Wie zum Segen streckt er beide Hände Richtung Publikum. Noch bevor es richtig losgeht. Alle in der Benz-Arena wissen es: Elton John ist der Priester des Pianofortes. Und sein Versprechen heute Nacht: ein Segen aus Sound. Vor allem seine Songs der Siebziger.
Aus seiner abenteuerlichen Brillensammlung trägt Elton John ein rosafarbenes Modell mit tiefpinkem Glas und Funkelsteinchen auf dem Rahmen.
Schon diese Brille ist ein Boogie-Woogie! Elton John, das haselnusspuddingfarbene Haar flott nach rechts gescheitelt, schwingt die Arme gen Arena-Publikum; fast, als wollte er rhetorisch fragen: „Ich kann’s ja wohl immer noch nach all den Jahren, oder etwa nicht?“
Die Show am Montagabend in der Mercedes-Benz-Arena ist die erste von drei in Berlin auf Elton Johns Abschiedstournee. Und zugleich Konzert Nummer 300 dieser „Farewell Yellow Brick Road“-Tour, die insgesamt sagenhafte 333 Shows umfasst. Seit 2018 dauert sie an, wohlgemerkt mit pandemisch und Hüft-OP-bedingten Unterbrechungen.
Mit mehr als 850 Millionen Dollar Einnahmen ist es laut Billboard Magazine die umsatzstärkste Tournee aller Zeiten. Tickets in Berlin gibt es ab 96 Euro. Der „Top Seat - Golden Circle“ kostet 781 Euro. In Zukunft will sich Elton John mehr Zeit für seinen Mann und seine Kinder nehmen. Es sei ihm gegönnt. Mit den Tour-Einnahmen dürfte er noch seine zukünftigen Ur-Enkel abgesichert haben. Davor wollen wir aber noch was mit ihm erleben heute Nacht! Und Sir Elton will das offensichtlich auch. Er trägt so viel Klunker an den Fingern und Glitzer-Ornament am Ärmel, sodass es etwas Glamrock-Königliches hat. Man munkelt, dass er den angefragten Auftritt beim Krönungskonzert von König Charles III. auch deshalb abgesagt hat, um am Folgetag fit in Berlin zu sein.
Elton John beim Konzert in der Benz-Arena: Wie ein Skater auf der Halfpipe
Falls dem so ist, war es die richtige Entscheidung. Mit einer perkussiven Energie schlägt Sir Elton in die Klaviatur seines schwarz lackierten Yamaha-Flügels. „Bennie and the Jets“! Das Glamrock-Stück von 1974 über eine fiktive Sci-Fi-Punk-Band. Sehr real hingegen: die Kraft und der Nachdruck in Sir Eltons markanter Baritonstimme. Vollmundige Vocals! Kaum zu glauben, dass der Typ schon 76 Jahre alt ist. Mit seinen sichtbar flotten Fingern fetzt er einen Boogie-Lauf über die Tasten. Für die große Videowand im Hintergrund zoomt eine Kamera extranah ran, und es fühlt sich so an, als sähen wir einem DJ bei seinen Scratch-Tricks oder einem Skater bei seinen Stunts auf der Halfpipe zu: verwegen, tollkühn, aber ganz in seinem Element.
Der Sound ist ganz auf Elton Johns Gesang und seinen Tastenzauber zugeschnitten. Aber gleichwohl von einem großen Bombast. Allein für die Beats hat Elton John drei Männer mitgebracht: Nigel Olsson am pompösen Schlagzeug sowie John Mahon und Ray Cooper für detailverliebte Percussions samt Maracas, Tambourin und Xylofon. Zudem Kim Bullard als Sir Eltons Konterpart an den Keyboards, Matt Bissonette am munteren Bass. Und Davey Johnstone (der optisch an Andy Warhol erinnert) als Bandleader an den Gitarren. Die meisten aus der Elton-John-Band sind, wenn auch mit Unterbrechungen, Spielgefährten seit den Siebzigern.
