Russland als Staat und Wladimir Putin als Präsident und faktischer Alleinherrscher im Kreml haben mit dem umfassenden Einmarsch in der Ukraine die Charta der Vereinten Nationen, das Budapester Memorandum (aufgrund dessen die Ukraine in den 1990er-Jahren ihre von der Sowjetunion geerbten Atomwaffen auf westlichen Druck Russland überließ) und eine Reihe anderer bilateraler und internationaler Abkommen verletzt. Und sie haben Deutschland aus einem dreißigjährigen Dornröschenschlaf geweckt, der davon handelte, wie man aggressive Diktaturen durch Handel und Dialogbereitschaft domestizieren kann.
Hilflos stehen wir vor einer Lage, in der Krieg eben doch ein Mittel der Politik ist, und fordern, den Übeltäter hart zu bestrafen – mit Sanktionen, die ihm und seinem Land maximal schaden. Das ist psychologisch verständlich, denn es reduziert das Gefühl der Hilflosigkeit, erlaubt ratlosen Politikern, ihre Entschlossenheit zu demonstrieren und „etwas“ zu tun. Medien, Wähler, Experten sind sich einig: „Etwas“ muss man tun. Also sollen Sanktionen verhängt werden. Es ist nur nicht klar, was damit beim Täter erreicht werden soll. Soll er einfach nur ebenfalls leiden, soll er von weiterer Eskalation abgehalten werden, soll Russland so geschwächt werden, dass es seine Truppen zurückzieht oder wenigstens an der ukrainischen Grenze stehen bleibt?
„Harte Sanktionen“ gegen Russland werden es nicht werden
Wenn Sanktionen westliche Hilflosigkeit kaschieren sollen, können sie nur symbolisch bleiben, so wie nach der Annexion der Krim und der Besetzung des Donbass durch russische Freischärler. In diesem Fall braucht man sie nur so lange, bis der Krieg gegen die Ukraine in der Öffentlichkeit von anderen Ereignissen verdeckt wird und unsere Politiker wieder als handlungsfähig und vertrauenswürdig erscheinen. Es wäre dann auch hilfreich, wenn uns russische Politiker weiterhin anlügen würden, wie unangenehm ihnen unsere Sanktionen seien. Das würde den Eindruck der Hilfslosigkeit sehr abschwächen und die Abschaffung der Sanktionen beschleunigen.
Die „härtesten Sanktionen aller Zeiten“, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte, werden es ohnehin nicht werden. Solche wurden gegen den Iran und Nordkorea verhängt, die beide unter enormen Handelsbeschränkungen leiden und vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten sind. Und trotzdem haben diese Sanktionen das iranische Atomprogramm nur verzögert und das nordkoreanische nicht einmal aufgehalten. Strafe und Strafandrohung funktionieren in der internationalen Politik viel schlechter als im innerstaatlichen Bereich. Selbst dort schreckt Strafe meist nur dann ab, wenn sie für den Täter als unvermeidlich erscheint und die Vorteile seines Verbrechens mindestens aufwiegt.
Jeder Aggressor hat zwei Möglichkeiten, auf Widerstand zu reagieren
Das ist auf internationaler Ebene fast nie gegeben. Für Aggressoren ist die Perspektive, irgendwann in der Zukunft vielleicht irgendwie bestraft zu werden, zu weit entfernt und zu abstrakt, um sie von ihrer Aggression abzuhalten. Selbst in Fällen, in denen die Aussicht auf Strafe absehbar war, hat es das schwerste Verbrechen nicht verhindert: das Massaker von Srebrenica. Der erste Völkermord in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg fand statt, obwohl zu dieser Zeit bereits das Jugoslawientribunal seine Arbeit aufgenommen hatte und in Bosnien westliche Truppen standen, die gegen die Täter vorgehen konnten. Härteste Sanktionen und ein UN-Waffenembargo haben das Regime von Umar Al-Bashir, des vor kurzem gestürzten Präsidenten des Sudan, nicht am Völkermord in Darfur gehindert. Auch die Kosten-Nutzen-Rechnung sieht bei Tätern auf staatlicher Ebene ganz anders aus als bei gewöhnlichen Verbrechern. Gibt es Sanktionen, deren Kosten den Wert von Russlands Eroberungen in Georgien und in der Ukraine übersteigen?
Wenn Sanktionen als Strafe nicht abschrecken, wozu werden sie dann eingesetzt? Man müsse Putin „in die Schranken weisen“, denn „er schrecke nur vor Gewalt zurück“, heißt es häufig mit Verweis auf die Appeasement-Politik Großbritanniens gegenüber Hitler 1938. Das Argument unterstellt, dass Aggressoren sich von entschlossenem Widerstand aufhalten lassen. In München 1938 gab es das nicht, und Hitler überfiel die Tschechoslowakei. Ob die Geschichte anders verlaufen wäre, wäre Chamberlain anders aufgetreten, wissen wir nicht. Jeder Aggressor hat zwei Möglichkeiten, mit Widerstand umzugehen.
Die Nebenwirkungen von Sanktionen
Er kann sich zurückziehen, oder er kann eskalieren. Als die Nato 1999 Jugoslawien bombardierte, um Slobodan Milosevic zum Rückzug aus dem Kosovo zu zwingen, lenkte er nach drei Monaten ein. Aber zuerst eskalierte er mit der Massenvertreibung der Kosovo-Albaner. Auch Putin hat bisher immer eskaliert: Nach den eher symbolischen Sanktionen, die auf seine Angriffe auf den Donbass und die Krim folgten, intervenierte Russland in Syrien und half mit den Bombardierungen dort mit, die Flüchtlingswelle von 2015 in Gang zu setzen. Nun sind seine Söldner in Mali, was allerdings nicht dazu geführt hat, dass Frankreich, Deutschland oder die USA ihnen dort die Stirn bieten – im Gegenteil, Frankreich zieht seine Truppen ab, und die Bundesregierung erwägt, das Gleiche zu tun. Woher also kommt der Glaube, man könne Russland in der Ukraine stoppen, in Mali aber nicht?
