Schlager-Pop

Soft-Porn-Wasserfall, Sauflied und Gruppenflirt: Helene Fischer in der Mercedes-Benz-Arena

Es war das erste von fünf Helene-Fischer-Konzerten diese Woche in Berlin. Konnte Fischer überzeugen als Lack-Domina, die zugleich Achtsamkeit lehrt?

Helene Fischer live in der Mercedes-Benz-Arena
Helene Fischer live in der Mercedes-Benz-ArenaChristina Kratsch/Davids

Alle Augen auf den Rubin! Von der Decke der Arena hängt ein Schmuckstein herunter, während die Geigen melodramatisch quietschen und hinten auf der Videowand eine Art Windows-Bildschirmschoner mit schwebenden Eisstückchen abgespielt wird.

„Wir haben uns schon so lange nach diesem Tag gesehnt“, spricht eine edelvollmilchschokoladensüße Stimme aus dem Off – um dann ein verführerisches „Berlin“ zu hauchen, so als gelte es, dem Image der Hauptstadt als Sex- und Sündenpool noch einmal klanglich Nachdruck zu verleihen.

Vom „Rubin“ gleiten derweil die Stoffwände ab, er entpuppt sich als Schwebebühne, sodass freie Sicht auf die Sprecherin gewährt wird, die natürlich eine Sängerin ist. Die Frau, deretwegen die Berliner Benz-Arena rammelvoll ist an diesem sehr frühlingshaften Dienstagabend – und es diese Woche noch vier weitere Male sein wird, am Mittwoch, Freitag, Samstag und Sonntag. Helene-Fischer-Festspiele! Die Frau, die den Schlager fit gemacht hat für das 21. Jahrhundert, ist auf „Rausch“-Tour. Und Berlin will sich berauschen lassen, zweifellos.

„Null auf 100“ heißt die Eröffnungsnummer, die Helene Fischer, mittlerweile zu Boden geglitten, im pechschwarz-rubinroten Latexbody und in Netzstrumpfhose anstimmt. Und in diesem „Null auf 100“-Tempo kurbelt der Song selbst das Energielevel hoch, von Musicalballade bis zum Scooter-Techno-Club. Oder zumindest ein Club, wie man sich ihn im ZDF-„Fernsehgarten“ vorstellen würde. Aber gut, wir sind ja auch erst bei Song Nummer eins. „Freunde, das wird groß heute“, schwört Helene Fischer ihren Fans, wer wollte daran zweifeln? Die Effektdüsen der Bühne lassen munter Dampf ab. Umgarnt von einem Dutzend Tanzender wirkt Helene Fischer so, als wolle sie heute Abend nicht bloß ein Konzert singen, sondern nebenbei auch noch einen Aerobic-Kurs für Super-Fortgeschrittene geben. Und weil die Aerobic-Lehrerin ultrafamous ist, aber immer wieder auf die Seitenflügel der Bühne steigt und uns allen nahbar zuwinkt, darf man sich auch im zweiten Oberrang schnell so fühlen, als wäre man Teil von Helenes Hochglanz-Illustrierten-Cover-Welt.

Um ein Helene-Fischer-Konzert zu verstehen, muss man wissen, dass sie die Kunst des gehobenen Gruppenflirts beherrscht wie keine Zweite. Helene Fischer haut Nettigkeiten raus wie eine bestens gebutterte Popcorn-Maschine auf Hochtouren. Ihr Team sei schon vor dem Wochentrip nach Berlin „ganz aus dem Häuschen“ gewesen, sagt sie, bedankt sich „für das schönste Wetter, danke für die Sonne“, so als hätten wir sie eigenhändig für sie fabriziert hier in Berlin. Aber sie sagt das mit dem Charme einer Lieblingskollegin, die immer für alle Kekse mitbringt, sodass man ihr den größten Nonsens abnickt und sich auch noch gut dabei fühlt. Außer vielleicht, wenn Helene Fischer von „dieser wunderschönen Halle hier“ schwärmt, als stünden wir im Spiegelsaal von Versailles und nicht in einer charakterlosen Multifunktionsturnhalle.