Diese Band ist extrem gut eingegroovt, keine Frage. Manchmal klingt das ein bisschen zu sehr nach routinierter Rock-and-Roll-Hall-of-Fame. Aber der beseelte Background-Gesang dieser perfekten Altherren-Truppe ist schon bei der Philly-Disco-Soul-Nummer „Philadelphia Freedom“ (über die offen lesbische Tennisspielerin Billie Jean King) von einem Schmelz zum Niederknien. Wenn man jemals in ein Altenheim kommt, kann man sich eigentlich nur wünschen, dass die Elton-John-Band dort die Hausband ist.

Das große Wunder heute Abend: Elton John bekommt das immer wieder hin, seine zigtausendfach gespielten Stücke so frisch klingen zu lassen, als sänge er sie gerade zum ersten Mal. Als würde er sie just in dieser Sekunde erfinden. Wie genüsslich er das „lovers“ über die Zunge rollen lässt in „I Guess That’s Why They Call It The Blues“! Als würde er gerade Kirschsorbet naschen. Immer wieder brilliert er mit Rubato: Er verlängert und verkürzt die Melodietöne ganz unvorhersehbar, teilweise stark variiert verglichen mit den Album-Versionen. Das wirkt dem Kitsch entgegen, auch bei „Candle In The Wind“.
Dass die meisten Songs ein halbes Jahrhundert alt sind, merkt man allenfalls daran, wie vertraut sie einem auch in diesen Live-Versionen sind. Sir Elton betänzelt die Klaviatur und er schlägt impulsiv mit der rechten Hand auf den Flügel-Deckel und er beißt sich auf die Unterlippe, wenn er den Applaus besonders auskostet, zu dem er regelmäßig aufsteht. Manchmal meint man, den Mann hinter dem rosa Brillenglas zu sehen. Als er seine Band-Buddys vorstellt und davon erzählt, wie lang sie schon zusammen spielen, kullern ihm sogar ein paar Tränen über die Wange.
Elton John auf Abschiedstournee: Das Klavier strahlt wie kalifornische Sonne
Er weiß natürlich, dass die „Farewell Yellow Brick Road“ schon bald zu Ende gehen wird, am 8. Juli in Stockholm. Aber in manchen Momenten meint man auch einen ganz jungen Mann zu hören. Etwa wenn Elton John erzählt, wie stolz er war und ist, dass Aretha Franklin sehr früh seinen „Border Song“ gecovert hat. Er widmet ihn an diesem Abend jener Queen of Soul. In den Visuals auf der Leinwand sind auch queere Bürgerrechtler wie James Baldwin und Harvey Milk zu sehen.
In „Tiny Dancer“ strahlt Elton Johns Klavier noch mal wie kalifornische Sonne. In „Rocket Man“ (mit einem exzessiv ausladenden, noisy Outro) sprüht es Funken wie eine Rakete. Viele Menschen in der Multifunktionsturnhalle tanzen im Sitzen. Immer wieder weist Elton John mit seinen Armen in die Arena, zeigt sich als ein gewiefter Showmaster. Ab und zu genehmigt er sich etwas zu trinken. Whiskey, Ecstasy-Bowle? Aber nein, Sir Elton schwört auf Nüchternheit inzwischen. Also vielleicht warmer Kamillentee?
Elton John auf „Farewell Yellow Brick Road“-Tour: Das Klavier als Autoscooter
Bei „Levon“ spielt ein Mann in Reihe neun Luft-Bass, und die grauhaarige Dame in Reihe acht geht ab, als wollte sie den Meister heute Nacht noch abschleppen. Der wirkt indes etwas schockiert darüber, was für ein Angeber-Solo sein Gitarrist da gerade hinlegt. Und damit sind die Special-Effects noch nicht am Ende: Sir Elton tauscht sein Outfit, er wirkt nun wie ein Edel-Matrose von der Milan Fashion Week. Blau bestrahlter Nebel quillt über die Bühne. Konfetti fällt und wird dann wieder weggesaugt. Irgendwann rollt Elton Johns Klavier über die Bühne wie ein Jahrmarkts-Autoscooter auf Kuschelkurs. In den Visuals auf der Leinwand steht Elton Johns Klavier in Flammen. So weit möge es in echt nicht kommen!






