Herbert Grönemeyer hat sich in etlichen Songs mit dem Komplex Heimat beschäftigt. In einem der weniger populären (passenderweise: „Heimat“) beschreibt er sie als ortsunabhängiges Gefühl.
Geboren in Göttingen, verwurzelt in Bochum, ein paar Jahre liiert mit London und nun in Berlin lebend, ist Grönemeyer stets ein Reisender geblieben. Vielleicht gelingt es ihm deshalb so gut, selbst die größten, ungemütlichsten Betonbauten der Republik – die Zehntausenderhallen und Stadien – in traute Wohnzimmer zu verwandeln.
Wenn Deutschlands erfolgreichster Popmusiker Konzerte spielt, dann nur auf den größten zur Verfügung stehenden Bühnen – die Berliner Mercedes-Benz-Arena verkauft er an diesem Sonntagabend mit links aus.
Vor einem Jahr musste Grönemeyer seine Tour zum 20. Jubiläum des Multiplatin-Albums „Mensch“ wegen einer Corona-Infektion absagen, diesmal stehen alle Ampeln auf Grün. Eine Stunde vor Showbeginn füllt sich die Arena schleppend. Die Berlinerinnen und Berliner reizen den ersten echten Sommertag des Jahres aus, verharren lange in der Abendsonne. Auf dem Vorplatz tummeln sich Menschen allen Alters. Maximal verwaschene und druckfrische Fan-Shirts sind zu sehen, ein erstaunliches Potpourri an Dialekten ist zu hören.
Drinnen läuft bereits das Vorprogramm, die Berliner Pop-Liedermacherin Balbina stellt sich dem Publikum vor. Sie hat an Grönemeyers neuem Album „Das ist los“ mitgewirkt, liefert direkt zum Einstieg eine stimmgewaltige Neuinterpretation von Rammsteins „Sonne“ und scheint der Halle ganz und gar gewachsen.
„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über“
Kurz nach 20 Uhr betritt Grönemeyer die Bühne. Zunächst allein, ohne großes Tamtam: Bassdrum-Gestampfe, episch fallende Vorhänge, Pyrotechnik oder einen Intro-Film auf Großleinwand hat er nicht nötig. Im Lichtkegel läuft er freundlich winkend den Bühnensteg hinab, lässt sich ein bisschen beklatschen und nimmt am Klavier Platz.
Mit den vielleicht schönsten Zeilen, die seine neue Platte zu bieten hat, steigt er in den Abend ein: „Manchmal legt der Tau sich auf mich und dann werd ich leise traurig, weil ich glaube nicht, dass alles so schön ist, wie es ist.“ Anschließend donnert die achtköpfige Band in Grönemeyers Schatten los, kurzzeitig droht sie ihn gar zu übertönen.
Die Energie seiner Mitmusiker scheint den Altmeister spätestens im dritten Song „Bist du da“ dann aber umso mehr anzupeitschen: Grönemeyer stampft unstet über die Bühne, breitet die Arme aus, jubelt dem Publikum zu, kann dabei kaum aufhören zu grinsen. Der 67-Jährige sieht von ausschweifenden Ansagen ab, nur: „Wir geben alles, damit dies ein leichtfüßiger, tänzelnder Abend wird.“
Weiter geht’s. Grönemeyer reizt seinen Steg aus, möchte zwischen den Leuten sein, am besten auf Augenhöhe, so gut das eben möglich ist, in einem Tempel wie diesem. Ein solides Konzert reicht ihm nicht, er will das kollektive Erlebnis. Schon früh im Set wird klar, dass Grönemeyer anstecken, einen Impuls geben möchte, der über den Abend hinausreicht. Sein Konzert soll keine Messe sein, eher ein Seminar, das in krisengebeutelten Zeiten Optimismus lehrt und auf Solidarität, Humanismus, Angstfreiheit und „Sekundenglück“ plädiert – „und du denkst, dein Herz schwappt dir über“.
„Das ist los“ entfaltet seine wahre Schönheit auf der Bühne
Wer seit über 40 Jahren Musik veröffentlicht, dem mangelt es nicht an Repertoire. Die Deutschpop-Evergreens „Männer“, „Was soll das“ und „Vollmond“ bündelt Grönemeyer in einem erfrischenden Medley. Das Berliner Publikum präsentiert sich textsicher, singt sogar das Ruhrpott-assoziierte „Steigerlied“ mit, das Grönemeyer traditionell seiner vielleicht größten Hymne „Bochum“ vorausschickt.
Einer Reihe an Klassikern lässt Grönemeyer danach viele aktuelle Stücke folgen. Das durch Bass und Hall vernebelte Live-Set-up tut besonders Liedern wie „Der Schlüssel“, „Oh Oh Oh“ oder „Herzhaft“ erstaunlich gut. Grönemeyers frisch erschienenes Album „Das ist los“ – das wird spätestens durch die Darbietung der ersten Vorab-Single „Deine Hand“ klar – entfaltet seine wahre Schönheit erst auf der Bühne.
Grönemeyer überliefert die neuesten Kompositionen besonders enthusiastisch: Er jault, kreischt und knödelt, dirigiert seinen Laienchor in den ersten Reihen, stößt von Zeit zu Zeit sein ikonisches „Ja!“ aus und improvisiert – in der Unruhe liegt, auch hinsichtlich seiner Performance, die Kraft. Im Hintergrund flimmern von Zeit zu Zeit Visuals; der Fokus der Show liegt aber durchgehend auf der Musik. Kein unnötiges Pathos, kein Pomp, keine Posen und trotzdem ständig Gänsehaut. So geht das fast drei Stunden lang.









