Grönemeyer will uns mitnehmen. Wir alle sind geladen in sein Stadion, gebaut aus Poesie. Und wenn wir dann erst mal drin sind, könnte dieses Stadion mit uns als melancholisch tanzende Optimisten darin abheben, einem utopischen Ufo gleich, zum Flug in ein Land nach unserer Zeit. Das ist das Gefühl, das „Das ist los“ auslöst. Herbert Grönemeyers 16. Studioalbum, das diesen Freitag erscheint.
Herbert Grönemeyer ist der Coach, der uns zusammentrommelt. Aber weil er kein Befehlshaber ist, trommelt er sanft, er reicht uns seine Hand. „Deine Hand“ heißt denn auch der Opener der Platte, die mit weichen Klaviertupfern beginnt. Dann setzt Grönemeyers markante Rumpelstimme tröstend damit ein, dass Hoffnung gerade schwer zu finden sei, er sie aber suche. Wie es sich für einen ordentlichen Grönemeyer-Song gehört, gibt’s auch ein paar Weisheiten serviert („Heute wird das Morgen gemacht“) und dazu Motivationssprüche: „Höher steigen wir im Team!“ Das Ufo lässt grüßen. Grönemeyer will nicht spalten. Und natürlich fordert er den Teamspirit nicht zugunsten einer kapitalistischen BWL-Verwertungslogik. Sondern für seine humanistische Utopie. Der zugehörige Videoclip verweist sogar auf die feministische Revolution in Iran.
Grönemeyer will niemanden zurücklassen. Und deshalb holt er uns dort ab, wo er uns vermutet. Einem Ort, der wohl etwas von einer Kirmes-Diskothek haben muss. So zumindest klingt der Titeltrack von „Das ist los“: wie ein hektischer Jahrmarkt der Aufmerksamkeitsökonomie. Ein soziales Bierzelt, in dem getanzt, gesoffen und geschrien wird. Aus allen Ecken ruft wer, bis man kaum noch weiß, was Sache ist. Und was davon im Zweifelsfall auch wichtig wäre. „Cis, binär und transqueerphob“, singsangrappt Grönemeyer, „Gucci, Prada, Taliban / Schufa, Tesla, Taiwanwahn / Was ist, Kid, kriegst du noch was mit.“ Es ist keine Frage. Die vielen Schlagworte sind dazu da, uns den Informationsoverkill zu versinnbildlichen. Ein Karussell der permanenten Überforderung. Alles giert danach, von uns beachtet zu werden. Ein Gefühl, das viele kennen: jene, die im Social-Media-Sog sind, aber auch jene, die nicht mehr durchblicken, weil sie schon „zu alt“ für TikTok und Co. sind.
„Herzhaft“ ist kein Kulinarik-Adjektiv bei Grönemeyer, „Herzhaft“ ist ein Substantiv: „Nimm mich in die Herzhaft“ fordert Grönemeyer devot im gleichnamigen Lied. Ein Grönemeyer-typischer, nach Komplimenten fischender Poesie-Twist, dass er uns mit einem Wort ein bisschen anders kommt als wir Elefanten im Sprachladen es gewöhnlich verwenden. „Schieb’ mich einfach tiefzart durch deine Philosophie“, fordert Grönemeyer – und formuliert dabei wohl genau die Rezeptionshaltung vieler Grönemeyer-Fans: Herbert, schieb’ uns einfach tiefzart durch deine Philosophie! Es ist die Philosophie eines Mannes, der Stadien füllt, aber zugleich ein sympathischer Eigenbrötler bleibt: „Manchmal legt der Tau sich auf mich / und dann werd’ ich leise traurig / weil ich glaube nicht / dass alles so schön ist wie es ist.“ Ein trauriges Lied ist dieses „Tau“, zum solitären Schlummern auf der entrückten Wolke.
Herbert Grönemeyer will mit „Das ist los“ unser Superdu zutage fördern
Dann der Wachrüttler: „Genie“, eine Powerrockballade! Grönemeyer macht uns Vorwürfe: „Warum träumst du klein / Risikoarm / Schreckst du zusammen / beim ersten Probealarm“. Doch letztlich will Grönemeyer mit diesen Vorwürfen natürlich animieren, motivieren. Wie ein Fitness-Coach, der auch mal ein bisschen fies werden muss, um uns richtig anzustacheln. Wobei uns Grönemeyer freilich nicht nur fit für den nächsten Bodypump-Kurs, sondern fit für die Zukunft machen will: „Das blaue Wunder fragt nach dir/ Es hat genau dich im Visier / Es will dich mit dir verführen / Es will, dass du dein wahres Superdu zelebrierst.“ Bald schon kommt das zahme Outro. Warum eskaliert so ein Song nicht mal tollkühn im Supergrönemeyer-Modus?
