Berlin-Literatur

Tim Staffel und sein Roman „Südstern“: Der Rhythmus von Berlin

Er dachte, er wäre kein Schriftsteller mehr. Tim Staffel wagte noch einen Versuch – und ist prompt für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ein Porträt.

Der Schriftsteller Tim Staffel vor dem Haus am Südstern, wo er wohnte, als er nach Berlin kam.
Der Schriftsteller Tim Staffel vor dem Haus am Südstern, wo er wohnte, als er nach Berlin kam.Emmanuele Contini

Am Südstern, wo mehrere Kreuzberger Straßen zusammenlaufen, treffen wir uns vor allem, weil Tim Staffels neuer Roman wie der Platz heißt. Er erscheint an diesem Mittwoch, vom Verlag gegenüber dem ursprünglichen Termin um eine Woche vorgezogen; es gilt die Aufmerksamkeit zu nutzen. Denn „Südstern“ steht neben 19 anderen Titeln auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, der aufmerksamkeitsträchtigen Auszeichnung, die kurz vor der Frankfurter Buchmesse Mitte Oktober vergeben wird.

Tim Staffel muss sich in die Rolle eines Favoriten erst noch hineinfinden. Oder: wieder hineinfinden. Als er 1998 seinen ersten Roman veröffentlichte, „Terrordrom“, wurde der viel besprochen und von Frank Castorf für die Volksbühne adaptiert. Es folgten drei weitere, der letzte erschien 2008, auf dessen Grundlage inszenierte Staffel selbst einen Spielfilm, „Westerland“. Obwohl er noch Hörspiele und Theaterstücke schrieb, bewegte er sich kaum noch in den Kreisen, die man Literaturbetrieb nennt. Und nun tippt der Kanon-Verlag in den Klappentext: „,Südstern‘ ist der große Comeback-Roman von Tim Staffel.“

Von der Hasenheide bis zum Kottbusser Damm

Wir stehen hier, wo der Buchtitel ohne Werbekosten weiß auf blauem Grund von der BVG geliefert wird, an der U-Bahn-Linie 7. Tim Staffel, knapp 58, schlank wie jemand, der Ausdauersport macht, zeigt auf ein weißes Haus mit schnuckeligem Türmchen. Das war sein erster Anlaufpunkt in Berlin, noch bevor er vor 30 Jahren in die Stadt zog, eine Freundin wohnte dort an der Ecke zur Lilienthalstraße, schräg gegenüber dem Eingang zum Volkspark Hasenheide. Der Kiez gehört zu den Schauplätzen des Romans, der in einem etwas größeren Radius spielt und sich etwa so ausdehnt wie der Polizeiabschnitt 52. Das liegt an seiner männlichen Hauptfigur Deniz. Von der Zentrale in der Friesenstraße ist er mit dem Streifenwagen bis zum Kottbusser Damm unterwegs. Tim Staffel wohnt hier schon lange nicht mehr, ist oft umgezogen: Prenzlauer Berg, Neukölln, Kreuzberg, jetzt ist er im Wedding zu Hause.

Als wir uns verabredeten, wählte er den späteren Nachmittag, anders ließe es seine Arbeitszeit nicht zu – und er meinte damit seinen Dienst in einem Herzkatheterlabor. Man kann sich wenig vorstellen, was weiter weg ist von der Arbeit, weswegen wir uns gerade unterhalten, der Literatur.

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Das Buch
Tim Staffel: Südstern. Roman. Kanon, Berlin 2023. 288 Seiten, 25 Euro

„Ich mache das seit anderthalb Jahren“, sagt er. „Die Idee war, die künstlerische Produktion vom Druck des Geldverdienens zu befreien.“ Er kümmere sich um die Logistik des Labors, fahre auch mal Patienten mit einem Rollstuhl herum, eine gute, erfüllende Arbeit. Die Entscheidung, beruflich das Kulturmilieu zu verlassen, habe sich lange hingezogen. Tim Staffel sagt: „Ich habe gemerkt, dass mir das, was das Schreiben mal ausgemacht hat – eine gewisse Dringlichkeit oder Leidenschaft –, abhandengekommen ist. Ich wollte herausfinden, ob ich dann noch etwas mache, wenn ich nicht mehr davon leben muss.“ Er begab sich auf Jobsuche. Nebenher schrieb er den Roman. „Weil ich dachte, ich muss noch etwas raushauen, für mich selber.“

So erzählt, klingt es ganz leicht. Tim Staffel öffnet sich im Gespräch langsam, auch Interviews hat er ein paar Jahre nicht mehr gegeben. Wir gehen und reden und sehen dabei Orte aus dem Buch, die Urbanstraße, den Landwehrkanal mit dem großen Krankenhaus, die Bürknerstraße, den Hohenstaufenplatz mit der Skulptur der kämpfenden Ziegenböcke.

