste daran denken, was meine Großmutter in ihr Tagebuch geschrieben hatte, als sie in den 1960er-Jahren in Australien, Afrika und Südamerika vor weißen High-Society-Frauen Vorträge gehalten hatte über die Rolle der Frau im Sozialismus. „Die Frauen der Upperclass gestalten durch die ausbeuterischen Geschäfte ihrer Ehemänner den familiären Luxus und sind nebenher dafür zuständig, die Reste zurückzugeben an die Ausgebeuteten.“

Ich hatte daran geglaubt, den Kindern mit viel Zeit eine genauso gute Kindheit bieten zu können wie mit Geld. Und gegen den Vorwurf, dass man keine Kinder kriegen sollte, wenn man kein Geld hat, hielt ich das Argument, dass man es auch nicht tun sollte, wenn man vor lauter Geldverdienen keine Zeit hat, sich mit seinen Kindern zu beschäftigen.

Ich wollte und will Geld nicht als Hauptrezept für Zufriedenheit anerkennen.

Und ich will immer noch nicht dafür bezahlt werden, dass ich mit Kindern lebe. Lieber ist mir ein Land, in dem es so sozial zugeht, dass ich meine Kinder unentgeltlich zu Erwachsenen erziehen kann, die zumindest die Werbung vom echten Leben unterscheiden können, eigene Ideale haben und die „Wir sollen …“-Sätze in „Wir wollen …“-Sätze umwandeln.