„Der Schlüssel“ ist ein Lied über Flucht und Versuche des Neuankommens: „Was immer kommt / Was immer brennt / Was immer auch birgt / Nichts ist wie, was man Heimat nennt.“ Grönemeyer möchte offenkundig unsere Empathie für die Geflüchteten entfachen. Gewissermaßen ist Grönemeyer gar nicht so entfernt von Angela Merkels „wir schaffen das“ – obgleich er kürzlich im Stern-Interview deren Regierungsstil als „fast autokratisch“ gebrandmarkt hatte. Der Unterschied ist wohl: Grönemeyer will nicht Teflon sein, an dem alles abzuperlen scheint, nein, er will uns am G-Punkt, am Grönemeyer-Punkt unserer Emotionen packen. Dem Teil von uns, den wir im Alltag oft wegschließen, weil es uns ein bisschen pathospeinlich ist, wie unser imaginäres Poesiealbum, das wir – hust, hust – natürlich eh nicht besitzen.
„Angstfrei“ ist wohl des bundespolitischste Stück. Auf NDW-Gehüpfe: „Wer nicht strampelt / klebt an der Ampel / und wartet auf grün.“ Ein Stoß Richtung rot-grün-gelber Regierungskoalition? Dann der typisch Grönemeyer’eske Wort-Twist, „in der Unruhe“ liege die Kraft, woraufhin man eine halbe Sekunde denkt, wie clever (oder unclever?) das jetzt sein will, aber dann hüpft das Lied schon wieder ganz woanders, wie im Ikea-Bälleparadies: „Fesch sein / Frech sein / Keiner kriegt uns jetzt klein.“
„Urverlust“ wiederum erinnert von der du-verehrenden Stimmung her an „Der Weg“ vom „Mensch-Album“. Bei der dritten Minute pustet ein Tenorsaxofon hinzu. „Eleganz“ ist ein Disco-Stampfer von Sekunde eins an. Der Song verpasst der Sinnsuche eine Abfuhr. Besser chillen und tanzen. Darüber tickert ein nervtötender Riff wie vom Kinder-Casio-Keyboard. „Zieh’ dir bloß nicht jeden Schuh an / Barfuß lässt sich’s so gut gehen.“ Zumindest wohl am Strand des Lebens. Manch einer wird sich an diese Allegorie im Titeltrack von „Mensch“ (2002) erinnern: „Am Strand des Lebens / Ohne Grund, ohne Verstand / Ist nichts vergebens / Ich bau die Träume auf den Sand“. Hier sind wir also wieder. Aber nicht ganz so eingängig wie damals.
Einen Schwenk in Richtung Klima-Kleber gibt es auch auf Grönemeyers neuer Platte: „Oh Oh Oh“ heißt der Song: „Da sind so viele offene Gesichter / gewappnet für den Klimakampf / voll durchgenervt von alten Geschichten / Sie wollen voran, stehen unter Dampf.“ Im Klimakampfdampf lässt sich derweil prächtig schunkeln. Bis Onkel Herbert die Geduld verliert, ermahnt: „Muss die Welt erst in Flammen stehen / dass wir aneinander Anteil nehmen / Wichtig ist, alle sind oh oh oh / dabei rüber in die neue Zeit.“ Oh oh oh! Oh, là, là.
Herbert Grönemeyer meint es gut, aber warum klingt „Das ist los“ so zahm?
„Eine Tonne Blei“ ist denn ein Bleigießen voller Selbstzweifel und Demut – und Dankbarkeit fürs liebende Gegenüber. „Behutsam“ beschwört den „Retterinnenweg“. Liebevoll gegendert. „Turmhoch“ changiert zwischen Binsenphysik („Ohne Druck keine Diamanten“) und verrätselt Fragwürdigem: „Ohne Flugangst würde keiner mehr landen.“ Fliegst du noch oder hast du schon Flugzeuge im Bauch? In jedem Fall weiß Coach Herbert, wohin es zu steuern gilt: „Dein weiblicher Blick ist der Hebel“ singt er vertrauensstiftend. Ein feministischer Zukunftsimpuls.
Herbert Grönemeyer hat sein Herz am rechten Fleck, so viel ist klar. Er meint es gut und will uns Mut zusprechen, Mut zupoetisieren. Ein Anti-Spalter, ein Zusammenführer in polarisierender Zeit. Für jemanden, der dabei so viele Mittel hätte wie Chartking Grönemeyer, ist der Sound der Platte überraschend unspektakulär. Klar, Grönemeyer will alle dabei haben in seinem großen Stadion aus Poesie. Aber ein wenig origineller hätte das Ufo beim Abheben schon fiepen können.



