Berlin-Der Berliner Kneipenbesitzer Dieter weiß, wie man mit dem Russen umgeht. Trainingsanzug aus Fliegerseide, ein paar Gläser Wodka und Russenhocke: Das ist die Sprache des Osteuropäers. Kneipen-Dieter spricht und lebt sie. Deswegen schickt die Bundesregierung auch deutsche Diplomaten zu ihm: zur Ausbildung. In ihren Trainingsanzügen üben die Diplomaten, richtig Wodka zu trinken und Russenhocke zu machen (wichtig: Ferse auf dem Boden!). Denn nur so tritt man einem richtigen Russen (also Wladimir Putin und Konsorten) in Verhandlungen gegenüber. Nur mit Härte und Drohungen erreicht Mann Ergebnisse. Ohne Kompromisse, klar.
Kürzlich veröffentlichte das Satireformat „Browser Ballett“ des öffentlich-rechtlichen Jugendprogramms Funk ein Video, das genau das suggeriert. Ein Video, in dem ihr Protagonist, der Kneipenbesitzer „Dieter aus Berlin“, dem deutschen Zuschauern die „russische Mentalität“ nahebringt. Der drohende Krieg mit der Ukraine? Hier wird die Lösung geliefert, wie man Putin in die Schranken weist. Dafür muss der Deutsche nur ein paar Wodka-Shots trinken und hart in der Verhandlung sein. So lässt er sich zähmen, der Russe, der gemeine Slawe. Richtig? Falsch.
Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Auch im Jahr 2022 sind Osteuropäer hierzulande immer noch Ziel stereotypischer Bilder. „Russenwitze“, „ Polenwitze“ und viele andere Jokes über osteuropäische Menschen sind im kollektiven Unterbewusstsein der Deutschen tief verankert. In diesem Text werde ich für Menschen aus dem Osten den Begriff „PostOst“ verwenden. Er schließt alle Menschen osteuropäischen und postsowjetischen Hintergrunds ein.
Fast drei Millionen Russlanddeutsche gibt es bundesweit
Vorurteile gegenüber PostOst-Menschen nehmen die meisten Westeuropäer ohne Widerrede hin. Ja, sie bemerken sie nicht mal. Denn amerikanische Vorurteile, geschürt durch den kalten Krieg, durch Antikommunismus, Antislawismus und nationalsozialistische Ressentiments werden immer noch gelebt und artikuliert. Warum ist das so?
Eigentlich sollte es all das seit Ende des Kalten Kriegs nicht mehr geben. Denn der Kommunismus ist ja schon seit mehr als 30 Jahren besiegt. Die Vorurteile aber sind geblieben. Und sie wuchsen sogar noch mit der Einwanderungswelle von Russlanddeutschen und Juden aus der Sowjetunion in den 90er Jahren. Allein aus meinem Geburtsort Uspenka, einem kleinen Dorf in Kasachstan, 6000 Kilometer von Berlin entfernt, in das Stalin im Zweiten Weltkrieg Wolgadeutsche deportieren ließ, emigrierten mehr als 2000 Menschen nach Deutschland. Ich auch. Heute leben in Deutschland rund drei Millionen ehemalige Aussiedler, Spätaussiedler und jüdische Kontingentsflüchtlinge. Dazu kommen noch weitere russischsprachige Mitmenschen in Deutschland, die keine deutschen Wurzeln haben. Wir reden also nicht von einer kleinen Minderheit.
Nicht nur, dass das Video absolut humorlos und flach ist, es offenbart auch die Doppelmoral in der Debatte um die Identitätspolitik. Würde sich das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen trauen, das gleiche Muster an anderen Migranten anzuwenden? These: Nein, würde es nicht. Seit der Black-Lives-Matter-Bewegung scheint es ein Umdenken bei der Darstellung von Migranten zu geben. Nur eben nicht, wenn es um Osteuropäer geht. Im „Tatort“ haben Putzkräfte immer noch ganz regelmäßig einen russischen Akzent. Prostituierte stammen oftmals aus der Ukraine. Wenn ein Auto gestohlen wird, sind es meistens die Polen. Bei BIPoC oder PoCs würde man sich heutzutage nicht mehr trauen, mit solchen Klischees zu spielen. Zu Recht. Nur: Müsste es diese Sensibilität nicht auch für die anderen ethnischen Gruppen geben?
