Streiten

Lasst uns streiten! Warum Streit zum Leben gehört und wie man ihn führt

Die Berliner Ausstellung „Streit. Eine Annäherung“ versucht, eine gute Streitkultur zu fördern – gegen Tendenzen der Vermeidung und Verrohung.

Freundschaft kann auch wehtun. „Silent Dialogues, Brague & Magnus“ (Norwegen), ein Foto von Viktoria Sorochinski, zu sehen in der Berliner Ausstellung „Streit“.
Freundschaft kann auch wehtun. „Silent Dialogues, Brague & Magnus“ (Norwegen), ein Foto von Viktoria Sorochinski, zu sehen in der Berliner Ausstellung „Streit“.Viktoria Sorochinski/MSPT/Museum für Kommunikation Berlin

Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir streiten? Berliner Wissenschaftler haben am Computer ein dreidimensionales Gehirn geschaffen, um zu zeigen, mit welchen Hirnregionen die Emotionen zusammenhängen, die beim Streit entstehen. Zu diesen gehören Wut, Ärger, Neid, Zorn, Ekel, Angst, Frustration, Verzweiflung, Trauer, Eifersucht und Resignation.

Zu sehen ist der interaktive Bildschirm in der Ausstellung „Streit. Eine Annäherung“, die seit Oktober im Museum für Kommunikation in Berlin gezeigt wird. Für die Gehirnsimulation wurden unzählige Daten zusammengetragen und eine App programmiert. Wenn ein Besucher auf eine Emotion klickt, dann leuchten im Gehirn die Regionen auf, die am stärksten daran beteiligt sind. Klickt man zum Beispiel auf den leuchtenden Bereich bei „Wut“, dann erfährt man, dass es sich um den limbischen Cortex handelt, den Sitz ganz verschiedener Emotionen.

Limbischer Cortex werden Teile der Großhirnrinde genannt, die zum limbischen System gehören. Dieses wiederum ist ein entwicklungsgeschichtlich alter Teil des Gehirns. Es reguliert das Affekt- und Triebverhalten des Menschen, löst Emotionen aus – als Antwort auf das, was wir sehen, hören, riechen, fühlen. Und Wut ist eine sehr ursprüngliche Emotion. Blitzschnell werden Hormone wie Adrenalin und Kortisol ausgeschüttet. Blutdruck und Herzfrequenz schießen nach oben.

Man hat das Gefühl: Überall wird nur noch gestritten

Gibt man den Begriff „Verzweiflung“ ein, dann leuchtet zusätzlich noch der gesamte präfrontale Cortex auf, der sich an der Stirnseite des Gehirns befindet. Dieser wird oft als Sitz der Persönlichkeit bezeichnet. Bis er völlig ausgereift ist, braucht es bis zu 25 Jahre. Er hat mit Aufmerksamkeit, Nachdenken, Entscheidung und Planung zu tun. Man sieht also, dass Verzweiflung nicht nur ein hochschießendes Urgefühl ist, sondern bereits mit einer Bewertung durch das Frontalhirn zusammenhängt.

Streiten in der kleinsten Familie der Welt

Von Bernadette Conrad

10.08.2020

Entwickelt wurde das interaktive Gehirn von der Arbeitsgruppe Gehirnsimulation am Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité. Das Team trug dafür Informationen „aus mit Computern erzeugten Wissensdatenbanken“ zusammen, „die auf mehr als 35 Millionen wissenschaftlichen Artikeln beruhen“, wie es in einer BIH-Mitteilung heißt. „Weil das so viele Arbeiten sind, dass sie kein Mensch alle lesen kann, haben wir dazu ein Programm verwendet, das die Fraunhofer-Gesellschaft entwickelt hat“, erklärt Petra Ritter, Professorin und Leiterin des Projekts.

„Durch eine von uns entwickelte Erweiterung konnten wir mithilfe dieses Programms berechnen, wie stark ein bestimmtes Gefühl mit einer bestimmten Region des Gehirns assoziiert ist: Je öfter diese Region im Zusammenhang mit dem Gefühl genannt wird, desto wahrscheinlicher steht sie wirklich damit in Verbindung“, sagt Ritter.