Tim Staffel am Zickenplatz, der eigentlich Hohenstaufenplatz heißt
Tim Staffel am Zickenplatz, der eigentlich Hohenstaufenplatz heißtEmmanuele Contini

Vanessa und das doppelte Doppelleben

Hier hält Deniz im Roman gern, um etwas zu essen, hier hat ihn Vanessa, die weibliche Hauptfigur, zum ersten Mal in Arbeitskleidung gesehen. „Schöne Uniform, die du trägst, höre ich mich sagen“, schreibt Tim Staffel für sie. „Ich sehe es ihm an, Deniz weiß nicht, was er von der Bemerkung halten soll. Er ist stolz auf seine Polizeiuniform, ich war noch nie so ahnungslos. Schickes Kleid, gibt er zurück.“ Es ist die Liebesgeschichte zwischen einer Pharmakologin und Barfrau auf Abwegen, die Aufputsch- und Beruhigungsmittel vertickt, und einem oft freundlichen Polizisten, der nach der Schicht seinen Parkinson-kranken Vater pflegt. Die Uniform lässt Vanessa erschrecken, aber, so der Autor: „Sie entscheidet sich fürs doppelte Doppelleben.“ Denn sie verbirgt auch schon zu Hause – Doppelleben Nummer eins – vor dem Mann, mit dem sie zusammenlebt, ihre Ware. Der, Olli, ist Abgeordneter der Grünen und für Gesundheitspolitik zuständig.

Den Erzählstoff trug Tim Staffel schon länger mit sich herum. Zusammen mit dem Reporter Lucas Vogelsang schrieb und produzierte er 2019 eine zehnteilige Hörspielserie unter dem Titel „Dope!“ für den RBB. Sie hatten gemeinsam recherchiert, mit Polizistinnen und Polizisten, Apothekern, Ärztinnen, Pflegern gesprochen. Wie gehen die Menschen in der Stadt mit dem Druck um?

Ein Roman gehorcht anderen Gesetzen, die Figuren brauchen viel mehr Kontur, sie haben eine Gedankenwelt und eine Vergangenheit, der Spannungsbogen muss über 280 Seiten reichen. Dass Lucas Vogelsang nun im Buch an erster Stelle der Danksagungen steht, hat seinen Grund. Ihm hatte Tim Staffel die erste Fassung geschickt, daraufhin bekam er eine Stunde lang erklärt, dass die nicht funktionierte. Er habe ihm klargemacht, dass er als Autor nicht irgendwas machen solle, von dem er denke, er müsste es tun, sondern zu seinen eigenen Stärken zurückkehren. Tim Staffel sagt: „Es war, als hätte er den Schalter gefunden und umgelegt. Ich war bei dem Telefonat im Volkspark Rehberge und bin sofort nach Hause, habe mich wieder an das Manuskript gesetzt, es war wie eine Erlösung.“ Wenn man von einem Comeback reden möchte, könne er sagen, da habe es angefangen. Da habe er begriffen, er sei wieder Schriftsteller.

Die Silhouette der Kirche am Südstern in Berlin an einem Augustabend
Die Silhouette der Kirche am Südstern in Berlin an einem AugustabendEmmanuele Contini

Tim Staffel: „Schreiben ist meine Art zu sprechen“

Dass der Roman, den er sozusagen versuchsweise noch schrieb, als er sich für eine andere Tätigkeit entschieden hatte, gleich von einer Agentur und dann einem Verlag angenommen werden würde, hatte er nicht erwartet. Nun muss er seine Erwerbsarbeit mit dem Literaturbetrieb verbinden. „Es ist schon komisch, wieder ein Buch zu haben. Es ist schön.“ Die Worte „Buchpreis“ und „Longlist“ lassen ihn im Gespräch ein bisschen wie den Olli im Roman reagieren, der einfach „hm“ sagt, wenn er nicht reden möchte. Jetzt stehen Lesungstermine und Interviews an. Der Verlag hatte am Montag ein Boot gechartert, um mit Presseleuten und Buchhändlerinnen über die Spree zu tuckern. Es sei ihm schwergefallen, nach Corona wieder in die Normalität einzusteigen, sagt Tim Staffel. „Ich bin nicht viel vor die Tür gegangen. Aber jetzt, na ja.“

Es klingt logisch, wenn ein Schriftsteller sagt: „Schreiben ist meine Art zu sprechen.“ Tim Staffel spricht den Satz allerdings, nachdem wir über die Frage des Berufswechsels und Comebacks schon länger geredet haben. Vielleicht wollte er erst abwarten, wie viel er preisgeben möchte. „In meinem Kopf ist gesprochene Sprache, aber die kann ich nur schreiben“, sagt er. „Im Schreiben habe ich eine Sprache, einen Sound, da kann ich die Dinge, die ich denke, verbalisieren. Ich war dabei, das zu verlieren.“

Das Wort Sound passt ideal, wenn man sich in den Roman „Südstern“ begibt. Der Rhythmus, in dem sich die Liebenden aufeinander zubewegen durch eine Stadt voller versehrter Menschen, der dem Text aus den wechselnden Perspektiven unterlegt ist, erzeugt eine aufregende Stimmung. So ist es hier, ja, Vanessa und Deniz leben als Nachbarn irgendwo in diesen Straßen. Und so ist es hier natürlich auch nicht, denn der Sound bringt die oft schrecklichen Dissonanzen Berlins in einer Weise zusammen, dass sie harmonieren, ein paar Leseabende lang. Tim Staffel sagt, er könne es sich schwer vorstellen, woanders zu wohnen, „Berlin ist für mich immer ein Reibungsort gewesen, kein Wohlfühlort, deshalb auch eine Inspiration“.