Konzertkritik

Tokio Hotel im Huxleys: Berge aus Plastik wehen im Monsun

Bill Kaulitz umgibt beim Berliner Konzert die Grandezza eines Superstars. In den Köpfen bleiben wird dem Publikum vor allem die Zugabe.

Tom (l.) und Bill Kaulitz von Tokio Hotel beim Berlin-Konzert im Huxleys Neue Welt
Tom (l.) und Bill Kaulitz von Tokio Hotel beim Berlin-Konzert im Huxleys Neue WeltMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Bei Magdeburg gab es einst einen Jungen, der passte ins Ostdeutschland der Neunziger wie ein Orangenbaum in die sibirische Tundra. Seine Haare trug er schulterlang, auf den Fingernägeln glänzte schwarzer Lack. Zu Schulzeiten prügelten ihn die anderen Jungen auf die Mädchentoilette. Er ging durch den Schmerz, weil er zu stolz war, seine Andersartigkeit abzulegen. Als Teenager sang er Lieder, die Flucht suchten: „Durch den Monsun, hinter die Welt“. In Deutschland fand er Ruhm und in Los Angeles das süße Leben.

An diesem Freitagabend im Mai 2023 steht Bill Kaulitz schließlich mitsamt seiner Band auf einer Bühne in Berlin. Sein Zwilling Tom Kaulitz bespielt die Gitarre; mit ihm zog es ihn vor einer Dekade nach Kalifornien. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Georg Listing am Bass und Schlagzeuger Gustav Schäfer die Gruppe komplettieren. Die Band hört auf den Namen Tokio Hotel. Mitte der Nullerjahre hatten Scharen von Teenagern Tage vor ihren eigentlichen Auftritten die Zelte aufgeschlagen – nur um ganz vorne zu stehen, wenn ihre Helden die Bühne betreten.

Diesmal ist es anders, im Huxleys an der Neuköllner Hasenheide. Das Publikum ist naturgemäß älter geworden. Doch tatsächlich scheint es im Vergleich zu früheren Tagen recht divers. Zwar erkennt man am ganzheitlichen Kreischen, dass alle Anwesenden vor langer Zeit die abgöttische Liebe zu dieser Band verbunden hatte. Doch haben sich die vornehmlich weiblichen Fans im Laufe der Jahre in die unterschiedlichsten Richtungen entwickelt. Fast alle Milieus sind vertreten: Einige Gäste könnten in biederen Büros ihr Geld verdienen, andere nach dem Konzert weiterziehen ins Berghain. Nur im Gewand eines Emos steckt eigentlich niemand mehr.

Die Besucher sind außer sich, als die Band vor sie tritt. Von Beginn an ist Sänger Bill Kaulitz der unangefochtene Star: das Licht nur auf ihn gerichtet, laszives Hüftkreisen, die Haare wehen im Wind. Fünf Kostüme werden in den nächsten zwei Stunden seinen Körper zieren – mal funkeln die Pailletten lila, mal türkis. Die Roben könnten den Kostümen von Abba entlehnt worden sein, sie erinnern an David Bowie in seiner Ziggy-Stardust-Inkarnation und an den schwulen Country-Rapper Lil Nas X. Kontrastiert wird der paradiesische Frontmann von seinen Bandkollegen, sie sind von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet.

Bill Kaulitz im Huxleys an der Hasenheide in Berlin
Bill Kaulitz im Huxleys an der Hasenheide in BerlinMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Das Berlin-Konzert von Tokio Hotel beginnt mit den Titeln „White Lies“, „Automatic“ und „The Heart Get No Sleep“. Allesamt stammen sie aus der zweiten, englischsprachigen Werkphase von Tokio Hotel. Und allesamt sind sie tanzbar – die Hörerschaft nimmt das Angebot dankend an. Es folgen weitere Lieder aus dem 2014 erschienenen Album „Kings of Suburbia“, der 2017 veröffentlichten Nachfolgeplatte „Dream Machine“ und dem aktuellsten Langspieler „2001“. Ziemlich belangloser Synth-Pop beschallt die rund 1500 Gäste: Songs aus Plastik, durchaus dargeboten, mit Verve.

Abgesehen von der Musik umgibt Tokio Hotel aber eine zu dicke Patina, um nicht von dem Geschehen betroffen zu sein. Irgendwann spricht Bill Kaulitz in seinen goldenen Mikrofonkorb, dies sei die schönste Tour seiner Karriere. Natürlich kokettiert er. Nach der ersten Hälfte der Show folgen zwei lediglich mit der Gitarre begleitete Akustik-Stücke – darunter auch der erste deutschsprachige Titel „Schwarz“. Rund 15 Schilder werden in die Höhe gereckt. „Fick uns durch den Monsun“ steht auf einem. „Bill, want you draw my next tattoo?“ auf einem anderen. Als der Sänger das Schild bemerkt, holt er die Frau auf die Bühne und lässt ihren Wunsch Wirklichkeit werden – nicht ohne vorher zu fragen: „Can I be dirty?“

Zum Ende des Konzerts flacht die Laune merklich ab, daran ändert auch eine Funkenfontäne während des letzten Stücks „Chateau“ nichts. Das Verlangen nach einer Zugabe hält sich in Grenzen, dennoch kommen Tokio Hotel zurück. Die ersten Töne von „Fahr mit mir (4x4)“ erklingen. Der Titel ist dem letzten Kraftklub-Album entnommen, Bill Kaulitz war darauf als Gastsänger vertreten.

Es folgt der Moment des Abends: Als Felix Kummer die Bühne betritt, badet das Publikum in Glückseligkeit und Ekstase. Eine innige Umarmung zwischen beiden zur Verabschiedung – dann ist es so weit: „Durch den Monsun“, noch so eine Fluchtfantasie. Smartphones werden gezückt, das Gros der Besucher grölt den größten Hit der Band in voller Länge mit. Dann entlässt Konfetti die Menschen in die Nacht. „Es war so cool, so unrealistisch irgendwie“, sagt eine Besucherin zur anderen. Und in gewisser Weise hat sie recht.