Was passiert beim Streiten im Gehirn? Das zeigt ein interaktiver Bildschirm.
Was passiert beim Streiten im Gehirn? Das zeigt ein interaktiver Bildschirm.Kay Herschelmann/Museumsstiftung Post und Telekommunikation

Dass Streit eine hoch emotionale Angelegenheit ist, hat wohl jeder schon erlebt. Aktueller kann ein Thema auch kaum sein als das der Berliner Ausstellung „Streit. Eine Annäherung“. Denn blickt man in die Welt, dann hat man das Gefühl: Überall wird nur noch gestritten. Es gibt Konflikte, Krieg, Polarisierungen in den sozialen Medien. Zugleich ist der Streit eine Grundlage unserer politischen Kultur, sollte es jedenfalls sein. Demokratie lebt von offenem Streit nach bestimmten Regeln. „Gewalt beginnt da, wo Reden aufhört.“ Dieses Zitat von Hannah Arendt steht ganz oben auf einer der Tafeln der Ausstellung.

Streit-Eskalation bis hin zur gegenseitigen Vernichtung

Wie aktuell das ist, kann man schon am Anfang der Ausstellung im zweiten Obergeschoss des Museums sehen. Da wird auf einer Tafel gefragt: „Wie eskaliert ein Streit?“ Aufgeführt werden neun Stufen, auf der Grundlage eines Modells des 1941 in Wien geborenen Konfliktforschers Friedrich Glasl. Dieser zeigte, wie ein Streit sich aufschaukeln kann, bis er nicht mehr beherrschbar ist. Die ersten drei Stufen lauten: „Verhärtung“ (der Positionen einer Meinungsverschiedenheit), „Polarisierung und Debatte“ sowie „Taten statt Worte“. Noch können beide Parteien vom Streit profitieren.

Es folgen die Stufen „Sorge um Image und Koalition“ (es geht nicht länger um den Streit-Gegenstand, sondern darum, dass das Gegenüber verliert), „Gesichtsverlust“ (die andere Partei soll diskreditiert und „zerstört“ werden) sowie Drohstrategien („Wenn du nicht ..., dann ...!“). In dieser Phase gibt es noch mögliche Gewinner und Verlierer, die Sache ist noch nicht entschieden. Die letzten drei Stufen aber sind: begrenzte „Vernichtungsschläge“, „Zersplitterung“ und „Gemeinsam in den Abgrund“.

Wenn man also keinen Ausweg aus der Eskalation findet, gibt es am Ende nur noch Verlierer. „Um das Gegenüber zu besiegen, wird die eigene Vernichtung in Kauf genommen“, heißt es zur Erklärung. Wer wird da nicht an die gegenwärtige Eskalation des Ukraine-Kriegs erinnert? Die Frage ist, wie man aus solcher Situation wieder herauskommt, wie man deeskaliert und Kompromisse sucht. Dafür gibt es auch Methoden und Wege. Sie funktionieren aber nicht, wenn es nur noch darum geht, den jeweils anderen zu vernichten.

Auch Kinder sollen schon früh eine gute Streitkultur lernen

Die meisten Besucher interessiert jedoch nicht unbedingt die große Politik oder der Streit um Machtfragen. Es sind viele junge Leute in der Ausstellung zu sehen. Diese wurde organisiert von der Museumsstiftung Post und Telekommunikation, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung. Es gibt auch ein begleitendes Programm mit Veranstaltungen und Möglichkeiten, das Gesehene zu vertiefen. Und gerade Kinder und Jugendliche müssen auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen angesprochen werden.

„‚Ich möchte nicht, dass wir uns streiten‘. Wahrscheinlich haben wir alle diesen Satz schon einmal gehört oder gesagt“, heißt es auf der ersten Tafel der Ausstellung. Streit sei jedoch nichts Schlechtes, sondern Teil der menschlichen Kommunikation, wie die Ausstellungsmacher hervorheben. Gestritten werde in Familien, in Freundschaften, in der Liebe, in der Schule und der Arbeit. Und es gehe vor allem darum, wie man streitet.

