Literatur

„Historiker streiten“: Über den stolpernden Versuch, die Debatte zu bündeln

Der Sammelband „Historiker streiten“ bringt gegensätzliche Positionen zusammen, lässt dabei aber leider wichtige Perspektiven außen vor. Ein Auftakt für mehr.

Eine Besucherin des Holocaust-Mahnmals in Berlin steht bei hochsommerlichen Temperaturen auf einer der Stelen und fotografiert.
Eine Besucherin des Holocaust-Mahnmals in Berlin steht bei hochsommerlichen Temperaturen auf einer der Stelen und fotografiert.dpa/Jörg Carstensen

Historiker:innen streiten ja eigentlich immer. Mal mit ihren Geldgebern, mal mit der eigenen Motivation. Die meiste Zeit aber mit anderen Historiker:innen. Seit etwa anderthalb Jahren aber tobt – anders kann man es nicht sagen – eine Debatte im deutschsprachigen Raum, die in ihrer Härte kaum Vorgängerinnen kennt und inzwischen über alle Fachgrenzen hinaus entbrannt ist: der sogenannte „zweite Historikerstreit“.

Mit ihrem am 29. September erscheinenden Sammelband „Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte“ ziehen die Philosophin Susan Neiman und der Historiker Michael Wildt nun ein umfassendes Resümee. Ihr Buch schließt an ein gleichnamiges Symposium im Oktober letzten Jahres am Potsdamer Einstein Forum an. Auf der einen Seite steht hier die Shoah, Zivilisationsbruch und Negativfolie der demokratischen Bundesrepublik. Auf der anderen Seite eine kaum überschaubare Breite unterschiedlicher Gewalterfahrungen, die in das multidirektionale Gedächtnis einer diverser werdenden, deutschen Gesellschaft tief eingeschrieben sind. Keine Frage: Die Erinnerungskultur der Dominanzgesellschaft passt sich der Vielfalt postmigrantischer Erinnerung(en) an. Nur eben wie, das ist die Frage dieses Streits.

Die These von der Singularität als moralisches Gebot sei überholt

Auch wenn Unterschiede zwischen Genoziden auszumachen sind – ein Gemeinplatz – so ist die These von der Singularität des Holocaust als moralisches Gebot überholt, behauptet Herausgeberin Neiman in ihrem einleitenden Vergleich des jüngeren Historikerstreits mit dem aus den 1980er-Jahren. Damals stritten der Historiker Ernst Nolte und der Sozialphilosoph Jürgen Habermas über die Zusammenhänge stalinistischer und nationalsozialistischer Verbrechen. Das Ergebnis war die sich durchsetzende Anerkennung der Singularität der Shoah. Neimans These leuchtet jedoch ein, zumal sie Universalismus und Solidarität bestärkt und die Singularitätsthese selbst historisiert. Wie gut täte es dem „zweiten Historikerstreit“, wenn die deutsch-deutsche Perspektive über das Mantra des verordneten Antifaschismus hinaus Beachtung fände.

Daran schließt ein Gespräch zwischen Neiman und dem Schriftsteller Ingo Schulze an, in dem Schulze über ostdeutsche Verhandlungen des Gedenkens an die Shoah berichtet. Im Beitrag des Historikers Sebastian Conrad lässt sich noch mehr zu globalen Verflechtungen deutscher Erinnerungskultur erfahren. Mario Keßler, ebenfalls Historiker, schreibt etwa über den Umgang mit dem kolonialen Erbe in der DDR.

Das Kernstück des Buchs bilden die Beiträge von Omer Bartov und Dirk Moses, die sich bereits auf der Tagung des Einstein Forums gestritten hatten. Moses hatte im Mai 2021 mit seinem polemischen Text „Der Katechismus der Deutschen“ den Stein des zweiten Historikerstreits überhaupt erst ins Rollen gebracht. Beide – Moses und Bartov – schreiben aus ihrer persönlichen Sichtweise. Moses misst schnellen Schritts die konfliktreiche Debatte ab, Bartov erzählt einleuchtend von seiner Studienzeit in Deutschland zur Zeit des ersten Historikerstreits. Zudem erinnert er an die ungemein wichtige Frage, wer überhaupt deutsche Geschichte schreibt, spricht Moses in diesem Zuge jedoch vollends ab, mit seinem „Katechismus“ überhaupt über Geschichte schreiben zu können. Der wiederum erwidert, dass Bartov sich von der deutschen Geschichte „terrorisieren“ lasse – und plädiert für den grundsätzlichen Blick über den Tellerrand hinaus. Es lohnt, diese beiden Texte nebeneinander zu legen. Vielleicht lässt sich Per Leos Beitrag als Versuch einer Schlichtung lesen.

