Sie flunkern, ohne rot zu werden. Sie bestreiten alles, obwohl sie der Lüge überführt sind. Und sie tun es immer wieder: Jugendliche schwindeln – und sie treiben ihre Eltern damit in den Wahnsinn. Man fragt sich: Hab ich was falsch gemacht? Wieso redet das Kind denn nicht mit mir? Was soll das nur? Atmen Sie erst mal durch. Denn verzweifeln müssen Sie daran nicht, weil bis hierhin alles normal ist. Kein Grund zu Sorge oder Panik. „Das Lügen ist während der Pubertät ein Teil des Ablösungsprozesses“, erklärt Kinder- und Jugendtherapeut Dr. Christian Lüdke.
Die Pubertät ist „ohnehin eine der schwierigsten Lebensphasen“, weiß der Experte, „weil sowohl körperlich als auch psychisch massive Veränderungen stattfinden, die eine enorme Herausforderung darstellen“. Ein Beispiel: Einerseits wollen Jugendliche überall dazugehören, Teil einer Gruppe sein, nicht hervorstechen, zugleich aber wollen sie eben gerade nicht wie alle anderen sein, sondern ihre Individualität betonen. Das sind oftmals Gegensätze, die man nicht nur aushalten, sondern auch balancieren muss. Das kann zu Frust führen.
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Lügen als Abgrenzungsstrategie
Teenager suchen nach einem eigenen Weg, nach dem eigenen Ich, das sich nunmehr ausdifferenziert. Dazu gehört, dass sie sich abgrenzen – von Gleichaltrigen, die gewisse Werte nicht teilen, vor allem aber von den Eltern. Sie stehen aus Sicht der Jugendlichen für zwei verschiedene Lebensabschnitte: Durch die Eltern fühlen sie, dass sie Kind waren, es vielleicht noch immer sind. Und sie werden auf ewig das Kind ihrer Eltern bleiben.
Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen steht die Erwachsenenwelt. Eltern sind erwachsen. So erwachsen, wie man selbst (bloß nie) werden möchte. Als Teenager steht man also zwischen den Stühlen, hat keine richtige Rolle gefunden, die passt. Das Kindsein ist vorbei, das Erwachsenenleben hat noch nicht wirklich begonnen – weil: Dann dürfte man ja Auto fahren und in Clubs gehen.
Um sich nun also aus dem kindlichen Dasein zu lösen, müssen Jugendliche gegen die Eltern aufbegehren. „Und dafür braucht es krasse Methoden“, weiß Dr. Christian Lüdke, selbst Vater zweier mittlerweile erwachsener Töchter. „Jeder Teenager findet andere Wege, die Welt der Eltern in ihren Grundfesten zu erschüttern: Früher waren es zerrissene Jeans und bunte Haare, heute sind es vielleicht Demos oder Hobbys. Was es aber schon immer gab: Dass Jugendliche bewusst lügen.“
Sie behaupten, ihre Hausaufgaben gemacht oder die Schmutzwäsche aus dem Zimmer gebracht zu haben. Sagen, in der Schule sei nichts Besonderes gewesen, obwohl sie beim Rauchen erwischt wurden. Behaupten, sich mit Freunden zu treffen, haben sich aber insgeheim zum Knutschen verabredet.
Die unbewusste Doppelbotschaft hinter den Schwindeleien lautet zum einen: Ich will mein eigenes Ding machen! Und sie birgt die Frage nach bedingungsloser Liebe: Werde ich wirklich geliebt? Auch, wenn ich total anstrengend bin? Das Lügen erfüllt also zwei Funktionen, wenngleich Ihrem Kind das nicht klar ist. Sie aber sollten das wissen, weil es den Umgang miteinander erleichtert. „Indem Sie die zugrunde liegenden Motive verstehen, können Sie gelassener mit dem Lügen umgehen“, sagt Dr. Christian Lüdke.
Wie reagiere ich richtig?
Wenn Sie Ihr Kind beim Lügen ertappen, dürfen Sie Ihren Ärger darüber zeigen. Wichtigste Regel: „Kritisieren Sie das Verhalten, aber niemals die Person“, rät Dr. Christian Lüdke. Sie könnten also sagen: „Ich finde es unfair, dass du mich belügst.“ – aber auf keinen Fall: „Du bist ein Lügner, das ist echt enttäuschend.“ Zudem ist es sinnvoller, Ich-Botschaften zu senden und von seinen eigenen Gefühlen zu sprechen, als anklagend und vorwürflich zu formulieren. Und vergessen Sie nicht: Wir alle lügen. Jeden Tag. Meistens werden wir dabei nicht ertappt.
„Ich würde auch nicht jede entdeckte Lüge thematisieren und eine riesige Sache daraus machen“, so der Therapeut. „Kleinere Lügen, die Ihre Beziehung nicht beeinträchtigen, kann man auch mal übersehen.“ Möglicherweise hilft es Ihnen, wenn Sie sich kurz in die Lage Ihres Kindes versetzen und sich fragen, weshalb es Sie angelogen hat. Vermutlich wird Ihnen schnell ein guter Grund einfallen, der Sie wahrscheinlich milde stimmen wird. Gehen Sie davon aus, dass Ihr Teenager es nicht böse meint. Sowieso geht es nicht wirklich um Sie, sondern Ihr heranwachsendes Kind handelt für sich selbst: Es möchte eigene Entscheidungen treffen – und zwar ohne, dass Sie hereinquatschen. Es möchte sich ablösen, nicht mehr Ihr kleiner Schatz sein.
