Salman Rushdie muss nicht mehr künstlich beatmet werden, er könne sogar wieder sprechen. Mit diesen Informationen aus dem Krankenhaus in Erie, Pennsylvania, beruhigte der Literaturagent Rushdies am späten Sonnabend (Ortszeit) die Öffentlichkeit.
Es war das zweite Mal nach dem Anschlag, dass Andrew Wylie eine Erklärung abgab. Seine erste enthielt vor allem den Satz: „Die Nachrichten sind nicht gut.“ Nach mehreren Operationen war Salman Rushdie noch an ein Beatmungsgerät angeschlossen, er werde wahrscheinlich ein Auge verlieren, seine Leber sei beschädigt und mehrere Nervenbahnen durchtrennt.
Am Freitagvormittag (Ortszeit) wollte Salman Rushdie gerade mit seinem Vortrag in der Chautauqua Institution beginnen, einem Bildungszentrum im Westen des Staates New York, als ein Mann auf die Bühne eilte und ihn dann mit einem Messer angriff. Augenzeugen berichteten, dass sie im ersten Moment glaubten, nur das Mikrofon müsse gerichtet werden. Salman Rushdie ging nach mehreren Stichen zu Boden, Handyvideos zeigen, wie sofort viele Menschen sich bemühten, ihm zu helfen. Ein Hubschrauber brachte ihn in das rund fünfzig Kilometer entfernte Krankenhaus.
Just hours before the attack, Salman Rushdie emailed @PENamerica requesting help finding safe refuge for Ukrainian writers. Over the years he has been devoted to assisting others who are vulnerable and menaced. May he survive this horror.
— Mollie Katzen (@MollieKatzen) August 12, 2022
Es sollte keine Lesung oder Buchvorstellung sein. In der Ankündigung stand, er werde über die Vereinigten Staaten als Asyl für Schriftsteller und andere exilierte Künstler und als Heimat für die Freiheit des kreativen Ausdrucks reden. Im Versuch, Rushdie zu helfen, wurde auch sein Gesprächspartner Henry Reese am Kopf verletzt, er ist Mitbegründer des weltweit größten Aufenthaltsprogramms für Schriftsteller, die im Exil leben und von Verfolgung bedroht sind, der City of Asylum in Pittsburgh.
Schriftsteller sollen Lügen benennen
Politiker vieler Länder, Autoren, unzählige seiner Leser nutzen seither die verschiedensten Möglichkeiten, ihre Sorge auszudrücken und ihre Entrüstung über den brutalen Anschlag. Zwischen diese Nachrichten fiel auch der Tweet der US-Autorin Mollie Katzen: „Wenige Stunden vor dem Attentat schickte Salman Rushdie eine E-Mail an PEN America mit der Bitte um eine sichere Zuflucht für ukrainische Schriftsteller. Im Laufe der Jahre hat er sich der Unterstützung anderer Menschen gewidmet, die verletzlich und bedroht sind. Möge er dieses Grauen überleben.“
Die Art der für Freitag geplanten Veranstaltung, ein Gespräch über Hilfsmöglichkeiten für bedrohte Kollegen ist typisch für Salman Rushdie. Er steht mit seinem Werk für die Kraft und den Zauber der Literatur, er steht mit seinem öffentlichen Engagement für das Recht auf freie Meinungsäußerung, für das demokratische Miteinander. Als er im März 1996 unter Polizeischutz zur Leipziger Buchmesse kam, traf er sich mit dem in DDR inhaftierten und lange Zeit verbotenen Erich Loest. Und er trat zur Pressekonferenz gemeinsam mit einer US-Autorin auf, die Schicksale von Sinti und Roma recherchiert hatte, stellte ihr die erste Frage, um klarzumachen, dass es nicht allein um ihn gehen sollte.
„Ein Gedicht kann eine Kugel nicht aufhalten, ein Roman kann eine Bombe nicht entschärfen“, sagte Salman Rushdie vor ein paar Monaten auf einem internationalen Schriftstellertreffen in New York. Hoffnungslos sei ihre Arbeit dennoch nicht. Sie können „die Wahrheit singen und die Lügen benennen“. Es gehe jetzt darum, „die falschen Erzählungen von Tyrannen, Populisten und Narren zu stürzen, indem wir bessere Geschichten erzählen als sie – Geschichten, in denen die Menschen vielleicht tatsächlich leben wollen“. Man traf sich in Erinnerung an den Weltkongress vom Mai 1939, als die Schriftsteller vor einem drohenden Krieg warnten. „The world is on fire“, die Welt steht in Flammen, hieß es im Jahr 2022 angesichts der Krisen der Gegenwart.
In die Unklarheit des Freitagabends hinein schrieb Salman Rushdies deutscher Verleger Thomas Rathnow: „Klar ist, dass kaum ein Romancier und politischer Intellektueller unserer Zeit sich so glaubhaft für das Recht auf freie Meinungsäußerung eingesetzt hat und dafür so einen hohen persönlichen Preis zahlen musste.“ Der Angriff auf ihn gilt einem freien Geist.
