Bundesweit gibt es fast 900 unterschiedliche Netzentgelte. Sie sind Bestandteil des Strompreises, jedoch je nach Bundesland unterschiedlich hoch. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) strebt einheitliche Preise an. Sind seine Bemühungen aber nur symbolisch?
Die Kosten für die lokalen Stromverteilnetze sollen in Deutschland gerechter verteilt werden. Nachdem einzelne Länder im Norden der Republik sehr deutliche Signale gesendet haben, dass sie die im Bundesvergleich höheren Netzentgelte für Strom in Regionen mit viel Erzeugung aus erneuerbaren Energien nicht mehr hinnehmen wollen, rief Habeck zu einem Krisengipfel zur Reform der Netzentgelte auf. Konnte er bei der Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag etwas erreichen? Ein Experte sagt: Nein.
„Habecks Anreize werden bezüglich der Vereinheitlichung nichts verändern“
„Viele wichtige Themen standen heute auf der Tagesordnung der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bundeskanzler und Teilen der Bundesregierung“, äußerte sich Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil in einer Mitteilung am Donnerstag. Auch die Stromnetze standen auf der Agenda: „Derzeit sind die Netzentgelte für die Verteilnetze vor allem in denjenigen Regionen sehr hoch, die bereits einen hohen Ausbau an erneuerbaren Energien haben“, sagte der Ministerpräsident. Auch wenn nicht zu allen Themen Beschlüsse gefasst wurden, sei es sinnvoll gewesen, dass sich Bund und Länder noch einmal über wesentliche aktuelle Herausforderungen ausgetauscht hätten.
Eine Reform der Verteilnetzentgelte, die die „Kosten der Integration der erneuerbaren Energien fair verteilt“, steht auch im Koalitionsvertrag der Ampelregierung. Schon die schwarz-rote Bundesregierung hatte sich eine solche Reform vorgenommen, blieb jedoch erfolglos. „Auch Habecks Bemühungen am Donnerstag können keine Vereinheitlichung herbeiführen“, sagt der Rechtsanwalt und Partner der Berliner Rechtsanwaltskanzlei Becker Büttner Held (BBH), Stefan Missling, auf Anfrage der Berliner Zeitung.
Missling ist seit 18 Jahren bei BBH im Energiebereich tätig. Er ist nach eigenen Angaben Experte für die regulierten Bereiche der Strom- und Gasnetze. Er berät als Rechtsanwalt ferner in Umweltrecht und Planungsrecht, insbesondere zu Energieleitungen sowie zu Energiekonzepten. Auch er erkennt dringenden Bedarf für eine Reform der Entgeltsystematik: „Wir belasten die Regionen mit höheren Entgelten, die ohnehin schon die Beeinträchtigungen durch die Anlagen erfahren.“

Unterschiede der Netzentgelte: Zwischen den Ländern „verwerflich“
Für die überregionalen Stromleitungen, das sogenannte Übertragungsnetz, gelten seit diesem Jahr bereits bundesweit einheitliche Netzentgelte von 3,12 Cent pro Kilowattstunde (kWh) – das gilt aber nicht für die lokalen Netze. So seien die Unterschiede der Netzentgelte zwischen Ländern wie Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig Holstein, wo die Windkraftanlagen stehen, und Bayern, wo Windräder über viele Jahre verhindert wurden, verwerflich, sagt der Rechtsexperte.
Da dieses Thema mit dem Ausbau erneuerbarer Energien präsenter werde, könne man ein einheitliches Entgelt nicht länger vernachlässigen: „Wo Windräder betrieben werden, müssen die Menschen mit der aktuellen Regelung auch noch dafür zahlen, dass bei ihnen der erneuerbare Strom erzeugt wird“, sagt Missling. Eine Reform sei längst fällig. Jedoch hätten Habecks Bemühungen bisher nicht dazu beigetragen. Warum?
Erst Ende April hat das Bundeswirtschaftsministerium einen Gesetzentwurf zur „Anpassung des Energiewirtschaftsgesetzes an unionsrechtliche Vorgaben“ auf den Weg gebracht. Dieser sieht laut Missling eine weitreichende Übertragung von bisherigen Regelungskompetenzen des Gesetz- und Verordnungsgebers im Energiewirtschaftsrecht auf die Bundesnetzagentur vor. Auch die Regelungen zu den Netzentgelten im Strombereich sollen demnach künftig ausschließlich in die Festlegungskompetenz der Regulierungsbehörde fallen, sagt der Experte. Die Vorgabe politischer Leitlinien durch Parlament oder Bundesregierung im Bereich der Stromnetzentgeltregulierung sei nicht mehr vorgesehen.