Helene Fischer auf „Rausch“-Tour: Feuerreifen, Hula-Hoop und Lichter

Wobei eine Multifunktionsturnhalle natürlich so ziemlich der beste Ort für ein Helene-Fischer-Konzert ist. Denn Konzert heißt bei Helene Fischer: Show-off-Show. Live-Action-Spektakel. Nicht umsonst hat sie die Highend-Akrobatentruppe vom Cirque du Soleil für ihre Tour verpflichtet. Während die Bühne Feuer spuckt und schluckt und Helene uns in ihrer Anti-Selbstoptimierungshymne „Fehlerfrei“ ihr „Keiner ist fehlerfrei“-Mantra verklickern will, liefert sie uns selbst mit den drei Dutzend Tanzenden eine ganz offensichtlich fehlerfreie Choreografie ab. Abseiltücher, Feuerreifen, Hula-Hoop? Alles inklusive. Man muss sich schon gewaltvoll aus deren Bann lösen, um irgendwo sehr weit hinten auch mal die Band (Keyboard, Gitarren, Bass, Schlagzeug) nur eines Blicks zu würdigen.

Schöner Nebeneffekt: Die Feuer-Show lenkt einen auch gut ab vom Nullgehalt der Texte. Denn auch die stets glühend ausdruckskräftige Stimme einer Helene Fischer kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass „Auf der Autobahn mit 300 fahren/ So was kann ich nur mit dir“ („Mit keinem Andern“) irgendwie Wahnsinn ist oder Werbung für FDP oder Mercedes oder alles zugleich. Das Publikum (bei den Damen dominieren florale Outfits, bei den Herren Karohemden) wedelt dazu mit Leuchtstäben, die wie eine Kreuzung aus XXL-Dildo und XXS-Lichtschwert wirken. „Come on, party people“, stachelt Frau Fischer uns an, und sie muss es uns nicht zweimal sagen.

Helene Fischer in der Mercedes-Benz-Arena: Akrobatik mit Feuer

Dann ist aber auch mal Sternschnuppen-Balladenzeit! In „Volle Kraft voraus“ klingt die Fischerin wie eine deutsche Céline Dion. Einer der Akrobaten wirbelt im hallenhohen Segel so, als wäre er in einen Sturm auf hoher See geraten. Und immer wieder, wenn man mal kurz nicht aufpasst (oder sich von der Zirkus-Show einlullen lässt), hat sich Helene Fischer in ein neues Outfit gepackt. Diesmal weiß und gülden, das blonde Haar streng zurückgekämmt. So kann es noch schöner durcheinanderwirbeln und -wallen, wenn sie dann wieder Trampolin springt. Als ob sie so viel Akrobatik-Trickkasten bei ihrer Stimme nötig hätte! Andererseits ist sie damit eben einmalig. Denn solch eine Akrobatik („thank you very much, merci bien!“) macht ihr keine einzige Weltklasse-Diva nach. Und Spaß bringt der Zirkus eben doch. Zumindest wenn man gerne halb nackte durchtrainierte Typen sieht, die mit Feuerfackeln wackeln – und sich dabei nicht allzu viele Sorgen machen, ob gerade genug Feuerwehr vor Ort ist in dieser „wunderschönen Halle“.

Bei „Ich will immer wieder ... dieses Fieber spür’n“ bläst die Windmaschine besser als jede Wärmepumpe. Dann kann selbst Helene Fischer mal fieberheiß werden. Statt „ich switche auf Englisch“ rutscht ihr ein „ich schwitze auf Englisch“ raus, als sie einer Zuschauerin („Wie heißt du? Luisa? Lisa? Ah, Theresa!“), die heute laut ihrem Pappschild Geburtstag hat, mit Band ein Ständchen anstimmt. „Schön, dass du mit mir feierst“, jubelt Fischer, so, als könnte sie es gar nicht fassen, voller typischer Honig-Helene-Verzückung, als sie Hand-Schmatzer ins Publikum verteilt, alle anderen außer Theresa haben ja irgendwann auch Geburtstag.

