Essay

Die polnische Regierung missbraucht die Flüchtlingskrise

Polen wird gefeiert, weil das Land ukrainischen Flüchtlingen hilft. Doch für Menschen aus Drittstaaten gilt das nicht; das Rechtssystem wird heimlich umgebaut.

Polens Premierminister Mateusz Morawiecki: Flüchtlinge werden in Polen ungleich behandelt.
Polens Premierminister Mateusz Morawiecki: Flüchtlinge werden in Polen ungleich behandelt.IMAGO/Mateusz Wlodarczyk

Hassan T. (Name geändert) kam mit seiner Familie Ende Oktober 2021 über die Grenze nach Polen. Die Gruppe hatte sich acht Tage lang durch die eiskalten Sümpfe gearbeitet, und als sie von den Mitarbeitern einer polnischen NGO gefunden wurden, waren alle ausgefroren und vollkommen erschöpft. Hassans Schwägerin war krank geworden, weil sie in ihrer Verzweiflung Regenwasser getrunken hatte. Hassan selbst hatte eine Kopfwunde von Schlägen belarussischer Grenzer, die ihn zwingen wollten, zurück über die polnische Grenze zu gehen.

Hassan und seine Familie kommen aus dem kurdischen Teil des Iraks. Sie hatten den Versprechungen eines Reisebüros geglaubt, dass es genüge, nach Belarus zu fliegen, um in die EU zu kommen. Davon, dass Polen die Grenze abgeriegelt hatte und Menschen wie Hassan einfach zurück in die Sümpfe jagen würde, davon, dass die belarussischen Grenzer sie dann zurück Richtung Westen prügeln würden, hatte man ihnen nichts verraten.

Grundfreiheiten sind an der polnisch-belarussischen Grenze ausgesetzt

Als Hassan und seine Familie von polnischen Flüchtlingshelfern aufgelesen wurden, standen sie vor der Wahl: Sie konnten einen Antrag auf internationalen Schutz bei den polnischen Behörden stellen, oder sie würden wieder zurück nach Belarus gejagt. Sie stellten den Antrag. Sie hatten Glück. Nur wenige der vom belarussischen Diktator Aleksander Lukaschenko nach Belarus gelockten und über die Grenze gejagten Migranten haben überhaupt die Chance, einen solchen Antrag zu stellen.

Weil Polens rachitisches Ausländeramt, das für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig ist, nicht genug Kapazitäten hat, hat der Grenzschutz die Anweisung, Migranten an der belarussischen Grenze zurückzujagen. Dadurch erspart sich Polen aufwendige Asylverfahren. Das alles geschieht unter Ausschluss der Öffentlichkeit, denn noch bis Ende Juni gelten im Grenzgebiet umfangreiche Aufenthaltsverbote, etwa für Medien und Nichtregierungsorganisationen.

Helfer dürfen sich nur um solche Flüchtlinge kümmern, die es durch diese Zone schaffen, in der die Grundfreiheiten aufgrund einer Verordnung des Innenministers ausgesetzt sind. Wer dort über die Grenze kommt, ist für Polens Regierung ein „hybrider Krieger Lukaschenkos“ und eine Bedrohung der nationalen Sicherheit. Deshalb entsteht seit Monaten eine riesige Mauer mitten im Nationalpark Białowieża.

An der polnisch-belarussischen Grenze wird eine Mauer gebaut. Hier ein Bild vom Februar 2022 in der Nähe vom polnischen Dorf Tolcze.
An der polnisch-belarussischen Grenze wird eine Mauer gebaut. Hier ein Bild vom Februar 2022 in der Nähe vom polnischen Dorf Tolcze.imago/Piotr Molecki

Polen behandelt die Geflüchteten aus der Ukraine gut

Hassan und seine Familie hatten einfach die falschen Pässe und kamen über die falsche Grenze. Kämen sie jetzt mit einem ukrainischen Pass über die polnisch-ukrainische Grenze, würden die polnischen Grenzschützer sie herzlich begrüßen, Dolmetscher rufen, ihnen Essen und Trinken anbieten und ihnen einen Stempel in den Pass drücken, der sie für anderthalb Jahre mit polnischen Bürgern fast gleichstellt. Denn an der Grenze zur Ukraine zeigt Polen seit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine ein freundliches Gesicht.

