Geopolitik

„Deutschland droht der industrielle Abstieg, mit enormen sozialen Verwerfungen“

Ohne eine enge Achse mit China müsste sich Deutschland neu erfinden – doch hat das Land noch die Kraft dazu?

Bundeskanzler Olaf Scholz (Mitte r.) und der chinesische Ministerpräsident Li Qiang (Mitte l.) beim Gruppenbild mit den Kabinettsmitgliedern. 
Bundeskanzler Olaf Scholz (Mitte r.) und der chinesische Ministerpräsident Li Qiang (Mitte l.) beim Gruppenbild mit den Kabinettsmitgliedern. Michael Kappeler/dpa

Sevim Dagdelen äußert sich voller Respekt: „Was mich am meisten beindruckt hat, war die Klugheit meiner Gesprächspartner.“ Die Abgeordnete von der Linkspartei ist soeben von einer ausgiebigen Chinareise zurückgekehrt. Dagdelen, die auch Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags sowie der Parlamentarischen Versammlung der Nato und Teilnehmerin am deutsch-amerikanischen Dialog über China ist, hat bei ihrem Aufenthalt mit Politikern, Bankern und Ökonomen, Professoren und Studenten gesprochen. Sie hat Vorträge gehalten, sich in der deutsch-chinesischen Start-up-Szene umgetan und die deutschen Flaggschiffe Bosch und Kuka Robotics besucht. Dagdelen sagt der Berliner Zeitung, sie habe, entgegen der vielfach im Westen kolportierten Darstellung, „niemanden erlebt, der auf eine Konfrontation mit dem Westen setzt“: „Im Gegenteil. Die Studierenden etwa sind sehr interessiert an Deutschland und Europa. Doch man spürt schon, dass das China-Bashing des Westens die wissenschaftlichen Kontakte erschwert. Professoren und Studenten sind irritiert.“

Die Irritationen sind auch auf der höchsten politischen Ebene zu beobachten. Nach langen Monaten der faktisch unterbrochenen Gesprächskanäle zwischen Washington und Peking besuchte der amerikanische Außenminister Antony Blinken dieser Tage Peking. Er wurde sogar von Staatspräsident Xi Jinping empfangen – eine großzügige Geste, die laut dem diplomatischen Protokoll nicht nötig gewesen wäre. Doch schon kurz nach dem Treffen gab es den nächsten Rückschlag. Präsident Joe Biden bezeichnete Xi unverblümt als Diktator und machte sich über ihn lustig. Die Verstimmung in Peking ist deutlich zu vernehmen: „Sie müssen Biden fragen, warum er so etwas sagt, während er versucht, die Beziehung zu verbessern“, sagt einer der führenden Militärexperten Chinas, Oberst Zhou Bo, Fellow am Institut für Internationale Sicherheit und Strategie der Universität Tsinghua, der Berliner Zeitung. Zhou sagte, Blinkens Besuch sei „nützlich, wenn auch nicht ganz fruchtbar“ gewesen. Dies sei angesichts der aktuellen Situation in den bilateralen Beziehungen verständlich. Für „zwei Großmächte sollte diese Art der Interaktion die Regel“ sein, auch zur „Erleichterung für andere Länder sein, die besorgt zusehen“.

