Wie wichtig Streit in der Demokratie ist, hat vor vielen Jahrzehnten einmal der alte SPD-Politiker Herbert Wehner auf den Punkt gebracht. Wenn wir nicht mehr offen streiten könnten, „wären wir alle zusammen, Sie und wir, verurteilt, unterzugehen!“, sagte er am Rednerpult des Bundestages.
Wehner selbst wurde für seine Vergangenheit als Kommunist immer wieder heftig angegriffen. Aber er teilte auch selbst heftig aus. Bis zum Schluss trieb ihn die Erfahrung mit der Nazizeit an, in der Menschen für ihre Meinung nicht nur mundtot gemacht wurden. Er sah im offenen Streit die Grundbedingung für das Überleben einer freien Gesellschaft.
Doch wie steht es heute um unsere Streitkultur? Um diese Frage geht es in dem neuen Buch „Probleme der Streitkultur in Demokratie und Wissenschaft“. Es ist im Verlag Karl Alber erschienen, einem traditionsreichen Verlag für Philosophie, der seit 2022 zur Nomos-Verlagsgesellschaft in Baden-Baden gehört. Herausgegeben hat es die Bochumer Philosophie-Professorin Maria-Sibylla Lotter.
Wie sich die „Grenzen des Sagbaren“ im letzten Jahrzehnt verschoben haben
Zu den Autoren gehören die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann, der Strafrechtler Eric Hilgendorf, die Historikerin und Soziologin Sandra Kostner, der Analytische Philosoph Georg Meggle, der Politikwissenschaftler Jan Menzner, die Religionswissenschaftlerin Inken Prohl, der Philosoph und Lyriker Dieter Schönecker sowie der Demokratieforscher Richard Traunmüller.
Das Buch befasst sich mit vielen Aspekten der Streitkultur. So unternahmen zum Beispiel die Autoren Menzner und Traunmüller empirische Untersuchungen zur Frage: „Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich?“ Die Historikerin Sandra Kostner befasst sich damit, wie sich im letzten Jahrzehnt die „Grenzen des Sagbaren“ verschoben. Die Ausgrenzung abweichender Position werde ihrer Meinung nach auch von der Politik bewusst genutzt, um „bestimmte Agenden durchzusetzen“, zum Beispiel in der Corona-Pandemie. Zeitweise habe es den Anschein gehabt, die Meinungsfreiheit werde selbst als potenzielle Gesundheitsgefahr wahrgenommen.
Jene rund 50 Schauspieler, die zum Beispiel 2021 mit der ironisch-satirisch gemeinten Video-Aktion #allesdichtmachen den Panikmodus und Übertreibungen im Corona-Lockdown kritisierten, mussten sich zum Teil anhören, dass sie Gesellschaftsfeinde seien und man ihnen die Rollen streichen, ihre Jobs wegnehmen sollte. Dabei nutzten sie „nur“ ihr Recht auf Meinungsfreiheit – wie man auch immer zu dem stand, was sie sagten.
Zwei Arten von Meinungsverschiedenheiten auseinanderhalten
Doch was „darf man“ überhaupt sagen? Wo sind die Grenzen der Meinungsfreiheit? Das Buch bietet dazu eine klare Definition: Diese Grenzen liegen bei den „zentralen Grundwerten der Verfassung, auf denen liberale Demokratien beruhen, wie etwa die Menschenwürde, die Gleichberechtigung oder die Unabhängigkeit der Justiz“. Gegen „Feinde liberaler Demokratien“ müsse man sich klar wehren.
Vor allem aber müsse man zwei Arten von Meinungsverschiedenheiten auseinanderhalten: „erstens die Ablehnung von Positionen, die nicht respektiert werden können, ohne damit die Grundlagen liberaler Demokratien aufzugeben, und zweitens die Kritik von Positionen, die einem falsch, unklug, unmoralisch oder rücksichtslos gegenüber bestimmten Individuen oder Gruppen erscheinen können, die jedoch nicht die in der Verfassung formulierten Grundwerte verletzen“.
Die Kunst demokratischer Streitkultur bestehe darin, „die zweiten nicht mit den ersten zu verwechseln“. Doch dies passiert oft, weil ein Großteil der Gesellschaft sich durch Internet und soziale Medien in einer Art Dauererregung befindet, Stichwort: „Shitstorms“. Auch ist in der Praxis die Definition der Grenzen der Meinungsfreiheit mitunter komplizierter als gedacht.