Dort tat die gleiche Regierung, die für den Norden den Ausnahmezustand verhängte, etwas, was sie seit 2015 Angela Merkel immer wieder vorgeworfen hatte: Sie öffnete die Grenze und lud die Flüchtlinge ein, ohne das mit irgendjemandem abzusprechen. Innerhalb eines Monats kamen über zwei Millionen Ukrainer über diese Grenze, ein Zehntel davon ist inzwischen nach Deutschland weitergereist.

Polen behandelt sie besser, als Deutschland das mit jenen 800.000 Menschen getan hat, die 2015 kamen. Sie müssen keine Asylanträge stellen, sondern können sofort nach ihrer Registrierung arbeiten, haben ein Recht auf Krankenversicherung und Sozialleistungen und bekommen, so gut es geht, Wohnungen. Sie dürfen auch ihre Kinder in die öffentlichen Schulen schicken.

Bisher gibt es keinen Königsteiner Schlüssel und keine Verteilungsquoten für sie. Sie dürfen EU-weit umsonst reisen und verteilen sich gewissermaßen von selbst. Das klingt human und ist es auch, aber es wäre auch gar nicht anders gegangen, denn keine Behörde der Welt – und das polnische Ausländeramt schon gar nicht – kann so viele Asylanträge gleichzeitig bearbeiten. Zurzeit stehen die Ukrainerinnen mit ihren Kindern schon stundenlang Schlange, um sich zu registrieren, obwohl das pro Person nur eine halbe Stunde dauert.

Die Sperrzone an der polnisch-belarussischen Grenze
Die Sperrzone an der polnisch-belarussischen Grenzedpa

Das doppelmoralische Spiel der polnischen Regierung

Es ist dieses freundliche Gesicht, das jetzt das Image Polens in der Welt prägt. Das gleiche Polen, das 2015 keinen einzigen Flüchtling aus Griechenland und Italien aufnehmen wollte, nimmt jetzt zwei Millionen auf. Aber abseits der rührenden Szenen an der Grenze, abseits der bis zur Erschöpfung arbeitenden Freiwilligen an den Warschauer Bahnhöfen (wo die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine erst einmal landen), abseits all der Großstädter, die dieser Tage ihre Sofaecken, Gästezimmer, Ferienhäuser zur Verfügung stellen, hat diese Geschichte einige dunkle, um nicht zu sagen düstere Aspekte.

Die polnische Regierung heimst zwar gerne in Brüssel und anderen Hauptstädten Lob für ihre neue Flüchtlingspolitik ein, aber die Hauptlast dieser Politik tragen Nichtregierungsorganisationen und die Kommunen, besonders die großen Städte. Die Busse, die Flüchtlinge von der Grenze abholen, die Busse, die sie in die polnische Provinz oder ins Ausland bringen, werden von privaten Unternehmen und ausländischen NGOs gestellt. Die polnischen Helfer arbeiten schon lange über ihr Limit hinaus; vor einer Woche sprach ich mit einer jungen Aserbaidschanerin, die als Übersetzerin an der Grenze arbeitet und in einer Woche gerade mal sechs Stunden geschlafen hatte.

Polen will auf keinen Fall Hilfe bei der Verteilung von Flüchtlingen

Die Regierung hat allen, die Flüchtlinge bei sich unterbringen, einen Pauschalbetrag von 120 Zloty pro Person und Tag versprochen (30 Euro etwa). Hotels und Pensionen, Gemeinden und Privatleute boten Zimmer an, die Zimmer füllten sich, dann verkündete die Regierung, sie zahle nur 40 Zloty (10 Euro). Jetzt müssen alle, die sich darauf eingelassen haben, entweder die Differenz selbst tragen, oder die Flüchtlinge wieder in ein Sammellager schicken.

Eines der größten Sammellager untersteht dem Vertreter der Regierung, dem Woiwoden von Warschau, und befindet sich in einem Fußballstadion. Die Verhältnisse dort sind so schlimm, dass freiwillige Helfer bereits vor dem Ausbruch von Seuchen gewarnt haben. Eigentlich bräuchte es eine Luftbrücke und eine staatliche Koordinationsstelle, mit deren Hilfe Flüchtlinge, die in den Großstädten keine Bleibe mehr finden, in die zahlreichen, noch immer leerstehenden Wohnungen auf dem Lande und in andere EU-Staaten gelangen. Das aber will die Regierung auf jeden Fall vermeiden, denn es wäre genau das, wogegen sie sich 2015 so vehement gewehrt hatte: Verteilung nach einem EU-Schlüssel. Und es wäre das Eingeständnis, dass ihr die Lage über den Kopf wächst.

