„Endlich wieder Teil einer Jugendbewegung“ – das verspricht das Plakat einer Krankenkasse, auf dem Weg zum Konzert der Indie-Institution Tocotronic. Die beiden glücklichen Rentnerinnen auf dem Plakat haben es also geschafft, was Dirk von Lowtzow und seine Bandkollegen sich schon vor knapp 30 Jahren so sehr wünschten. Und wie? Durch „Zusammenhalt zwischen Alt und Jung“, heißt es. Eine solche Solidarität findet sich auch auf der Setlist des Konzerts der Band in der Columbiahalle, die wie eine Versöhnung zwischen den ganz alten und ganz neuen Songs der Band wirkt.
Die Erinnerung ans Alte beginnt schon vor der Show. Die mysteriös-jazzigen Klänge des Soundtracks der Kultserie „Twin Peaks“ entführen schon mal in die 90er-Jahre und geben einen Hinweis darauf, in welche Richtung der Abend sich weiter entwickeln wird.
Doch dann: Dramatische Streicher knallen aus den Boxen, als Jan Müller, Arne Zank, Rick McPhail und natürlich Dirk von Lowtzow die Bühne betreten. Letzterer richtet, bevor auch nur ein Akkord erklungen ist, das Wort ans Publikum: „Als wir dieses Stück geschrieben haben, wussten wir nicht, in was für einer Zeit wir jetzt leben würden. Unsere Solidarität gilt der Ukraine. Und allen Geflüchteten, egal woher. Und unsere Verachtung gilt dem kleptokratischen Regime, das für diesen Krieg verantwortlich ist.“ Mit diesen klaren Worten leitet Dirk von Lowtzow also den Titelsong des aktuellen Tocotronic-Albums ein: „Nie wieder Krieg“. So ein Slogan von einer Band, die ihre Liebe zu Slogans doch eigentlich überwunden hatte. Und dennoch: genau das richtige Motto zu dieser Zeit.
Die alte neue Liebe zu solcherlei Titeln setzt sich fort: Das als „agnostisch-antifaschistischer Sommerhit“ angekündigte „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ bringt mit seinem treibenden Beat und dem so schön schreibaren Titel das Publikum das erste Mal so richtig zum Kochen. Zur Abkühlung und Reflexion folgt das wunderschöne „Hoffnung“, eine Lockdown-Hymne, die vielen im Frühjahr 2020 Mut gemacht hat – für Solidarität und gegen Vereinzelung. Diesen Song jetzt live inmitten einer großen Menschenmenge zu erleben, ist berührend, wirkt er doch wie die Einlösung eines Versprechens, das Tocotronic damals gegeben hat: „In jedem Ton liegt eine Hoffnung auf einen Neuanfang.“
Die alten Parolen lassen sich besser brüllen
Der eigentlich von einer Akustik-Gitarre getriebene Song erklingt heute Abend in einer elektrischen Version; Gitarrist Rick McPhail ersetzt mit unfassbaren Effekten auf seinem Instrument erst das Cello und dann gleich das ganze Orchester. Der Amerikaner spielt sowieso ganz groß auf: Immer wieder schafft er es, mit seinem unverwechselbaren Sound die perfekte Balance zwischen Noise, Melodie und Chaos zu treffen. Nicht nur optisch erinnert er mit seiner großen Brille, den grauen Haaren und dem stoischen Verhalten auf der Bühne an J Mascis, den Gitarrenhexer der Alternative-Helden von Dinosaur Jr. – auch sein Sound ist ähnlich stark verzerrt, aber immer wunderbar melodisch. McPhail stellt nie sein technisches Können zur Schau, sondern spielt stets genau das, was der Song gerade braucht.
Der Block an alten Songs, den Tocotronic in der Mitte des Konzerts einbaut, verwandelt die Columbiahalle trotz ihrer Größe in einen verschwitzten Punk-Club: „Digital ist besser“ oder „Ich verabscheue Euch wegen Eurer Kleinkunst zutiefst“ von den ersten Alben der Band lassen das Publikum, das größtenteils wohl schon damals in den 90ern dabei war, ausgelassen tanzen und lautstark mitsingen. Das geht bei den alten Songs auch einfach besser: Die Parolen von damals lassen sich halt besser brüllen als die vertrackten Zeilen der neueren Lieder.
Die Band nutzt das an diesem Abend aber auch aus: Mit Ausnahme von einzelnen Hits wie dem wunderschönen „Electric Guitar“ oder dem sich zwischen Postrock und Shoegaze hochschraubenden „Eure Liebe Tötet Mich“ gibt es hauptsächlich ganz neue und ganz alte Songs zu hören. Dadurch rückt aber auch in den Vordergrund, was oft etwas vernachlässigt wird: Bei allem intellektuell-poetischen Anspruch ist Tocotronic auch einfach eine verdammt gute Rockband: tight im Zusammenspiel, krachend laut – garniert mit McPhails großartigen Gitarrensoli in jedem Song.
Atemloses „Hi Freaks“
Tocotronic, seit einer Weile Wahlberliner, geizt aber auch nicht mit den Hits, sie spielen ganz uneitel alles, was das Fanherz begehrt. Gerade bei den Zugaben lässt sich die Band nicht lumpen: Eine atemlose Version der Quasi-Bandhymne „Hi Freaks“, bei der Dirk von Lowtzow sich so richtig schön um das Mikrofon windet, stachelt das Publikum noch mal an.