Auch über Kunst und Geschmack lässt sich trefflich streiten. Oder nicht? Blick in die Ausstellung.
Auch über Kunst und Geschmack lässt sich trefflich streiten. Oder nicht? Blick in die Ausstellung.Kay Herschelmann/Museumsstiftung Post und Telekommunikation

Die Ausstellung befasst sich mit den verschiedenen Begriffen. Was ist ein Streit? Was sind eine Debatte, eine Diskussion, eine Kritik, ein Diskurs oder eine Kontroverse? Was sind ein Konsens und ein Kompromiss? Auf Tafeln stehen ganz persönliche Fragen, etwa: „Und wo streitest du am liebsten?“ Die Besucher haben ihre  Antworten auf Zettel geschrieben. Man liest: „am Telefon“, „in der Küche“, „im Bett“, „an Straßenkreuzungen (mit Autofahrern)“, „im Club, wenn man mich besoffen anpöbelt“, „egal wo, Hauptsache Augenkontakt!“ oder auch: „am liebsten gar nicht“ und „ich mag keinen Streit“.

Eine andere Frage ist: „Und hast du schon mal jemanden gecancelt?“ Denn das sogenannte Canceln etabliert sich seit einiger Zeit als eine Methode, Streitfragen selbst durch Schaffung von Tatsachen zu beseitigen. Zumindest glaubt man, dass sie damit beseitigt seien. Erinnert sei an die Tilgung von „rassistischen“, „sexistischen“ und „kolonialistischen“ Inhalten aus Kinderbüchern und die Umbenennung von Straßennamen in Berlin. Viele sehen in der Cancel Culture eine Tendenz, die einer offenen, kontrovers diskutierenden Gesellschaft widerspricht.

Leute sollen im geschützten Raum streiten können

Die privaten Antworten auf die Frage, ob man selbst schon gecancelt habe, lesen sich so: „Ja, meine beste Freundin wegen echt blöden Aussagen“, „meine Mutter, weil sie es einfach nicht sein lassen kann, das N-Wort zu benutzen“, „den Energiekonzern RWE, weil er Profit über Klimaschutz und Heimat stellt“, „Urlaub in Türkei und Ungarn“ oder „Na logo, Typen halt!“. Es geht also um Streitpunkte auf ganz verschiedenen Ebenen.

In der Ausstellung finden sich etwa 150 „streitbare“ Objekte, Fotografien, Medieninhalte und künstlerische Positionen. Die Themenräume befassen sich mit „Kunst“, „Liebe“, „Macht“ und „Geld“. Viele Streitfragen werden angesprochen. Es gibt einen „Übungsraum für Kritik“ und einen „Spiegel der Selbsterkenntnis“, vor den man sich stellen kann. Denn: „Vielleicht haben die Mängel, die wir in der Gesellschaft beobachten, auch etwas mit uns zu tun.“

Bei allem geht es darum, eine gute Streitkultur zu fördern – als Gegengewicht zu den Tendenzen, die man etwa in den sozialen Medien findet, bis hin zu Beleidigungen, Pöbeleien und Drohungen. In der Ausstellung wird zum Beispiel die Chat-Plattform „Diskutier Mit Mir“ vorgestellt, wofür es auch eine kostenlose App gibt. Sie soll Leute „ins Gespräch bringen“, die zu bestimmten Themen unterschiedlicher Meinung sind. Sie bekommen einen geschützten Raum und den Hinweis mit auf den Weg: „Einen Streit sollte man nicht führen, um zu gewinnen, sondern um sich besser zu verstehen.“

Auf der Plattform geht es um Themen wie Gesundheit, Kapitalismus, Inflation, Tempolimit auf der Autobahn, die künftige Energieversorgung und den Krieg in der Ukraine. Es wird gefragt, ob in der Kunst alles erlaubt sei, ob man Geschichte tilgen oder Kontexte schaffen soll, ob es überhaupt noch eine echte Vielfalt in den Medien gebe und anderes mehr.

Ist man Eule, Wolf, Fuchs, Schildkröte oder Affe?