Habecks Veranstaltung ohne „entscheidungskompetente Teilnehmer“
Sollte das geplante Gesetz in der aktuellen Fassung demnächst verabschiedet werden, wäre Habecks ausgerufener Krisengipfel laut Missling eine Veranstaltung ohne entscheidungskompetente Teilnehmer – „denn dann müsste er die Bundesnetzagentur dazu einladen, ohne ihr etwas mit auf den Weg geben zu dürfen“. Mit der Novelle soll das Urteil des Europäischen Gerichtshofs von September 2021 zur Aufteilung der Kompetenzen zwischen nationalem Gesetzgeber und Bundesnetzagentur umgesetzt werden. Mit anderen Worten: Die Bundesnetzagentur als deutsche Bundesbehörde soll nicht mehr per Gesetz gesteuert werden – darunter fallen auch die Verteilnetzentgelte. „Die Länder haben dann ohnehin gar nichts mehr zu melden“, sagt Missling.
„Vor diesem Hintergrund ist es schon bemerkenswert, wenn sich der gleiche Minister, der am 25. Mai im Kabinett den Referentenentwurf beschließen lässt, später die Länder einlädt, um über die Netzentgeltesystematik zu sprechen“, sagt Missling. Aktuell ist der Beschluss zwar noch im Bundesrat, sodass die Behörde noch nicht die Kompetenzen hat, im Alleingang zu entscheiden. Der Experte geht aber davon aus, dass das Gesetz – falls nicht schon vor der Sommerpause – noch bis Ende des Jahres vom Bundestag abgesegnet wird.
Damit würde die Behörde in Bonn über die Strukturen der Netzentgelte, welche rund ein Viertel am deutschen Strompreis für Verbraucher ausmachen, entscheiden. „Die Netzentgeltregulierung wird dann, ausgerechnet in Zeiten des fundamentalen Umbaus der Energiewirtschaft, vollständig einer Behörde überlassen“, sagt der Rechtsanwalt. Eine erfolgreiche Energiewende hinge dann eher von den Entscheidungen in Bonn als von Berlin ab.
Bundesnetzagentur soll alleiniger Entscheidungsträger werden
Der Energieexperte hält es nicht für richtig, dass die Bundesnetzagentur im Rahmen der EnWG-Novelle mehr Freiheiten erhalten soll. Die Politik werde damit null Komma null bestimmen dürfen, wie sich die Regulierung der Netze in Deutschland entwickle. Aber könnte mit der Behörde als alleinigem Entscheidungsträger die Vereinheitlichung der Preise nicht sogar schneller angegangen werden?
Das sei bislang noch gar kein Thema, sagt Missling. „Auch wenn die Bundesnetzagentur die Kompetenz durch das Gesetz bekommt, heißt das noch lange nicht, dass sie die Vereinheitlichung der Netzentgelte für einen fairen Strompreis vornimmt.“ Auch nach wiederholter Nachfrage der Berliner Zeitung bei der Bundesnetzagentur meldete diese sich auf Fragen zu einheitlichen Entgelten und der alleinigen Entscheidungsgewalt bis heute nicht zurück.
Dennoch gibt der Berliner Rechtsanwalt eine Empfehlung ab: „Unbedingt müssen wir dafür sorgen, dass die Menschen, die die Windräder vor der Tür haben, nicht auch noch höhere Netzentgelte zahlen.“ Der Unterschied zwischen norddeutschen Bundesländern und etwa Nordrhein-Westfalen oder Bayern sei zu groß.
Wie würde sich ein einheitliches Netzentgelt auf Berlin auswirken?
Das Land Berlin liegt im unteren Bereich der Netzentgelte, erfuhr aber in diesem Jahr eine Erhöhung von bisher 6,59 Cent pro kWh auf 8,93 Cent, wie der landeseigene Betrieb Stromnetz Berlin bereits im vergangenen Jahr mitteilte. Auch der Strompreis ist in Berlin laut Stromspiegel im Bundesländervergleich sehr niedrig. Mit 39 Cent pro kWh landet die Hauptstadt nach Bremen mit 36 Cent auf Platz zwei.
„Wir haben natürlich hier in Berlin ein engmaschiges Netz mit einer sehr hohen Last –das ist günstiger, als beispielsweise eine Leitung durch die Uckermark zu legen“, sagt Missling. In Berlin würden pro Haus 30 bis 40 Parteien als Abnehmer gelten, was sich im relativ günstigen Entgelt widerspiegele. Ein einheitliches Netzentgelt würde über dem aktuellen Berliner Preis liegen – „aber das wäre für den Strompreis hier nur eine marginale Veränderung“, sagt Missling zum Schluss.




