Das Wort „Russlanddeutsche“ ist ein Sammelbegriff, der erst seit dem 20. Jahrhundert Anwendung findet. Er bezeichnet die Nachfahren von Siedlern aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa, die sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Regionen des Russischen Reiches niedergelassen hatten. Seit den 50er-Jahren kehren sie als Aussiedler – ab 1993 als Spätaussiedler – in die Bundesrepublik Deutschland zurück. Sie alle verbindet eine gemeinsame Migrationsgeschichte.
Russlanddeutsche, das sind gut integrierte und unauffällige Zuzügler. Sie sind Deutsche, aber mit fremden Kulturen, Religionen und Sprachen. Unsere Mehrheitsgesellschaft weiß wenig über ihre Vielfalt, obwohl über 4,5 Millionen Russlanddeutsche in den vergangenen 72 Jahren nach Deutschland zurückkehrten. Im Jahr 2020 lebten laut Mikrozensus rund 2,5 Millionen Aussiedler und Spätaussiedler im Land. Rund 10 Prozent davon sind Mennoniten. Sie gehören einer evangelischen Freikirche an, die auf die Täuferbewegung der Reformationszeit zurückgeht.
Eine von ihnen ist die Autorin Elina Penner. Wie die meisten Aussiedler und Spätaussiedler kam auch ihre Familie mit dem Zerfall der Sowjetunion in die Bundesrepublik. Im Alter von vier Jahren zog sie 1991 aus der Nähe von Orenburg im heutigen Russland in ein Dorf nahe dem ostwestfälischen Minden. Ihre Muttersprache ist Plautdietsch, eine niederpreußische Varietät des Ostniederdeutschen, die sich im 16. und 17. Jahrhundert im Königlichen Preußen, also im heutigen Polen, herausgebildet hat. Weltweit sprechen etwa 500.000 Menschen Plautdietsch, vornehmlich gläubige Mennoniten – von denen etwa 200.000 hierzulande leben.
Eine Minderheit in der Minderheit
In Deutschland ist die Region Ostwestfalen-Lippe am dichtesten von Mennoniten besiedelt. Dort ließ sich, nach zwei Lageraufenthalten und einem Übergangsheim, auch die Familie von Elina Penner nieder. Russlandmennoniten mit plautdietscher Muttersprache: das ist eine Minderheit in der Minderheit. Russlanddeutsche, Deutsche, ja. Aber ihre Berechtigung zur Heimkehr, die sie als Aussiedler bis 1993 für jedes Familienmitglied nachweisen mussten, wurde von der Gesellschaft stets angezweifelt.
Von dieser komplexen Identität russlanddeutscher Mennoniten zwischen Anpassung und Abgrenzung erzählt Elina Penner nun in ihrem autobiografischen Roman „Nachtbeeren“. Wir treffen uns auf ihrer Premierenlesung in der Berliner Backfabrik. Sie trägt ein leuchtend rotes Kleid, ihre langen blonden Haare sind glattgekämmt. Fast brav wirkt ihre Frisur. Dass das nur ein Eindruck ist und kein Wesenszug, merkt man spätestens, wenn Elina Penner spricht.
Die Bestseller-Autorin Olga Grjasnowa moderiert den Abend. Die beiden Frauen sind Kolleginnen beim Aufbau Verlag. Die Bühne gehört an diesem Abend ganz Elina, sie ist unterhaltsam, und sie weiß um die Faszination ihrer Normalität. Ihre Botschaft wird schnell klar: „Die Hiesigen sind nicht Ohnse, auch wenn wir hier angekommen sind.“ Sie will erzählen, und zwar aus der Perspektive ihrer Gemeinschaft, die sie „Ohnse“ nennt. „Ohnse“, das sind die russlanddeutschen Mennoniten, die Plautdietsch sprechen und Nachtbeeren essen – Früchte einer krautigen Pflanze, die giftig sind, wenn man sie zu früh erntet.
Teil deutscher Geschichte, der viel zu lange fürs Stillsein gelobt wurde
Das Buch ist ein Akt der Emanzipation. Penner befreit sich mit ihrem Debüt von falschen Zuschreibungen wie dem Image des Wodka saufenden Russen, der bösartigen Unterstellung, ein deutscher Schäferhund im Stammbaum hätte den Status als Aussiedler legitimiert oder dem Irrglauben, sie würde Russisch sprechen. Nicht zuletzt will sie dem ewigen Erklären ein Ende setzen. Es geht ihr um die Identität als Minderheit, um Traumata, toxische Männlichkeit, Religion und Sprache. „Es ist nicht mein Leben, von dem ich erzähle.“ Das antwortet Elina auf die Frage, wieviel von ihr selbst in Nelli steckt, der Protagonistin ihres Buches. „Es sind die Geschichten der plautdietschen Mennoniten aus meinem Umfeld, die in den Figuren zusammenfließen.“
Nach der Lesung ist sie viel unterwegs, sodass wir in den Tagen darauf am Telefon Kontakt halten. Sie erzählt von der mennonitischen Geschichte und ihrer Familie, in der sie sehr weltlich orientiert aufwuchs. Ihre Familiengeschichte entdeckt sie selbst erst in ihren 20ern, als sie nach Regensburg zieht, um dort Amerikanistik und Politik zu studieren. Der Wegzug aus dem mennonitischen Umfeld schaffte Berührungspunkte mit der westdeutschen Gesellschaft, die ihr die Marginalisierung der russlanddeutschen Mennoniten vergegenwärtigte. Sie wird es rund zehn Jahre später in einem Interview mit dem russlanddeutschen Podcast X3 („Cha-Se“, russisch für „wer weiß“) so zusammenfassen: „Du gehörst als plautdietscher Mensch zu niemand anderem als zu genau dem, der genauso plautdietsch ist wie du. Es gibt keinen anderen. Ich habe keinen Bezug zur russischen Kultur und zur deutschen Kultur, so wie andere Deutsche, die ich kenne.“
Um ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Familie zu ergründen, besuchte Elina auch das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold. Es ist das bundesweit erste und einzige Museum, das sich der Kulturgeschichte der Russlanddeutschen widmet. Sie beginnt zu verstehen und entschließt sich, diese Themen als Erste einem breiten Publikum nahe zu bringen, nicht mehr leise zu sein. Es soll sowohl ein Denkmal für die Erlebnisse ihrer Familie als auch ein Zugang für ihre Kinder sein, wenn sie beginnen, Fragen zur russlanddeutschen Geschichte ihrer mennonitischen Familie zu stellen.
