Zu klagen gibt es immer etwas. Klagen gehören zur Politik wie der Topf zum Deckel. Wann hat die deutsche Industrie mal nicht geklagt? Mal nicht davor gewarnt, dass Deutschland wieder „der kranke Mann Europas“ wird? Geklagt wird immer, schließlich lässt sich damit die Regierung unter Druck setzen.
Das Klagelied über Fachkräftemangel, hohe Steuern und lästige Bürokratie stimmt die Industrie seit mindestens zehn Jahren an. Genauer gesagt: die Verbandsvertreter der Industrie, die fürs laute Klagen von der Industrie bezahlt werden – und viel Geld verdienen. Einer von ihnen ist zum Beispiel Siegfried Russwurm, der im November zum Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) wiedergewählt wurde. Niedrigere Steuern, weniger Bürokratie, höhere Subventionen: Die Liste seiner Wünsche ist lang, fast unerschöpflich.
Abwanderung? Ohne seine Industrie ginge es Deutschland viel schlechter
Das ist die eine Seite. Die andere ist: Die Industrie ist wichtig für Deutschland. Rund 30 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung kamen 2022 aus der Industrie – und jeder zweite Euro, den Deutschland im Exportgeschäft verdient. Etwas mehr als zehn Millionen Jobs hängen an der Produktion, häufig gewerkschaftlich organisiert und mit guten Tariflöhnen. Entsprechend groß war der Jubel bei Gewerkschaften darüber, dass der amerikanische Chiphersteller Intel mit zehn Milliarden Euro staatlichen Subventionen zur Ansiedlung nach Magdeburg gelockt wurde.
Zweifellos: Ohne Industrie ginge es Deutschland schlechter. Laute Klagen über ihren schlechten Zustand oder Abwanderungsdrohungen fallen deshalb auf fruchtbaren Boden. Um zwischen überzogener Panikmache und berechtigten Forderungen zu unterscheiden, schauen wir uns mal vier Fakten an.
Fakt 1: Deutsche Industrie stagniert schon seit einem Jahrzehnt
Deutschlands Industrie produziert derzeit gerade einmal so viel wie vor zehn Jahren. Schaut man beim Statistischen Bundesamt auf den Produktionsindex, sieht man eine lange flache Kurve. 2018 ging es mal ein paar Prozent hoch, während der Corona-Pandemie schnell herunter und wieder hoch; ansonsten ist der Produktionsindex ein Krebs, der nur seitwärts läuft.
Schaut man genauer rein, gibt es zwei bemerkenswerte Ausreißer: Die Bauindustrie lief bis zu den Zinserhöhungen im Sommer 2022 deutlich besser, lag 15 Prozent über dem Niveau von 2013; die energieintensive Industrie hingegen läuft seit dem Ukraine-Krieg deutlich schlechter und liegt heute fast 20 Prozent unter dem Niveau von 2013. Am härtesten getroffen ist die Chemiebranche. Hohe Energiepreise sind für sie die größte Last – und gerade Deutschlands größtes Standortrisiko.
Der Blick aufs große Ganze verrät jedoch: Weder Jubelstimmung noch Panikmache sind angebracht. Trotz all der Klagen ist die Industrie in Deutschland stabil. Entwickelte Länder sind übrigens selten die Werkbank der Welt. Jeder weiß: Billige Massenproduktion hat Deutschland in vielen Branchen längst an China, Bangladesch und andere verloren, ist dadurch aber reicher geworden. Die Frage ist also nicht, wie viel Industrie Deutschland hat, sondern welche.
Fakt 2: Investitionen fließen aus Deutschland heraus
Warnsignale gibt es trotzdem. Letztes Jahr flossen laut einer IW-Studie 125 Milliarden Euro mehr Direktinvestionen aus Deutschland ab, als nach Deutschland hineingeflossen sind. Negativrekord unter den entwickelten Volkswirtschaften!
Zwei Beispiele sind prominent: BASF streicht Stellen in Ludwigshafen und investiert zehn Milliarden in China; Corona-Gewinner Biontech zieht mit der Krebsforschung nach Großbritannien, statt in Deutschland zu investieren. Auf der anderen Seite sind lediglich 10,5 Milliarden Euro von ausländischen Firmen in deutsche Standorte investiert worden. Zum Vergleich: In den fünf Jahren davor waren es jährlich rund 50 Milliarden.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) würden wohl sagen: „War halt Krieg und Krise.“ Und von 2023 an soll sich das wieder ändern. Allein das Leuchtturmprojekt Intel bringt 30 Milliarden Euro. Dazu kommen Zulieferer für das Halbleitergeschäft, die es in Intels Windschatten nach Deutschland zieht. Habeck erwähnte schon öfter eine Liste mit Großprojekten, die im Wirtschaftsministerium geführt wird.
Fakt 3: Ganz Deutschland ist im Investitionsstau
Achtung, Binsenweisheit: Ein Land, das nicht investiert, kommt nicht voran. In Deutschland wurde die letzten 30 Jahre viel zu wenig investiert, wie Zahlen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) belegen. Kurz nach der Deutschen Einheit lagen die Unternehmnsinvestitionen bei rund 16 Prozent der Wirtschaftsleistung, die staatlichen bei 3,3 Prozent. Danach ist beides gefallen, Unternehmensinvestitioen auf ihren Tiefpunkt von 11,9 Prozent, staatliche auf 1,9 Prozent. Letztes Jahr lagen die Werte bei 12,4 und 2,7 Prozent.
Das Land ist nicht moderner geworden, sondern wurde auf Verschleiß gefahren. Die gesamte öffentliche Infrastruktur – von der Straße bis zur Turnhalle – ist heute rund 100 Milliarden weniger wert als vor 20 Jahren. Dabei bedingen sich öffentliche und private Investitionen. Eine gute öffentliche Infrastruktur ist ein wichtiger Standortfaktor und lockt private Investoren an. Um den Stau zu lösen, sollte der Staat also in die Vollen gehen. Ein Blick in den Bundeshaushalt 2024 verrät allerdings: Damit ist nicht zu rechnen.
Fakt 4: Bald rutscht Deutschland im Patentranking hinter China
Die Zahl der Patentanmeldungen ist ein guter Gradmesser für die Innovationskraft einer Wirtschaft. Gutes Zeichen: Deutschland hat zwar weltweit nur die viertgrößte Volkswirtschaft, ist aber auf der Rangliste der Patentanmeldungen auf Platz zwei, deutlich hinter den USA.
Schlechtes Zeichen: Deutschland rutscht ab. Nicht nur sind die Patentzahlen rückläufig, auch schwindet der Anteil deutscher Patente an den Gesamtanmeldungen – und zwar nach Angaben des Europäischen Patentamts in den letzten zehn Jahren von 17,9 auf 12,8 Prozent. Die anderen holen auf, während Deutschland stagniert. Zum Vergleich: China hatte noch 2013 nur rund 4000 Patente angemeldet, letztes Jahr schon 19.000. Bald zieht China an Deutschland vorbei.
Ein Hoffnungsschimmer zum Schluss: Siemens, die deutsche Nummer eins in Patentanmeldungen, hat letzte Woche erst angekündigt, eine Milliarde Euro in Deutschland zu investieren, allein 500 Millionen in einen neuen Campus für Entwicklung und Hightech in Erlangen.