Auf TikTok, YouTube und Instagram verdient man damit Geld
Dass man in den Sozialen Medien mit antislawischen Ressentiments richtig Geld machen kann, zeigen zum Beispiel unzählige TikTok-Kanäle. Mia Dio aus Florida etwa hat 4,6 Millionen Follower. Die Amerikanerin hat sich das Alter Ego des „Russian Sugarbabe“ ausgesucht, auch wenn sie persönlich in keinerlei Weise einen russischen Hintergrund hat. Regt sich irgendjemand auf, wenn TikTok-Millionärinnen einen russischen Akzent nachahmen, um Ressentiments gegen russische Sugarbabes, die einen reichen Mann suchen, zu monetarisieren?
Auch auf Instagram existieren zahlreiche Seiten, die mit Stereotypen von PostOst-Menschen arbeiten. Mal wird mit dem Vorurteil der vermeintlich hässlichen Plattenbauten gespielt (Squatting Slavs In Tracksuits @squattingslavs, dann gibt es Memes, in denen Partys in osteuropäischen Dörfern denunziert werden (@LR @lookatthisrussia). Die Stereotype sind weit verbreitet. Sie umfassen sämtliche Bereiche der digitale Welt. Und ein weiteres Klischee taucht auf: Die angeblichen Russen in den Videos sind meistens auch noch sturzbetrunken.
Die Erklärung ist simpel: Russen, Polen oder andere PostOst-Menschen handeln in den „Witzen“ oft so, weil sie einfach böse oder primitiv sind. Das wird vorausgesetzt.
Für uns Deutsche macht das vor allem eines schmerzlich deutlich: Es existiert in diesem Punkt keine Aufarbeitung der deutschen Geschichte. Denn in der Rassentheorie der Nationalsozialisten waren Osteuropäer schlicht „Untermenschen“, „furchtbare Kreaturen“, die zwar „menschliche Gesichtszüge“ trügen, jedoch geistig wie seelisch tiefer stünden als jedes Tier. Der Osteuropäer war im Weltbild der Nazis barbarisch, unkultiviert und dumm. Der Deutsche, der Westeuropäer, hingegen ist gebildet, zivilisiert und edel. So zumindest behauptet es ein Lehrbuch des Schulungsamts im SS-Hauptamt.
Der Rassismus der Nazis wirkt immer noch
Diese pseudowissenschaftlichen Stereotypen sind in die Geschichte eingegangen und heute immer noch in der deutschen, westeuropäischen und amerikanischen Kultur präsent. Nämlich: Der Osteuropäer ist und bleibt der saufende, gewalttätige Gegenpart des Westens.
Hans-Christian Petersen, Professor für Migration und Integration der Russlanddeutschen an der Universität Osnabrück, sieht hier eine Kontinuität bei der rassistischen Diskriminierung von PostOst-Menschen: „Antislawismus hat eine lange Tradition. Schon in der Paulskirche gab es in den Protokollen der Reden den Anspruch, eine deutsche kulturelle Mission in Osteuropa durchzuführen. Dieser kulturelle Rassismus mündete dann in einen Prozess der Radikalisierung und später in die Verbrechen der Nationalsozialisten.“ Und das hatte während der Feldzüge der Wehrmacht im Osten dramatische Konsequenzen. In der NS-Zeit sah der Generalplan Ost vor, ganz Osteuropa zu kolonisieren und die Menschen dort zu versklaven.