Allerdings scheinen die Zeichen doch eher auf Konfrontation zu stehen. „China rechnet mit weiteren massiven Wirtschaftssanktionen der USA und bereitet sich darauf vor“, sagt Dagdelen und erklärt: „China will Austausch und Zusammenarbeit. Doch China sieht die aktuelle Militarisierung im Indo-Pazifik, die Errichtung eines Nato-Büros in Japan, die Waffenlieferungen nach Taiwan als Bedrohung.“ Hinzu kommen Maßnahmen, die eine Kommunikation zur „Risikovermeidung“, wie Oberst Zhou sagt, auch strukturell faktisch unmöglich machen. So hatte die amerikanische Regierung Sanktionen gegen den Verteidigungsminister Li Shangfu verhängt – ein Schritt, der die Chinesen besonders verärgert. Oberst Zhou: „Dies wird die Beziehungen zwischen Militär und Militär in den nächsten fünf Jahren äußerst schwierig machen, da er fünf Jahre lang in seiner Position tätig sein wird. Solange die Sanktionen bestehen, kann er die Vereinigten Staaten nicht besuchen, und er wird nicht in der Lage sein, den amerikanischen Verteidigungsminister zu einem Besuch in China einzuladen. Gegen diese absurde Sanktion kann China nichts tun.“ Die USA müssten die Sanktion aufheben, was nach Zhous Einschätzung leicht möglich wäre, „weil es sich um eine Durchführungsverordnung handelt, die innerhalb der Möglichkeiten und Befugnisse der US-Administration liegt“.

Dagdelen glaubt, dass diese Politik kontraproduktiv sei: „Wenn man denkt, man kann China herumschubsen, in einer Art Oberlehrermanier, das kommt nicht gut an.“ Denn in China herrsche mittlerweile ein neues Selbstbewusstsein. Nicht alles, was der Westen zu bieten hat, wird als erstrebenswert angesehen. Vor allem ein Blick in die Geschichte führt zu einer gewissen Distanz. Sevim Dagdelen: „Die Kolonialgeschichte war bei allen Gesprächspartnern präsent. Sie haben ein Bewusstsein dafür, dass China von der Unterjochung – auch durch Deutschland – zur Unabhängigkeit gekommen ist. Das ist sehr identitätsstiftend.“

China hat sich daher an die Spitze einer Bewegung gesetzt, die ein neues Gleichgewicht in der Welt herstellen soll. Peking sieht sich als Sprecher des „globalen Südens“, der auf Augenhöhe mit dem Westen sprechen will. Besonderen Ausdruck findet dieses Bestreben in einer Stärkung der BRICS-Staaten – einem losen Zusammenschluss von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Neuerdings bekunden zahlreiche Staaten ihr Interesse, dem Bunde beizutreten. Saudi-Arabien, der Iran oder Argentinien sollen bereits materielle Beitrittsabsichten deponiert haben. „Die BRICS-Staaten bereiten sich aktiv auf eine schrittweise Entkoppelung durch den Westen vor“, sagt Dagdelen: „Die Staaten im globalen Süden sehen: Die Hegemonie des Westens unter Führung der USA geht zu Ende. Sie organisieren sich selbst und vertreten selbstbewusst ihre Interessen in der multipolaren Welt. Die völkerrechtswidrige Sanktionspraxis des Westens beschleunigt und intensiviert diese Entwicklung.“ Die BRICS-Staaten würden sich „gegen doppelte Standards“ des Westens verwahren.

Das „aggressive Verhalten der USA“ habe außerdem die Abkehr vom US-Dollar als der Weltleitwährung beschleunigt: „Die BRICS-Staaten wollen in drei bis fünf Jahren 30 Prozent ihres Handels in lokalen Währungen abwickeln.“ Das sei durchaus realistisch, meint Dagdelen: „Ökonomen sagen, in einer multipolaren Welt sei es ungewöhnlich, so lange Zeit nur eine Weltleitwährung zu haben.“ Die BRICS-Staaten haben ihre Neupositionierung offenbar sehr bewusst angelegt. Dagdelen: „Das ist kein Strohfeuer, hier wird sehr solide gearbeitet.“ Dagdelen nennt die neue Entwicklungsbank der Staaten, die ihren Sitz seit einiger Zeit in China hat und die zeigt, dass die BRICS-Staaten vom Westen gelernt haben, wenn es um professionelle Institutionen geht. Sevim Dagdelen hat mit Managern der Bank gesprochen und einen sehr guten Eindruck von der Bank: „Auftrag und Ziel der BRICS Bank ist die Entwicklung und Emanzipation des globalen Südens. Die New Development Bank zeigt der Welt, wie Kooperation untereinander in solidarischer Weise organisiert werden kann.“

