Als Herbert Grönemeyer mit weißen Sneakers die Bühne im Berliner Kino International betritt und die Fans in der zweiten Reihe die Einzigen sind, die nicht frenetisch applaudieren, weil sie stattdessen eine La-Ola-Welle in Gang setzen, ja, da fühlt man sich fast, als wäre man per Zeitmaschine zurück zu „Wetten, dass ..?“ ins Jahr 2002 gereist. Bloß dass die Talk-Gäste im International nicht auf einer Couch, sondern auf rot gepolsterten Stühlen Platz nehmen – und dass die Moderatorin Marion Brasch viel klügere Fragen stellen wird als Thomas Gottschalk.
Gekommen ist nebst Brasch und Grönemeyer auch Alex Silva, der mit Grönemeyer dessen Album „Mensch“ (2002) produziert hat. Es ist nicht bloß Grönemeyers erfolgreichstes Album, sondern auch (direkt nach dem „Dirty Dancing“-Soundtrack) das meistverkaufte Album, das es je in Deutschland gab – bis heute. Gekommen ist natürlich auch die Journalistin Arezu Weitholz, die das im Mai erschienene Buch „Zu Mensch“ zum 20. Jubiläum des Ausnahme-Albums geschrieben hat. Wobei „geschrieben“ die Leistung von Arezu Weitholz nur unzureichend würdigt: Weitholz hat dieses ganz fantastische und formal höchst ungewöhnliche Buch collagiert, montiert.
Neben den Erinnerungen von Weitholz selbst (die als Grönemeyers Textdramaturgin bei der Entstehung des Albums dabei war in London zur Jahrtausendwende) lebt das Buch von liebevollen Illustrationen im Graphic-Novel-Stil (Katrin Funcke) und drei Dutzend verschiedenen Stimmen: Zitate von Leuten aus Grönemeyers Band wechseln sich ab mit solchen von Menschen, die in Grönemeyers Straße in London leben: die Blumenhändlerin und der Cafébesitzer, die lange nicht mal wussten, wer dieser Typ aus Deutschland ist, der so gern Bananenbrot isst. Und da diese vielen Stimmen immer wieder auch einander widersprechen, ist „Zu Mensch“ eben auch „ein Buch darüber, wie Erinnerung funktioniert“, wie Brasch es trefflich formuliert.
Wer im Kino International Grönemeyer, den Grübler, den Melancholiker erwartet hat, wird eines Besseren belehrt: Am Montagabend ist Grönemeyer („Ich werde komischerweise sehr ernst genommen.“) ganz im Spaßvogelmodus, spricht bescheiden-charmant mit seiner kratzig-schnellen Stimme von seinen „limitierten Möglichkeiten“ und erzählt, dass er immer „sehr chaotisch“ arbeite, aber auch davon, dass er seinen Studioraum in London auf gar keinen Fall an Robbie Williams abzutreten bereit war, der da auch reinwollte. Herbert, so auch der Tenor des Buches, ist wie du und ich – nur in poesiestadiongroß.
Grönemeyers tiefe Krise und seine Bananensprache
Ist Grönemeyer unser Pop-Goethe? Nein, Goethe sei präzise wie ein Porsche, kontert Grönemeyer. Er selbst halte es da lieber mit Shakespeare: vage und nie um einen Witz verlegen. Wenn ihm andere (etwa Arezu Weitholz, die schon damals bei den „Mensch“-Texten half) seine schlechten Ideen um die Ohren hauten, habe er das natürlich oft erst mal nicht hören wollen: „Man schwankt ja immer zwischen Größenwahn und Selbstmord“, so Grönemeyer an dem Abend. Tatsächlich musste er, um „Mensch“ zu schreiben, ja eine tiefe persönliche Krise überwinden: Nach dem Tod seiner Frau konnte er jahrelang keine neue Musik machen. Wahrscheinlich ist „Mensch“ auch deshalb so dicht und intensiv, man fühlt es noch heute.