Ein polnischer Grenzschützer an der polnisch-belarussischen Grenze.
Ein polnischer Grenzschützer an der polnisch-belarussischen Grenze.Wojtek Jargilo/PAP/dpa

Und so geht der Abbau des Rechtsstaats in Polen weiter

Außerdem lässt sich das neue Image trefflich für eine subtile moralische Erpressung der EU verwenden. Seit Tagen verkünden Regierungsmitglieder und Abgeordnete der PiS-Partei, wie unmoralisch es von der EU sei, ein so von Krieg und Migration gebeuteltes Land wie Polen auch noch mit Sanktionen wegen angeblicher Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu belegen.

Mit anderen Worten: Die Verfolgung unbequemer Richter, Verstöße gegen Urteile des EUGH und des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs seien ja wohl Lappalien angesichts von Krieg und Migrationskrise. Das Argument zieht inzwischen sogar bei Oppositionspolitikern. Es lautet: Die EU soll wegen der neuen Lage alle Fonds auszahlen, die sie bisher zurückhält, weil die polnische Regierung die rechtsstaatlichen Voraussetzungen dafür nicht erfüllen will.

Und so geht der Abbau des Rechtsstaats weiter. Während alle, von der EU-Kommission bis zur polnischen Presse, gebannt auf die Kämpfe in der Ukraine starren und die Bürger ihre Dachböden in Flüchtlingsunterkünfte umbauen, ernennt der polnische Staatspräsident reihenweise Regierungsbeamte zu Richtern, die nach einschlägigen EUGH-Urteilen gar nicht das Recht haben, Urteile zu fällen, weil das Gremium, das sie ausgewählt hat, nach der polnischen Verfassung nicht dazu berechtigt ist. Und jedes Mal, wenn der EUGH und der Straßburger Gerichtshof ein Urteil fällen, das der Regierung nicht gefällt, lässt sie es vom polnischen Verfassungsgericht, das dazu gar nicht befugt ist, für verfassungswidrig erklären. Das ist eine Praxis, die es in dieser Ausführung bisher nur in zwei europäischen Staaten gab: in Polen und in Russland.

Während Flüchtlinge aus Drittstaaten Polen innerhalb von zwei Wochen verlassen müssen, werden ukrainische Flüchtlinge in Polen bedingungslos willkommen geheißen. Hier eine Szene aus dem Warschauer Hauptbahnhof.
Während Flüchtlinge aus Drittstaaten Polen innerhalb von zwei Wochen verlassen müssen, werden ukrainische Flüchtlinge in Polen bedingungslos willkommen geheißen. Hier eine Szene aus dem Warschauer Hauptbahnhof.imago/Aleksander Kalka

Menschen mit nicht-ukrainischem Pass sind Flüchtlinge zweiter Klasse

Gäbe es in Polen noch einen funktionierenden Grundrechtsschutz, wäre es kaum möglich, ein derart diskriminierendes System von Flüchtlingssegregation zu errichten, wie es derzeit in Kraft ist. In diesem System gibt es eine klare Hierarchie: Ganz oben stehen Flüchtlinge, die aus der Ukraine kommen und ukrainische Pässe haben. Sie dürfen bleiben und haben fast die gleichen Rechte wie polnische Staatsbürger.

Danach kommen Flüchtlinge aus der Ukraine, die keine ukrainischen Dokumente haben, zum Beispiel, weil sie in der Ukraine nur studiert oder gearbeitet haben, als sie die russische Invasion überraschte. Auch sie werden nun – nach anfänglichen Problemen – nach Polen gelassen, müssen das Land aber binnen zwei Wochen wieder verlassen und haben keine weiteren Rechte.

Ukrainische Geflüchtete essen eine warme Suppe am Bahnhof von Przemysl.
Ukrainische Geflüchtete essen eine warme Suppe am Bahnhof von Przemysl.AP

Viele Flüchtlinge werden wieder abgeschoben

Da die Ukraine das jus soli anwendet (Ukrainer ist, wer in der Ukraine geboren ist), Polen aber das jus sanguinis (Pole ist, wer polnische Vorfahren hat), kann es passieren, dass die Eltern unter das erste Regime und die Kinder unter das zweite fallen. Dann haben die Kinder als ukrainische Bürger die gleichen Rechte wie polnische Kinder, ihre Eltern mit einer nicht-ukrainischen Staatsbürgerschaft müssen Polen aber nach zwei Wochen verlassen.