Helene Fischer beim Berlin-Konzert: Die Disco-Teufelin liebt den Gabelstapler

Bevor es irgendwann eine gute halbe Stunde Pause gibt (wie sich das früher für jeden anständigen „Herr der Ringe“ oder „Hobbit“ im Überlängen-Kino gehörte), mutiert Helene Fischer noch im Feuerreifen zur Disco-Teufelin, spendiert ein bisschen Schlager-Rap hier, ein bisschen Latin-Hitze dort, rastet ein bisschen zu Stadion-Schranz aus, singt inmitten eines live aus einer Art überdimensioniertem Brausekopf herunterplätschernden Wasser-Zylinders (es hat was von Soft-Pop-Porno) und lässt sich so viele Male mit der gabelstaplerartigen Hebebühne hoch- und runterfahren, dass man fast meint, es wäre ihr Lieblingshobby. „Wie ihr alle unschwer erkennen könnt, liebe ich die großen Shows.“ Ach nein.

Zur zweiten Halbzeit müssen wir dann klatschen und singen, um Helene zurück auf die Bühne zu holen. Behauptet einer der Background-Sänger. Nun ja. Eigentlich ist sie so schnell zurück, dass man fast meint, es hätte gar nicht nicht am Klatschen gelegen. Durch einen Menschentunnel bahnt sie sich, natürlich flankiert von Bodyguards, den Weg zu einer Insel-Bühne in der Mitte der Arena. Akustisch reduziert (hauptsächlich mit Gitarre und Akkordeon) gibt Fischer ein Medley samt dem Sex-und-Sauf-Lied „Die Hölle morgen früh“ zum Besten. Jetzt mal, nach all dem Techno-Pop der ersten Hälfte, in zünftiger Schlager-Stadl-Manier. Popo-Wackeln muss auch mal reichen als Akrobatik, wenn unsere Lieblings-Chorleiterin Komplimente verschenkt: „Schön habt ihr gesungen, Mensch, Berlin.“ Ach schön, ach schön! „Ich winke, na klar, ich seh euch!“

Dass sie auch ihre queeren Fans sieht, demonstriert Helene Fischer dann mit „Regenbogenfarben“, einem Empowerment-Song der lesbischen Kollegin Kerstin Ott. Worte wie schwul, lesbisch, queer nimmt Fischer nicht in den Mund, sie bleibt wie immer im Ungefähren, im Vagen („Ihr dürft euch jetzt angesprochen fühlen. Ich wünsche mir, dass ihr euch immer mehr verstanden fühlt.“) Na gut, das Regenbogenlicht lässt trotzdem kaum Zweifel aufkommen. Der Applaus zum Song dürfte einer der stärksten des Abends sein. Aber: „Jeder hat sein Päckchen zu tragen“, weiß Helene Fischer, die sich neben ihrer Rolle als Aerobic-Lehrerin und Chorleiterin auch als Achtsamkeits-Coach gut zu gefallen scheint. Als große Seelen-Fischerin. In ihrer Akrobatik-Show hat allerdings auch jeder sein rasch um die eigene Achse zirkulierendes Flugleiterchen zu beklettern.

Irgendwann nach fast drei Stunden kommt dann auch unverhinderlich „Atemlos“. Helene Fischer hat sich dazu in Lack-und-Leder-Schale geworfen, um mit uns im Kopfkino „durch die Clubs dieser Stadt“ zu ziehen, oh-oh, oh-oh. Aus nicht näher bekannten Gründen (oder vielleicht um den Kater von morgen vorwegzufühlen?) lässt sie sich dabei von einer Art wild gewordenem Roboter-Arm hin- und her- und auch mal kopfüber wirbeln. Kennen Sie diese Greifarm-Automaten auf der Kirmes, mit denen man (mit viel Glück) Kuscheltiere krallen kann? Stellen Sie sich so was in sehr groß und gruselig vor! Schwindellos ist diese Frau zweifelsohne. Dafür singt sie kunstvoll Pirouetten, bis allen anderen schwindelig sein dürfte. Zum Finale des Abends wird der Techno sogar richtig noisy, und auch die Band darf rock’n’roll heiß laufen.

„Das ist unser Tag“ singt Helene Fischer zum Wunderkerzenvulkan und zur Konfettikanone – und meint damit nur uns. Sie wird es noch an vier weiteren Tagen in Berlin ziemlich genau so noch einmal singen und damit dann nur die anderen meinen. Kunst des gehobenen Gruppenflirts. Und trotzdem weiß man am Ende eines solchen Abends eines mit Gewissheit: Wenn wir diese Frau zum Eurovision Song Contest schicken und dann nicht von allen Ländern zwölf Punkte bekommen – dann hasst uns die Welt wirklich.