Auch in der Ausstellung selbst kann man viele Fragen beantworten – und dabei feststellen, welcher Streittyp man ist. Und zwar anhand eines bestimmten Tieres: Eule, Wolf, Fuchs, Schildkröte oder Affe. Jedem Tier sind bestimmte Eigenschaften zugeordnet. Beim Rundgang halten die Besucher ihre gewählten Tier-Chipkarten an die Antwort, die ihnen am ehesten zusagt. Als Ergebnis ist in der vergangenen Woche herausgekommen: Von mehr als 800 Besuchern hatten 32 Prozent als Eule abgestimmt. Dazu heißt es: Die Eule „erklärt eigene Gefühle, bietet Lösungsvorschläge an und versucht sich in die Lage des Gegenübers zu versetzen, geht oft Kompromisse ein, manchmal zum eigenen Nachteil“.

20 Prozent der Besucher stimmten als Fuchs ab. Dieser „folgt Diskussionen sehr aufmerksam, hat eine schnelle Auffassungsgabe, streitet strategisch und auch opportunistisch und kann seine Abneigung gegen andere Meinungen schlecht verbergen“. 17 Prozent entsprachen dem Affen: „streitet sich gern und ist schlagfertig, hat stets Argumente, Thesen oder Zitate parat, äußert sich zu allem, ist dabei aber mal mehr, mal weniger gut informiert“. Es folgten ebenfalls 17 Prozent als Schildkröte: „ist ruhig und bedacht, eine gute Beobachterin und kann sich (wenn es sein muss) aus einem Streit zurückziehen, Streitvermeidung kann als Desinteresse gedeutet werden“. Und immerhin 14 Prozent stimmten als Wolf ab:„ selbstbewusst, meinungsstark, widerspricht und kritisiert häufig, lässt sich nur schwer von den Argumenten anderer überzeugen“.

So albern das mit den Tieren vielleicht wirkt: Solche Kurzporträts sollen auch jungen Leuten helfen, sich selbst kennenzulernen, mit ihren Stärken und Schwächen – dass man vielleicht nicht genügend über ein Thema informiert ist und trotzdem andere Meinungen nicht gelten lässt. Oder dass man einem Streit generell aus dem Wege geht. Was ja oft auch deswegen passiert, weil man die negativen Emotionen nicht haben will, die damit verbunden sind.

Zehn Regeln für einen guten Streit

Um sich beim Streit nicht von Emotionen fortreißen zu lassen, ist es gut zu lernen, wie man einen Streit führt und auch beendet – vielleicht durch einen Kompromiss oder die sachliche Einsicht, dass man sich nicht einigen kann. „Manchmal ist es weniger das Reden und mehr das Zuhören, was einen Streit zu einer guten Sache werden lässt“, schreiben die Ausstellungsmacher. Und sie präsentieren „Zehn Regeln für einen guten Streit“, die auch in Alltagssituationen, etwa bei einem Streit unter Partnern, angewendet werden können. Dazu gehört als Erstes: „Versuche, wirklich zu verstehen“ (aktives Zuhören).

Weitere Regeln sind: „Bleibe beim Thema“, „Stelle offene Fragen“ („Warum glaubst du, dass ...?“), „Finde Gemeinsamkeiten“, „Belehre dein Gegenüber nicht“, „Begründe deinen Standpunkt“, „Interpretiere wohlwollend“ (akzeptiere die starken Argumente des Gegenübers), „Übe sachliche Kritik“ (vermeide offene Konfrontation und Pauschalisierungen), „Deeskaliere“ (bleibe ruhig und achte darauf, dass die andere Seite ihr Gesicht nicht verliert) und „Wechsle die Perspektive“. Aber: „Wenn eine Grenze überschritten wurde, ist es in Ordnung, das Gespräch zu beenden.“ Solch eine Annäherung an das Thema Streit könnte gewiss so manchem guttun. Die Ausstellung bietet eine einzigartige Gelegenheit dafür.

Die Ausstellung „Streit. Eine Annäherung“ ist bis zum 27. August 2023 im Museum für Kommunikation Berlin, Leipziger Straße 16 in Berlin-Mitte zu sehen.