Und ganz unten in dieser Hierarchie stehen Menschen, die mit dem falschen Pass über die falsche Grenze (also die polnisch-belarussische) kommen – Menschen wie Hassan. Manche, die aus Syrien oder dem Jemen kommen, fliehen auch vor einem Krieg und manchmal sogar vor den gleichen russischen Bomben wie ihre ukrainischen Leidensgenossen, aber für sie gibt es keine Gnade, nicht in Polen, aber auch nicht in Deutschland, wenn sie es bis dahin schaffen. Denn das Dublin-System sorgt dafür, dass solche Kriegsflüchtlinge sofort nach Polen abgeschoben werden, obwohl ihre Chance auf Schutz dort um ein Vielfaches geringer ist.

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (mitte-links) und PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski sind mit dem Zug nach Kiew gefahren. Während sie der Ukraine helfen, baut die polnische Regierung den Rechtsstaat um.
Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (mitte-links) und PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski sind mit dem Zug nach Kiew gefahren. Während sie der Ukraine helfen, baut die polnische Regierung den Rechtsstaat um.Mateusz Morawiecki via Twitter

Das BAMF tut so, als habe sich seit dem 24. Februar nichts geändert

So ging es auch Hassan und seiner Familie. Nach einem Aufenthalt in einem gefängnisähnlichen Flüchtlingslager schlugen sie sich nach Deutschland durch. Doch weil sie bereits in Polen mit ihrem Antrag auf Schutz registriert waren, schickte sie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wieder zurück nach Polen. Nach gängiger Praxis geschieht das auch mit all den anderen, die den Marsch durch die Sümpfe des polnisch-belarussischen Grenzgebiets überleben.

Vor dem 24. Februar konnte man das noch mit Mühe und Not auf die Fiktion von Belarus als einem sicheren Drittland stützen, obwohl es dort weder faire Asylverfahren noch unabhängige Gerichte gibt und Rückkehrern Prügel und Folter von belarussischen Grenzschützern drohen. Nun aber sind diese Push-Backs der polnischen Behörden und die Praxis des BAMF noch fragwürdiger geworden, denn seit dem 24. Februar ist Belarus nicht nur eine brutale Diktatur und ein Polizeistaat, sondern auch ein gegen die Ukraine kriegführendes Land.

Dass Lukaschenko noch keine eigenen Soldaten über die Grenze geschickt hat, ändert daran nichts: Russische Truppen sind aus Belarus in die Ukraine einmarschiert und feuern von belarussischem Gebiet aus Raketen auf ukrainische Städte ab. Seit dem 24. Februar jagt der gleiche polnische Grenzschutz, der in Przemyśl Kriegsflüchtlinge mit Tee und Gebäck begrüßt, andere Kriegsflüchtlinge bei Białystok zurück in ein Kriegsgebiet. Und das BAMF tut so, als habe sich seit dem 24. Februar nichts geändert.

Das Rechtssystem funktioniert nicht

So steht es auch im Bescheid zu Hassan und seiner Familie: Da sie ja aus freien Stücken einen Asylantrag in Polen gestellt hätten, würden sie auch nach Polen zurückgeschickt. Das klingt ganz so, als sei Polen ein funktionierender Rechtsstaat, in dem Hassan und seine Familie ein faires Asylverfahren und ein Prozess vor unabhängigen Richtern erwarte und als hätten sie ihren Antrag in Polen aus freien Stücken gestellt und nicht, um Misshandlungen durch polnische und belarussische Grenzer oder sogar dem Tod in den Sümpfen zu entgehen.

Nach geltender Rechtsprechung des EUGH muss jedes europäische Gericht seit 2017 bei Auslieferungsverfahren innerhalb der EU genau prüfen, ob sich die Rechtsstaatsprobleme Polens negativ auf die Rechte eines Auszuliefernden auswirken können. Ist das der Fall, darf nicht ausgeliefert werden. Für Flüchtlinge gilt dieser Standard nicht: Sie können nach Polen zurückgeschickt werden ohne Prüfung, ob sie dort ein faires Verfahren erwartet, obwohl ihnen keinerlei Vergehen zur Last gelegt werden.

Klaus Bachmann ist Professor für Sozialwissenschaften an der privaten SWPS Universität in Warschau, wo er sich mit Demokratisierung, internationaler Strafjustiz und Kolonialismus beschäftigt. Er forschte und lehrte in Südafrika, Frankreich, Österreich, den USA und China und war bis 2001 Osteuropakorrespondent in Warschau, Vilnius, Kiew und Minsk.

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