Auch wenn Nazi-Deutschland den Krieg am Ende verlor: In der Gegenwart erleben postsowjetische Migranten immer noch rassistische Gewalt. Etwa bei einem Attentat im Jahr 2000 in Düsseldorf-Wehrhahn, bei dem zehn Menschen verletzt wurden und eine Frau ihr ungeborenes Kind verlor. Oder der Fall von Kajrat Batesov aus Brandenburg: Er war Russlanddeutscher und wurde 2002 in Wittstock brutal zusammengeschlagen. Er und sein Freund wurden als „Scheißrussen“ beschimpft, während man sie trat und verprügelte. Batesov ist später an den Folgen des rechtsextremen Angriffs gestorben.
Selbst die Kulturbranche spielt mit in diesem fiesen Spiel. Denn obwohl die Gründe für die Diskriminierung allen bekannt sein sollten, sind in Hollywood-Produktionen osteuropäische Menschen bis heute niemals die Protagonisten. Sie sind die klassischen Antagonisten. Ein aktuelles Beispiel ist der US-Blockbuster „Tenet“ von Christopher Nolan, in dem sich der schwarze und der weiße Protagonist gegen den wahnsinnigen Russen verbünden. Auch bei der Netflix-Serie „Emily in Paris“ wird dieses Klischee bedient. Dort wurde es jüngst so negativ überzeichnet, dass sich sogar der Kultusminister der Ukraine, Oleksandr Tkatschenko, einschaltete. Die blonde Petra, die Emily im Französisch-Sprachkurs kennenlernt, kommt aus Kiew; sie erscheint zuerst als schusselig-nette Tandempartnerin, die sich, wie Emily, für Mode interessiert – und klaut dann in einer Boutique Designerkleidung, die heldenhafterweise von der Amerikanerin zurückgebracht wird.
Hollywood spielt gern mit antirussischen Ressentiments
Die Figur der Petra in der Serie zeigt wenig Verständnis; was sie sagt, wird jedoch nicht in Untertiteln wiedergegeben. Das sei eine „beleidigende“ Karikatur, schrieb der ukrainische Kultusminister auf Telegram. Die Figur der Petra, gespielt von der ukrainischen Schauspielerin Daria Panchenko, sei das Abziehbild einer schlecht gekleideten Frau, die Angst vor der Abschiebung habe. „Werden die Ukrainer so im Ausland gesehen?“, fügte er hinzu. Solch eine Darstellung sei nicht nur inakzeptabel, sie sei auch „kränkend“.
PostOst-Menschen nehmen einen eigenartigen Platz in der Vorurteilsstruktur ein. Sie werden als weiß (dabei sind nicht alle PostOst-Menschen weiß) wahrgenommen, und wenn es gut läuft, gelten sie als fleißige Deutsche. Gleichzeitig herrschen massive Vorurteile gegenüber ihren Herkunftsländern. Auch jüdische Kontingentflüchtlinge sind dem Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft ausgesetzt. Hinzu kommt ein schon lange bestehender antislawischer Rassismus. Wenn es gut läuft, gelten PostOst-Menschen als unsichtbar. Bis man sie für ihre Stereotypen missbraucht.
So auch in der Satiresendung „Browser Ballett“ der ARD. Dort gilt: Der Deutsche muss auf die Stufe des Russen hinabsteigen, um mit ihm überhaupt kommunizieren zu können. Denn die Storyline will, dass Russen nicht fähig zu Empathie sind. Sie sind aggressive Alkoholiker.
Was ist das für ein Bild, das hier vermittelt wird? Es ist diskriminierend. Als das Video veröffentlicht wurde, sah man an den Kommentaren auf YouTube, dass die meisten diesem Narrativ zustimmen. Einige aus der PostOst-Community machten auf Social Media darauf aufmerksam. Aber Solidarität kam weder von der deutschen Mehrheitsgesellschaft noch von anderen Migranten. Die Deutschen reagierten auf Twitter mit: „Stellt euch nicht so an. Das ist Satire.“ Solidarität? Fehlanzeige.