Sollten Sie jedoch herausfinden, dass Ihr Kind jemand anderem Schaden zugefügt und darüber gelogen hat, dann müssen Sie das sofort und ernsthaft besprechen. Schreien Sie aber nicht rum! Da schalten die meisten Menschen auf Durchzug. Setzen Sie vielmehr auf Empathie, setzen Sie auf das Mitgefühl Ihres Kindes: „Wie würdest du dich fühlen?“ Gleiches gilt, wenn Ihr Kind Sie in Bezug auf die Schulnoten angeschwindelt hat. Da könnten Sie sagen: „Ich habe beim Elternsprechtag echt blöd dagestanden und mich dumm gefühlt.“
Beschreiben Sie zuerst das Verhalten, das Sie stört, danach Ihre Gefühle in Bezug auf das Verhalten und schließlich eine versöhnliche Lösung: „Du hast deine nassen Sportsachen nicht weggeräumt. Sie liegen im Flur, und jemand könnte darüber stolpern. Es ärgert mich, wenn du so achtlos mit den Dingen umgehst, auch wenn ich weiß, dass du es nicht absichtlich machst. Bitte trockne die Kleidung und leg sie dann in die Wäsche. Das schaffst du.“
Sollte es häufiger vorkommen, dass Sie Ihr Kind bei schwerwiegenden Lügen ertappen oder auch die kleineren Schwindeleien sich stark häufen, können Sie das in einem ruhigen Moment besprechen – nur bitte nicht zwischen Tür und Angel in einem spontanen Anflug von Wut. Wenn Sie laut werden, wird Ihr Teenager mit Rückzug reagieren. Besser: „Fragen Sie Ihr Kind doch einfach mal, was es bräuchte, um Sie weniger anzulügen“, empfiehlt Dr. Christian Lüdke. „Seien Sie ehrlich interessiert und hören Sie genau hin, was Ihr Kind sagt. Es wird zunächst überrascht sein, weil es vielleicht eine Standpauke erwartet. Aber stattdessen fragen Sie vollkommen sachlich: ‚Was kann ich tun, damit du mir gegenüber bei der Wahrheit bleibst?‘ Vielleicht fügen Sie noch hinzu: ‚Du weißt doch, dass ich dir den Kopf ohnehin nicht abreiße, aber ich wünsche mir, dass du ehrlich bist und mich nicht anlügst, weil es mich verletzt.‘“
Vorsicht mit Pauschalisierungen
Schauen Sie also nicht zurück und zermartern sich das Hirn, warum Ihr Teenager lügt, sondern blicken Sie lieber lösungsorientiert nach vorn. Was können Sie beide tun, damit mehr Vertrauen da ist? „Machen Sie keine Vorwürfe und vermeiden Sie Worte wie: immer, ständig, nie – solche Pauschalisierungen sind verletzend und abwertend, weil sie etwas behaupten, was so wohl kaum stimmt“, so der Therapeut. Ganz besonders schlimm sei der Satz „Ich bin so enttäuscht von dir“, weil er eine fast schon allgemeingültige Aussage trifft, mit der kein Kind – auch kein pubertierendes – umgehen kann. Selbst für Erwachsene ist so ein Satz schwer verdaulich.
„Solche Sätze, die eben nicht das Verhalten, sondern die Person kritisieren, sind aus psychologischer Sicht wirklich nicht tolerierbar, weil sie an die Substanz gehen, das Vertrauen schädigen können“, erklärt Dr. Christian Lüdke. „Und zwar sowohl das Vertrauen in sich selbst, als auch das in die Eltern-Kind-Beziehung.“ Besser ist es, die Enttäuschung, die Sie ja zu Recht empfinden, anders auszudrücken: „Dein Verhalten hat mich echt enttäuscht. Aber weißt du was? Ich liebe dich jetzt noch mehr.“
Vielleicht können Sie ja schon beim Lesen dieser Zeilen spüren, wie anders sich die Aussagen jeweils anfühlen. Seien Sie zuversichtlich, dass Sie durch eine derart umsichtige Kommunikation nicht nur Ihr Kind unterstützen, sondern auch sich selbst vor überschäumender Wut und Geschrei schützen.
Welche Bestrafungen sind angebracht?
Sanktionen in der Kindererziehung sind umstritten. Heutzutage geht die Forschung davon aus, dass Bestrafungen nichts bringen, oder zumindest nicht das, was man intendiert. Sanktionen können (müssen aber nicht!) dazu führen, dass ein bestimmtes Verhalten abgestellt wird – aus Angst vor der Bestrafung. Was sie aber ganz sicher nicht bewirken, ist, dass das Kind sein Fehlverhalten einsieht und künftig aus eigener Motivation heraus richtig handeln wird. Insofern sollten Sie den mutmaßlich etwas mühsameren Weg wählen, sofern Sie möchten, dass Ihr Kind lernt, sein Verhalten beziehungsweise dessen Konsequenzen zu reflektieren. Und das bedeutet: Reden Sie miteinander, hören Sie zu, denken Sie nach und versuchen Sie, zusammen eine Lösung zu finden.
Wenn Sie jedoch so etwas wie Hausarrest verhängen, das Handy wegnehmen, Taschengeld kürzen oder das WLAN-Passwort ändern, heißt das nichts anderes als: Ich weiß mir nicht anders zu helfen, das ist meine ultima ratio. Ist das wirklich das Signal, das Sie Ihrem Kind senden wollen? Dass Sie keine anderen Möglichkeiten haben, diesen Konflikt zu lösen? Ganz sicher erzeugen Sie so bei Ihrem Kind nur noch mehr Wut, was dazu führen wird, dass es Ihnen (noch) weniger vertraut. Es fühlt sich durch die Sanktionen – zu Recht! – in seinen Persönlichkeitsrechten beschnitten.