Gegner weiterer Sanktionen argumentieren gerne mit den Rückwirkungen auf die eigene Wirtschaft. Tatsächlich ist eine Eskalationsspirale aus Aufrüstung und Sanktionen für beide Seiten nachteilig, genau wie ein Rüstungswettlauf. Aber das ist nicht alles. Sie können auch zu eher unerwarteten Nebenwirkungen führen.
Jugoslawien und alle Teilrepubliken, die sich von ihm abspalteten, standen über die ganze Zeit des Konflikts unter einem UN-Waffen-Embargo, das damals die USA mit Hilfe des Iran umgingen, um Kroatien und Bosnien aufzurüsten. In Serbien funktionierte das Embargo einigermaßen, doch gerade weil es wichtige Rohstoffe verknappte, machte es eine mit dem Geheimdienst verbandelte Mafia reich und mächtig, die unter Milosevic Embargo-Güter ins Land schmuggelte und nach Milosevics Sturz das Land erfolgreich destabilisierte. 2003 verübten ihre Mitglieder das Attentat auf den demokratischen und prowestlichen Premierminister Zoran Djindjic.
Wer mit Sanktionen etwas erzwingen will, braucht einen langen Atem
Sanktionen haben vor allem Sinn, wenn es ihr Ziel ist, die Gegenseite wieder an den Verhandlungstisch zu bringen oder sie zum Rückzug zu zwingen, weil sie nicht mehr weiter eskalieren kann. Letzteres trifft auf Milosevics Einlenken 1999 zu, als sein Land international isoliert und wirtschaftlich ruiniert war. Auch die Sanktionen gegen Südafrika unter der Apartheid waren relativ erfolgreich. Unter ihrem Druck begann die Regierung, Verhandlungen mit der Opposition zu führen und vereinbarte acht Jahre später einen friedlichen Machtwechsel.
Nur gibt es keinen vergleichbaren Druck von unten in Russland, das – anders als Südafrika – weitgehend autark und hochgerüstet ist. Russland hat selbst unterhalb der atomaren Schwelle fast unbegrenzte Eskalationsmöglichkeiten: Es kann Flüchtlingsströme auslösen wie in Syrien. Es kann aus dem Atomwaffensperrvertrag aussteigen, worauf dann unter Umständen Atomwaffen in Venezuela, auf Kuba und in anderen, den USA und Westeuropa wenig geneigten Ländern aufgestellt werden.
Und es kann viele Sanktionen über seine Verbündeten oder Drittstaaten wie China umgehen. Auch deshalb ist die Lage nicht mit dem Kalten Krieg vergleichbar. Damals gab es zwei Blöcke, heute gibt es fünf oder sechs globale Großmächte. China kann mit seinen nahezu unerschöpflichen Devisenreserven fast jede wirtschaftliche Sanktion und jedes Embargo der USA gegen Russland ausgleichen. Wer mit Sanktionen Verhandlungen erzwingen will, braucht einen sehr langen Atem.
Welche Kosten eine harte Strategie für Europa hätte
Und er muss sich verabschieden von der Vorstellung, er könne mit Sanktionen Aggressoren „in die Schranken weisen“. In den letzten Jahren und Monaten hat Putin versucht, Verhandlungen über den Status quo in Europa, der ihm missfiel, militärisch zu erzwingen. Jetzt ist er dabei, diesen Status quo zu seinen Gunsten einseitig zu verändern. Wenn es zu Verhandlungen kommen soll, muss der Westen nun seinerseits den Status quo so stark verändern, dass die Nachteile, die Russland dadurch hat, die Vorteile aus der Eroberung der Ukraine ausgleichen, und zugleich deutlich machen, dass diese Nachteile aufgehoben werden, wenn es zu erfolgreichen Verhandlungen kommt.
Das ist möglich, aber zumindest in Europa kaum durchsetzbar. Der Westen hat die Möglichkeit, diesen Krieg für Russland so kostspielig zu machen wie nach 1979 den Krieg der Sowjetunion gegen Afghanistan, vorausgesetzt, die ukrainische Armee hält lange genug durch, um die notwendigen Waffenlieferungen abnehmen zu können. Mit einer Politik aus harten Wirtschaftssanktionen und einer Aufrüstung der Ukraine kann man Russland vermutlich in die Knie zwingen, aber die Kosten und Härten für Europa werden ungleich höher sein als in Afghanistan. Dort wurden die Flüchtlinge vor allem von den unmittelbaren Nachbarn aufgenommen, und kein westlicher Staat grenzte an das Kriegsgebiet.
Bei einem ähnlichen Szenario in Europa wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Am Ende ist Russland zu Verhandlungen bereit, die Ukraine ähnelt Afghanistan, und der neue Status quo, der dann ausgehandelt wird, dürfte Putins Vorstellungen mit Sicherheit mehr entsprechen als die Lage von vor einer Woche.
Klaus Bachmann ist Professor für Sozialwissenschaften an der privaten SWPS Universität in Warschau, wo er sich mit Demokratisierung, Internationaler Strafjustiz und Kolonialismus beschäftigt. Er forschte und lehrte in Südafrika, Frankreich, Österreich, den USA und China und war bis 2001 Osteuropakorrespondent in Warschau, Vilnius, Kiew und Minsk.
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