Die Wissenschaft soll ein freier und zugleich geschützter Raum sein
Das Grundgesetz ziehe die Grenzen in den „Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“, schreibt zum Beispiel der Jurist Eric Hilgendorf. Im Strafgesetzbuch werde der Meinungsfreiheit Grenzen setzen, wenn es etwa um die Leugnung des Holocaust und um Hetze gegen Minderheiten gehe. Auch Beleidigungen, Hassrede, sexuelle Belästigung gehören dazu. Allerdings: Wann fühlt sich jemand beleidigt, in der persönlichen Ehre verletzt oder sexuell belästigt? Hier gibt es durchaus verschiedene Empfindungen, abhängig von der Situation.
Auch „bewusst falsche Tatsachenbehauptungen“ – Fake News – sind vom Strafrecht erfasst, etwa als Üble Nachrede und Betrug. Aber ansonsten ist die Bandbreite groß. In der Wissenschaft zum Beispiel gibt es ständig Streit – mit zum Teil absurd klingenden Thesen. Ja, die Wissenschaft lebt sogar davon, ständig Dinge infrage zu stellen, die allgemein als gesichert gelten. So wie es Einstein einst in der Physik tat.
Die Wissenschaft soll in unserer Gesellschaft ein ganz besonders geschützter Raum sein. „Zur Idee der Universität gehört, dass auch unbequeme und möglicherweise anstößige Positionen und Thesen vorgetragen und zur Diskussion gestellt werden dürfen“, schreibt Eric Hilgendorf. „Grundsätzlich muss jede Position zu Wort kommen können, vorausgesetzt, bestimmte basale Standards von Rationalität und Sachlichkeit werden eingehalten.“
Cancel Culture bedroht die Wissenschaftsfreiheit
„Eine Cancel Culture, in der unliebsame Positionen niedergeschrien oder ihre Darlegung von vornherein durch haltloses Anprangern, Schikane, Ausladung oder gar offene Gewalt verhindert wird, ist mit der Wissenschaftsfreiheit nicht vereinbar und bedroht den rationalen Kern unserer Gesellschaft“, so der Autor. Solche Szenen erlebt man in der heutigen Universität immer wieder. Das Buch bietet viele Beispiele dafür.
Und das betrifft keineswegs nur studentische „Aktivisten“, die hin und wieder gegen bestimmte Veranstaltungen oder Dozenten protestieren. Nein, das betrifft auch die Wissenschaftler selbst. Da werden Gastforscher von Tagungen wieder ausgeladen, weil andere Forscher behaupten, „sich in ihrer Gegenwart unwohl zu fühlen“. Da sammeln Wissenschaftler Unterschriftenlisten gegen ein schwarzes Schaf „im eigenen Fach“.
Da lassen sich Fachzeitschriften von Sprechern bestimmter Gruppen unter Druck setzen, Beiträge mit unliebsamen Meinungen nicht zu drucken – auch wenn die Kritiker die Möglichkeit hätten, selbst eine Replik zu schreiben, was auch der wissenschaftlich übliche Weg wäre. Doch nicht wenige scheuen offenbar den akademischen Streit. Besonders „heiße“ Themen an den Unis waren und sind dem Buch zufolge „Islam oder Einwanderung, Transgenderpolitik, Genderisierung der Sprache, Klimapolitik oder Coronapolitik“.
Durch Ideologien geraten ganze Fächer in eine Kampfzone
Durch die „Übernahme identitätspolitischer Denkmuster“ und „Wokeness“-Ideologien verändern sich sogar ganze Fächer. Identitätspolitik stellt zum Beispiel die Bedürfnisse einer spezifischen Gruppe von Menschen in den Mittelpunkt. „Wokeness“ ist ein englischer Ausdruck, der ein „erwachtes“ Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit, Sexismus und Rassismus beschreibt. Doch wenn solche Prinzipien ganze Fächer bestimmen, geraten diese schnell in eine „Kampfzone“, wie es die Religionswissenschaftlerin Inken Prohl im Buch beschreibt.
Prohl sieht das Hauptproblem darin, dass die Erforschung der Religionen selbst in den Hintergrund getreten sei. Heute konzentriere man sich darauf, Diskurse über Religion im Hinblick auf Macht- und Herrschaftsdynamiken zu analysieren. Bestimmte wissenschaftliche Fragen könnte man aber in solch einem Umfeld nicht stellen, zum Beispiel: Tragen gegenwärtige identitätspolitischer Ideologien und Bewegungen („Wokeness“) nicht selbst religionsähnliche Züge?
Dass Debatten um die akademische Freiheit nicht neu sind, zeigt der Beitrag des Analytischen Philosophen Georg Meggle. Dieser berichtet über seine eigenen Kontroversen, in die er etwa 1989 geriet, als er die „Singer-Affäre“ auslöste. Meggle hatte den umstrittenen australischen Ethiker Peter Singer zu einer Diskussion an die Universität Saarbrücken eingeladen. Dieser befürwortete unter bestimmten Bedingungen eine „aktive Euthanasie“ statt eines langen qualvollen Sterbens. Eine sehr heikle ethische Frage.