Auch die Macher des Podcasts „Steppenkinder“, Ira Peter und Edwin Wakentin, haben dieses Ansinnen. Sie wollen aufklären und die Erfahrungen von Aussiedlern und Spätaussiedlern aus postsozialistischen Staaten, die heute in Deutschland leben, öffentlich diskutieren und somit sichtbar machen. Ihre Familien und Leben sind geprägt von den Traumata durch Verfolgung, Repression und Neuanfang. Es ist auch ein Teil deutscher Geschichte, der viel zu lange fürs Stillsein gelobt wurde.
Sowjetdeutsche wurden unter Stalin deportiert
Als Polen Ende des 18. Jahrhunderts aufgeteilt wurde, zählte das Siedlungsgebiet der plautdietschen Mennoniten zwischen Weichsel und Nogat zu Preußen. In der Tradition der Täufer sind sie gegen die Kindstaufe und stützen sich vor allem auf die Bergpredigt aus dem Neuen Testament mit der Aufforderung zu Frieden und Feindesliebe. Ihr Pazifismus widersprach dem preußischen Militarismus. Katharina II., zu dieser Zeit deutschstämmige Zarin in Russland, warb unter anderem mit der Befreiung vom Militärdienst um mennonitische Bauern, die die neu eroberten Gebiete nördlich der Schwarzmeerküste bewirtschaften sollten. So entstanden dort vier Mutterkolonien, die wichtigsten waren Chortitza am Dnepr und Molotschna am gleichnamigen Flüsschen.
Die Familie Penner verschlägt es in die Tochterkolonie Orenburg im Südural, sie entgeht somit dem Stalin-Manifest, das die Deportation aller Sowjetdeutschen aus dem europäischen Teil des Landes im August 1941 im Zuge des deutsch-sowjetischen Krieges befiehlt. Der „Trudarmee“ aber entkommen sie nicht, dem Arbeitslager für die „wehrfähige“ russlanddeutsche Bevölkerung. Ein Trauma, das bis heute nachwirkt.
Die mennonitische Identität stand auch nach dem Krieg landesweit unter doppeltem Druck: Während der Weltkriege wurden die Russlanddeutschen, auch die Mennoniten, in den Konflikt zwischen den Kriegsparteien verwickelt, als innerer Feind betrachtet und als Faschisten denunziert. Mit dem Kommunismus wiederum wurde Religion als „Opium für das Volk“ zum Staatsfeind Nummer eins erklärt.
Die kulturellen und staatlichen Repressionen führten zur Isolation. Aufgrund des abgesonderten Lebens in Kolonieform haben die Mennoniten Russlands über mehrere Generationen die plautdietsche Kultur und die ethnische Homogenität bewahrt. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts konnten sie in Russland noch ohne russische Sprachkenntnisse leben. So wuchsen auch die Eltern von Elina Penner auf, sie lernten Russisch und Hochdeutsch erst in der Schule. Erst ab Ende der 80er-Jahre ergab sich mit Gorbatschows Glasnost und Perestroika eine neue Situation, die vielversprechend für ein freieres Leben war und dazu führte, dass die große Mehrheit der Mennoniten in die Bundesrepublik Deutschland emigrierte.
„Deutschere“ Vornamen nach der Ankunft
In Russland waren die Vorfahren der Familie Penner wegen des deutschen Namens und ihrer Religion angefeindet und verfolgt worden. In Deutschland angekommen, bekamen sie neue Vornamen, die deutscher klangen und bei der Integration helfen sollten. „Namenskastration“ nennen das einige Russlanddeutsche, wenn der sowjetische Namenseintrag in die deutsche Version geändert wird. Sie erhielten den deutschen Pass, Recht auf Arbeit, Sprachkurse und finanzielle Unterstützung. Sie waren heimgekommen und galten doch als Ausländer. Untereinander blieben sie bei den plautdietschen Vornamen.
In ihrem Buch schreibt Penner über eine junge Frau, die an den Traumata zu zerbrechen droht und versucht, sich durch ihren Glauben zu retten. Und über eine Gemeinschaft, die angekommen ist und aneinander festhält, die aber zwischen Anpassung und Abgrenzung weitgehend unsichtbar bleibt. Über diese Divergenz lässt Elina Penner die Romanfigur Eugen Epp sagen: „Schlimmer als Kartoffeln sind die, die so unfassbar gern eine wären.“ Die „Hiesigen“ oder die „Kartoffeln“, wie es im Jargon heißt, sagt Nellis Ehemann im Buch, „stellen die dümmsten Fragen, auch wenn sie einfach nur wissen wollen, welches Fremd du bist“.












