Wie viele Menschen, die im Osten aufgewachsen sind, habe ich ein kompliziertes Verhältnis zur russischen Sprache. Seitdem Russland die ganze Ukraine überfallen hat, ist es noch schwieriger geworden.
Es begann, als ich neun Jahre alt war und auf eine Russischschule kam. Meine Eltern erklärten mir, dass ich dort schon ab der dritten Klasse meine erste Fremdsprache lernen würde, und nicht erst ab der fünften. Die erste Fremdsprache war Russisch, wie für alle Kinder der DDR. Ich hatte sie nie zuvor gehört. Im Unterricht sangen wir Lieder, was mir gefiel. Außerdem war es etwas Besonderes, an einer Russischschule zu sein, mein Schulweg war jetzt länger, ich musste sogar mit der S-Bahn fahren. Natürlich fuhr ich allein, niemand wäre damals auf die Idee gekommen, ein Kind in der dritten Klasse morgens noch zur Schule zu bringen.
Niemand sagte mir, dass Russisch die Sprache war, die meine Oma als Kind gesprochen hatte, die Mutter meines Vaters. Sie hieß Vera, ihre Schwester Valentina. Ich mochte den Klang ihrer Namen. Oma Vera lebte in einem Plattenbau in Rostock und redete selten über ihre Familie. Nach der Wende hörte ich zum ersten Mal das Wort Russlanddeutsche. Mein Vater benutzte es jetzt, um sich und uns die Herkunft seiner Mutter zu erklären, aber viel wusste er darüber nicht. Dass meine Oma in Moskau zur Welt gekommen war, begriff ich erst, als ich ihre Todesanzeige sah.
Russische Texte, aber keine Gespräche
Ich lernte Russisch von der dritten bis zur 13. Klasse. Vor der Wende trafen wir einmal Kinder von Soldaten der Roten Armee, die in Berlin stationiert waren. Wir saßen uns in einem Klassenzimmer gegenüber wie Vertreter von zwei Delegationen und sprachen kaum. Für unsere Seite kann ich sagen, dass es daran lag, dass uns niemand im Russischunterricht beigebracht hatte, wie man ein alltägliches Gespräch führt.
Nach der Wende durften wir entscheiden, ob wir die Sprache weiterlernen wollten. Ich mochte den Unterricht immer noch, vielleicht gerade weil er mir so sinnlos erschien, eine Welt ohne Bezug zu der außerhalb des Klassenzimmers. Wir übersetzten Kurzgeschichten, als wären es Texttafeln in Keilschrift. Ich bekam gute Zensuren, konnte mich aber weiterhin nicht auf Russisch unterhalten. Es störte mich nicht.
Vor ein paar Jahren beschloss ich, das zu ändern. Ich nahm privaten Unterricht, bei einer Politologin und Kunsthistorikerin aus dem Osten der Ukraine, die mir mit viel Geduld beibrachte, wie man kleine Gespräche führt, und später einen Text über die Lage im Donbass mit mir durchnahm. Die Sprache trat mit der echten Welt in Verbindung. Ich wollte nach Russland fahren, dort einen Intensivkurs machen, dann begann die Pandemie. Ich versuchte, mit Apps zu üben, Filme oder Podcasts auf Russisch zu finden.
Seit Russland die gesamte Ukraine überfallen hat, ist das einfacher denn je. In der Mediathek der ARD gibt es eine Dokumentation auf einmal im russischen Original, Arte hat die Serie im Angebot, mit der der ukrainische Präsident Selenskyj einst zum Schauspielstar wurde und in der auch ziemlich viel Russisch gesprochen wird. Viele Menschen aus Charkiw, Mariupol, Odessa sprechen Russisch, wenn sie in den Nachrichten von dem Horror des Krieges erzählen, der ihnen aufgezwungen wurde.