Ist die Uni bereit, für Wissenschaftsfreiheit Polizeischutz zu beantragen?
Mehrere Universitäten hatten die Vorträge Singers nach Protesten der Behindertenbewegung abgesagt. Meggle aber habe seinen Seminarteilnehmern die Chance eröffnen wollen, „mit Singer selbst über seine Begründung zu streiten“, wie er erklärt. Aus der Debatte Singers mit Protestierenden sei „die heftigste und engagierteste Diskussion“ entstanden, „die ich bis dahin erlebt habe“, wie Meggle schreibt. Dennoch habe er einen „Shit-Hurricane“ geerntet, sei als Faschist beschimpft worden.
Auch wegen anderer Dinge wurde Meggle angegriffen. So befasste er sich mit seinen Studenten 2021 an der Uni Salzburg in einem Seminar zum Thema „Boykottstrategien – Pro und Contra“ unter anderem mit der BDS-Bewegung, die den Staat Israel isolieren will. Nach studentischem Protest wegen angeblicher Unterstützung „der antisemitischen BDS-Bewegung“ wurde das Seminar abgesagt. Meggle zufolge sei es im Seminar jedoch um die zentrale Frage gegangen: „Was halten wir denn selber von dem (angeblichen oder echten?) Antisemitismus der BDS?“ So etwas ist durchaus eine wissenschaftliche Fragestellung. Aber der Uni war die Debatte zu heiß geworden.
„Der entscheidende Test, ob eine Universität die Wissenschaftsfreiheit wirklich ernst nimmt oder nicht, besteht schlicht und einfach in der Antwort auf diese Frage: Ist die Universität bereit, für die Durchsetzung dieser Freiheit unter Umständen auch Polizeischutz zu beantragen?“, schreibt Meggle. Er sei „unter den deutschen Philosophen der Gegenwart wohl der radikalste Verfechter der Wissenschaftsfreiheit“, heißt es im Buch.
Forscher sitzen im Fernsehen, Studien werden politisiert
Doch darf ein Wissenschaftler alles sagen und muss die Universität allen eine Bühne geben? Nein, sagt zum Beispiel der Jurist Eric Hilgendorf. „Offener Antisemitismus und andere Formen von unverhohlen zur Schau gestelltem Rassismus haben an der Universität keinen Platz“, schreibt er. In der Forschung aber müssen alle Themen behandelt werden können, denn es geht ja um die Schaffung von Wissen und neuen Erkenntnissen, nicht um das Abfragen von Meinungen oder bestimmten Haltungen.
Allerdings gibt es Grundsätze des wissenschaftlichen Arbeitens, die eingehalten werden müssen. Dazu gehört zum Beispiel, dass man bei Studien völlig ergebnisoffen an eine Frage geht, dass Datenmaterial zugänglich und Experimente überprüfbar und wiederholbar sind – und dass man sich unabhängigen Gutachtern stellt. In der Wissenschaft müssen Behauptungen belegbar sein.
Das eigentliche Problem ist, dass es den idealen geschützten Raum Universität nicht gibt. Die Universität wirkt nach außen und wird von außen beeinflusst. Auch vorläufige, noch nicht begutachtete wissenschaftliche Studien können große Schlagzeilen machen, politisiert werden – wie man in der Corona-Debatte sah und in der Klimadebatte sieht. Wissenschaftler gehen nach außen, sitzen im Fernsehen oder auf dem Podium, twittern und schreiben Artikel. Damit erhalten ihre Thesen Gewicht in der Öffentlichkeit. Und sobald Wissenschaft in den öffentlichen Raum geht, gelten andere Gesetze der Auseinandersetzung.
Empörungswellen dürfen nicht zur Einschränkung der Freiheit führen
Davon muss aber der wissenschaftliche Prozess selbst abgegrenzt werden. Es braucht Aufklärung darüber, was Wissenschaft kann und darf – und unter welchen Regeln sie funktioniert. Es brauche eine bessere Schulung und Aufklärung derjenigen Personen, die an der Schnittstelle zwischen erregter Netzpopulation und analoger Welt tätig sind, sagt der Jurist Eric Hilgendorf. Also von Journalisten, Uni-Pressesprechern und sonstigen Verantwortlichen, „ohne die die Empörungswellen im Internet kaum reale Wirkung über die jeweilige Aktivisten-Community hinaus hätten“.