Wir haben es fast vergessen, dass Salman Rushdie, am 19. Juni 1947 in Bombay in einer muslimischen Familie geboren, 1981 für seinen zweiten Roman „Die Mitternachtskinder“ mit dem Booker Prize, der wichtigsten britischen Literaturauszeichnung, bedacht, infolge seines dritten Buches „Die satanischen Verse“ viele Jahre lang in akuter Lebensgefahr schwebte. Er musste sein Zuhause in London verlassen und versteckt leben.
Fatwa gegen Rushdie: fast vier Millionen Kopfgeld
Die Formulierung „infolge seines Buches“ ist falsch: Nicht infolge des Buches, sondern aufgrund der Lesart des im September 1988 erschienen Romans durch Vertreter muslimischer Organisationen. Eines Romans des magischen Realismus, bilderreich, poetisch, sogar komisch, in dem zwei Schauspieler auf wundersame Weise den Terroranschlag auf ein Flugzeug überleben, philosophische Fragen erörtert werden und Episoden aus dem Leben des Propheten Muhammad einfließen. Ein 600-Seiten-Buch ist das, kein gotteslästerliches Manifest.
Am 14. Februar 1989 fällte Ayatollah Khomeini in einer Fatwa gegen den britisch-indischen Autor ein Todesurteil, landesweit im Radio übertragen. Ein nationaler Trauertag zum Protest gegen „Die satanischen Verse“ folgte, dann passierten in verschiedenen Ländern Anschläge gegen Verleger des Buches und auf Buchhandlungen, der Übersetzer der italienischen Ausgabe wurde mit mehreren Messerstichen verletzt, der Übersetzer der japanischen Ausgabe erstochen. Zwar hieß es 1998 seitens der iranischen Regierung, einen Aufruf zur Tötung nicht zu unterstützen. Eine offizielle Zurücknahme gab es nie. Das Kopfgeld für Salman Rushdies wurde von konservativen Medienorganisationen des Landes zuletzt im Jahr 2016 erhöht. Es liegt jetzt bei fast vier Millionen Dollar.
„Manchmal glaube ich, dass sich die Moslems eines Tages für die Taten der heutigen Moslems schämen werden, dass sie die ,Rushdie-Affäre‘ genauso unmöglich finden werden wie der Westen das Verbrennen von Märtyrern“, sagte Salman Rushdie in seiner Rede „1000 Tage im Ballon“. „Eines Tages sind sie vielleicht auch der Meinung, dass Gedankenfreiheit – wie die europäische Aufklärung gezeigt hat – eben auch Freiheit von religiöser Kontrolle, Freiheit vom Vorwurf der Gotteslästerung ist.“ Das war im Dezember 1991, als er in der Columbia-Universität in New York auftrat, überraschend, unter Einhaltung höchster Sicherheitsstandards. „Eines Tages. Vielleicht. Aber nicht heute.“
Was danach passierte und davor, wie er selbst das alles erlebte, die Depression in der Isolation, das Aufwachsen seiner Kinder, wie er überhaupt zum Schriftsteller geworden und unter dem Todesfluch fast um seine Sprache gebracht worden war, das erzählt er seiner Autobiografie. Das 2012 erschienene Buch, brillant geschrieben, sehr klug, sehr überlegt, wenig emotional, aber bewegend, mit starken, manchmal warmherzigen Charakterisierungen von Freunden, Weggefährten, Politikern, heißt „Joseph Anton“ nach seinem Decknamen. Den lieh er sich von verehrten Autoren, Joseph Conrad und Anton Tschechow. Nach dem Umzug in die USA verlor die Bedrohung nach und nach ihre Macht, Salman Rushdie führte ein fast normales Leben.
Rushdies neues Buch erscheint im Frühjahr
Nichts wollte er mehr. Als er im Frühjahr 1999 in Berlin war, um im Haus der Kulturen der Welt vor Publikum mit Roger Willemsen über seinen Roman „Der Boden unter ihren Füßen“ zu sprechen, wird er auch nach der Kritik in den Rezensionen gefragt. Rushdie hatte nichts auszusetzen: „Das zeigt doch, dass ich jetzt wie ein Schriftsteller behandelt werde, dessen Bücher ganz normal von der Kritik auseinandergenommen werden. Man hat die Fatwa vergessen und schreibt endlich über meine Bücher.“
Er kam im selben Jahr noch einmal, um die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin anzunehmen. Er kam 2012 auch zur Vorstellung von „Joseph Anton“ in die Stadt. Und Jahre später, 2017, war er beim Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier eingeladen, um mit Eva Menasse und Daniel Kehlmann zu sprechen, Thema: „Die Freiheit des Denkens in unruhigen Zeiten“.







