Plattenkritik

High in Berlin: So klingt das Tokio-Hotel-Album „2001“ samt aufgepimptem Monsun

Das Quartett aus Magdeburg wurde früh weltberühmt und versucht seither, sich von diesem Ruhm zu emanzipieren. Wie gut gelingt das auf dem sechsten Album?

Tokio Hotel rund um Sänger Bill Kaulitz
Tokio Hotel rund um Sänger Bill KaulitzSony

Was wollten wir nicht alle sowas von gern mit Bill Kaulitz durch den Monsunmatsch stiefeln! Sonst ja nicht gerade ein sonderlich beliebtes Hobby, aber Bill Kaulitz hat eben die Herzen erweicht – und nicht nur Mädchenherzen, wie die Presse seinerzeit gern schrieb, sondern auch Millionen Jungenherzen. Sicher auch solche, die sich, durch den androgynen Look von Bill Kaulitz ermutigt, vom Pausenhof in Magdeburg oder Marzahn wegträumten in eine Welt, die mehr Fluidität bei sexueller Identität und Orientierung zulässt. „Gegen den Sturm / Am Abgrund entlang / Und wenn ich nicht mehr kann, denk ich daran / Irgendwann laufen wir zusammen.“ Aber sowas von!

Wie ein kleines Zugeständnis an die frühen Fans und an den Radioerfolg von einst wirkt es dann ja doch, wenn Tokio Hotel ihr sechstes Album „2001“ (benannt nach dem Gründungsjahr des Magdeburger Quartetts) mit einer klanglich aufgepimpten Version namens „Durch den Monsun 2020“ eröffnen. Die klingt trotz desselben Texts nicht mehr ganz so dringlich wie das Emogeschrei von 2005, sondern mehr nach edelpolierter Daft-Punk-Disco. Aber als Universalmetapher kann der Monsun immer noch herhalten: Was ist das für ein symbolisches Schmuddelwetter, durch das wir da durchmüssen? Mentale Krise? Coronakrise, Energiekrise und Kriegskrise? Zumal tropische Monsunstürme bislang in Europa ja ausblieben, aber: Klimawandelnachtigall, ick hör dir trapsen.

Der Sound von Tokio Hotel bedient auf „2001“ viele Geschmäcker: Nullerjahre-College-Rocker, Placebo-Glamrock-Fans, aber auch Balladen-Ballerinos und Teenie-Pop-TikTokker mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne und Sinn für knappe Klangmotive. Ein bisschen Wundertüte für alle. Das kann unentschieden wirken – oder vielseitig. Tokio Hotel sind eben nicht mehr die Schulhof-Schrammel-Band von einst, sondern sie haben soundtechnisch hohe Ambitionen, wollen ganz oben mitspielen.

Sehr wohl entschlossen ist Bill Kaulitz (von dem sich viele ja ein früheres Coming-out gewünscht hätten), wenn er im Track „HIM“ (in Kapitälchen dann auch noch) von einem Typen singt, von dem er was will. Ghostet der Typ ihn, oder ist er wirklich ein Geist? Ein imaginärer Lover? „He's an unknown, yeah, and he don't care / Whenever I want him, he'll be right here.“

Ein anderes Lied, das uns hier in Berlin besonders auffällt, ist „Berlin“ (featuring VVAVES). Seit Bill und Tom Kaulitz in Kalifornien residieren, ist Berlin ja meist der Ort, an dem die vier Herren von Tokio Hotel wieder zusammenfinden. Der Song ist eine glühweinsüße Ode an Berlin, der Ort, an dem sich Bill Kaulitz, wie er singt, einst in den Straßen verlor und in jeden verknallte. Ein Ort, an den er sich zurücksehnt. „Berlin, you taught me how to dance / You're the home to all my friends.“

Ein Ort, wo die Highs high und die Lows low sind, so endet die berlinische Liebeserklärung. Eine kleine Anspielung auf David Bowies Berlin-Trilogie, die 1977 mit dem „Low“-Album ihren Abschluss fand? In dieser Liga spielen Tokio Hotel zwar nicht, aber „2001“ ist doch ein gutes Popalbum von einer Band, die absurd früh weltberühmt wurde und sich immer wieder von ihrem Ruhm emanzipieren musste.

Tokio Hotel: „2021“. Epic/Sony