Für Black-Lives-Matter gehen Tausende auf die Straße
In den aktuellen Rassismus-Debatten geht es oft nicht darum, wer von Vorurteilen betroffen ist, sondern darum, welche Minderheit das größte Mitspracherecht hat. Es geht um Aufmerksamkeitsökonomie. Damit sabotieren sich Minderheits- und Mehrheitsgesellschaft selbst. Und am Ende profitieren davon rechte Kreise.
Dass es in Deutschland ein Problem mit Osteuropa gibt, sieht man vor allem an der Demonstrationskultur.
Als im Jahr 2020 George Floyd in den USA umgebracht wurde, gingen Tausende auf die Straße, um ihre Solidarität kundzutun. Zu Recht. Als es aber zu Aufständen in Belarus kam, solidarisierte sich kaum jemand auf der Straße mit den Demonstranten. Mit den Osteuropäern, den Belarussen.
Auch die Proteste für Kasachstan wurden dabei vergessen. Als 2022 eine neue Eskalationsstufe des bestehenden Krieges in der Ukraine drohte, demonstrierten etwa 150 Menschen in Berlin. In der Mehrzahl waren es Menschen aus der PostOst-Diaspora. Liegt das daran, dass Osteuropäern in Deutschland immer noch stereotypische Merkmale zugeschrieben werden? Ist es nicht en vogue, sich mit ihnen zu solidarisieren – weil sie für die Demokratie zu barbarisch, zu unzivilisiert sind? Für viele Menschen in der deutschen Dominanzgesellschaft lässt sich Osteuropa perspektivisch nur mit harter Hand regieren. Eine Autokratie erscheint als die einzige denkbare politische Methode für Russland, für die Ukraine und die anderen ehemals sowjetischen Staaten.
Existiert Unterstützung für Menschen in Osteuropa also nur in Form von Satire? Wird durch Satire echte Solidarität oder Empathie erzeugt? Oder existiert Unterstützung nur als vorurteilsbeladener amerikanischer Film? Gibt es eine Empathie für das östliche Europa nach den grausamen Kriegsverbrechen der Nazis? Es scheint nicht so.
Wen interessieren Belarus, Polen, Russland oder die Ukraine? Zu letzterer erhielten die Bundestagsabgeordneten Claudia Roth und Norbert Röttgen tatsächlich ähnliche Reaktionen, wie sie selbst bei „Hart aber fair“ in der ARD konstatierten: „Ich mache uns den Vorwurf, dass es an Empathie für das östliche Europa fehlt“, sagte Roth.
Auch auf Chinesen und Vietnamesen gab es Übergriffe während Corona
Es gibt viel Kritisches zum PostOst-Raum und zum Umgang mit ihm zu sagen. Klischees und Ressentiments zur „russischen Mentalität“ zu reproduzieren, ist keine Lösung. Die in Deutschland gepredigte politisch korrekte Kultur sollte für alle gelten, nicht nur für einzelne Gruppen. Sonst tut man dem osteuropäischen Raum, der während des Zweiten Weltkriegs die höchsten Todeszahlen hatte, noch mehr Unrecht, als das jetzt schon der Fall ist.
Um das zu vermeiden, wäre es notwendig, dass die Leuchttürme der Kultur- und Medienlandschaft auf diese Kritik eingehen und sich überlegen, wie man humoristisch Kritik üben kann, ohne andere Bevölkerungsgruppen zu diskriminieren. Denn: Osteuropäische Menschen sind nicht die einzigen Menschen, die in dieser Debatte unsichtbar gemacht werden. Man könnte auch über den Tellerrand schauen und zum Beispiel den antiasiatischen Rassismus gegen Chinesen oder Vietnamesen während der Corona-Zeit betrachten. Es gibt viel zu tun in der deutschen Gesellschaft.
Die Redaktion des Browser Ballett hat sich inzwischen auf Twitter für das Video entschuldigt: „Wir hoffen, Ihr habt Verständnis dafür, dass wir uns nach der Kritik selbst erstmal eine Haltung zum Vorwurf des Antislawismus erarbeiten mussten.“