Dagdelen ist überzeugt, dass die Zeit für die Staaten des Südens spiele – auch, weil der Westen den falschen Ansatz gewählt habe: „Die Sanktionen haben das Gegenteil bewirkt: Sie haben den Hegemon USA nicht gestärkt, sondern schaden global und führen zum Niedergang des Westens.“ In dieser Situation besteht für Deutschland eigentlich die Chance, sich zu profilieren. China hofft, dass Deutschland und die EU sich von den Amerikanern emanzipieren würden und in einer möglichen Konfrontation neutral bleiben. Ob diese Hoffnung realistisch ist, muss dahingestellt bleiben. Noch sind die USA die bei weitem stärkste Wirtschaftsmacht, liegt der US-Dollar um Lichtjahre vor dem chinesischen Yuan. Auch der Euro hat es in den vergangenen Jahren nicht geschafft, den Dollar zu gefährden.

Oberst Zhou setzt trotzdem auf gute Beziehungen zu Deutschland. Die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen sowie die Treffen des chinesischen Premierministers Li mit Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron und dem EU-Ratspräsidenten Charles Michel in dieser Woche sieht er als einen Anfang: „In Zeiten des Wettbewerbs zwischen China und den USA ist Europa für China sicherlich wichtiger.“ Chinas Hoffnung sei, dass vor allem „Deutschland in der Lage ist, im Einklang mit eigenen Interessen und gegenseitigen Interessen zu denken“. Solange es sich um einen bilateralen Kontext handle, wäre es für beide Seiten natürlich viel einfacher, sagt Zhou. Und er warnt: „Angesichts der enormen wirtschaftlichen Interaktionen Chinas mit Deutschland wäre Deutschland sicherlich ein Verlierer, wenn es sich dazu entschließen würde, den Vereinigten Staaten blind zu folgen. Andere Länder, darunter auch die Vereinigten Staaten, wären einfach zu bereit, die von Deutschland auf dem chinesischen Markt hinterlassenen offenen Stellen zu besetzen.“

Auch Sevim Dagdelen glaubt, dass Deutschland auf der Hut sein müsse: „Deutschland droht ohne China der industrielle Abstieg, was zu enormen sozialen Verwerfungen führen wird.“ Deutschland müsse aufpassen, „dass es nicht plötzlich international isoliert im Abseits steht“. Dagdelen kritisiert, dass Deutschland noch keine China-Strategie vorgelegt habe, „weil man in Berlin scheinbar noch auf grünes Licht aus Washington wartet“.

Peking müsse aktuell eine Gratwanderung vollziehen, meint Dagdelen. Es sei irritierend für die Chinesen, dass Deutschland und die EU keine eigenständige Außenpolitik haben: „Es ist kompliziert für China, einerseits bilateral, andererseits auf EU-Ebene verhandeln zu müssen. China ist jedenfalls daran interessiert, dass Europa eine souveräne, eigenständige Außenpolitik hat.“  

Oberst Zhou sagt: „Ich denke, die chinesische Regierung sollte zunächst mit der EU zusammenarbeiten, um herauszufinden, welche gemeinsamen Interessen bestehen.“ Dies sei langfristig wichtiger. Man solle sich nicht von vordergründigen Zuspitzungen irritieren lassen. Zhou: „Beurteilen Sie die Beziehungen zwischen China und der EU nicht vor einem anderen Hintergrund“: Zhou meint den Angriff Russlands und den Krieg in der Ukraine. Hier hat der Westen zuletzt stets gefordert, dass China Partei ergreifen und seinen Einfluss auf den russischen Präsidenten Putin geltend machen müsse, damit dieser den Krieg gegen die Ukraine beende. Doch Zhou hält dagegen und sagt, dieser Krieg habe „nichts mit China zu tun“.