Bei aller berechtigter Kritik Moses’ an der „älteren Generation von Historikern“ – gemeint sind etwa die Autor:innen des zuvor im Januar 2022 erschienenen Bands „Ein Verbrechen ohne Namen“ oder auch Yehuda Bauer, der sich in dem Band ebenfalls fachgerecht an Moses abarbeitet –, hängt er sich jedoch etwas zu sehr an einem Generationsmodell auf, spöttelt beispielsweise an einer Stelle über einen „Jungreporter“. Dennoch, auch nach anderthalb Jahren bleibt Moses „Katechismus“-Analyse der berechtigte, neuralgische Punkt dieses Streits.

Schwarze und manch andere Stimmen fehlen

Nicht alle Beitragenden dieses Bandes sind Historiker:innen im engeren Sinn, und das tut dem Band gut. Eva Menasses Rückschau auf die überhitzte Debatte von BDS-Verbot bis documenta 15 liest sich wie eine lebensreale Fortführung ihres Epos „Dunkelblum“ – nur eben etwas komischer. Jan Philipp Reemtsma geht den Wehrmachtsausstellungen und der anthropologischen Bedeutung von Fotografien nach. Besondere Aufmerksamkeit verdient auch Fabian Wolffs Beitrag, der sich aus dieser konfliktreichen Debatte etwas herauszieht und über den zu früh verstorbenen Historiker und Polemiker Tony Judt schreibt. Judt war vom cultural turn seines Faches nicht überzeugt gewesen. Eignet er sich also für Kritik an postkolonialen Positionen? Nein, sagt Wolff, und verweist auf Judts Haltung zum diasporischen Leben, Israel sowie auf seine Befunde des politisierten Vorwurfs des Antisemitismus. Neue Gedanken wie diese sind wegweisend für diese so verfahrene Debatte.

Spätestens an diesem Punkt fällt der rote Faden des Sammelbands auf, unterschiedliche Positionen fernab eines Versuchs der Vereinnahmung von Erinnerung für nationalistische Projekte zu diskutieren. Sicher, die versammelten Haltungen zum „zweiten Historikerstreit“ hätten diverser sein können. Jan Grabowski und Emily Dische-Becker etwa sind Stimmen, die in diesem Kontext fehlen.

Die Forscherin und Aktivistin Zoé Samudzi, die ursprünglich auch einen Vortrag auf der Tagung im Oktober hielt, ist in diesem Buch nicht vertreten, was nicht zu Unrecht Bestürzung auf sozialen Medien verursacht hat.

Zoé Samudzis Vortrag lieferte wichtige Impulse

Samudzis Tagungsvortrag mit dem Titel „A German History of Namibia or a Namibian History of Germany?“ beschäftigte sich mit der Geschichtsschreibung über Genozide aus der Perspektive der Täter:innen – und einer möglichen Auflösung dieser Problematik durch die Anerkennung kolonialen Leids. Den „zweiten Historikerstreit“ im engeren Sinn sprach Samudzi dabei nur am Rande an. Es ist zwar das Recht der Herausgebenden, einen in deren Augen thematisch unpassenden Beitrag nicht in ein Buchprojekt mit aufzunehmen, wie Michael Wildt in seiner Entschuldigung an Samudzi auf Twitter zu erklären versuchte. Neiman und Wildt sind nicht zuletzt wichtige Stimmen, die sich immer wieder für die Öffnung erinnerungskultureller Perspektiven einsetzten. Aber gerade diese Öffnung hätte wichtige Wissensimpulse wie die Samudzis bitter nötig – Impulse, die aus dem Dickicht der deutschen Debatte herausstechen und Horizonte erweitern.

Schwarze und palästinensische Autor:innen – überhaupt, Autorinnen – bleiben, bis auf Sami Khatibs wichtigen Beitrag, in diesem Band leider weitestgehend außen vor. Vielleicht sollte das zu einem gewissen Grad gar nicht verwundern. Denn der „zweite Historikerstreit“ zeigte sich als unerbittlicher Konflikt, der von unschönen Schmähkampagnen getragen wurde. So manche:r Autor:in sieht das diskursive Feld zum Erinnern an Genozide daher wohl eher auf internationaler Ebene. Im gelungenen Zusammenbringen der hier versammelten Positionen liegt ein großer Verdienst. Doch eine Fortsetzung dieses Bands mit einem breiteren Spektrum an Stimmen ist unablässig für die weiterhin sachliche Fortführung dieser Debatte.

Susan Neiman, Michael Wildt: Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte. Propyläen Verlag, Berlin 2022. 368 Seiten, 26 Euro

Anm. d. R.: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, Schwarze und palästinensische Autori:innen blieben im Sammelband „Historiker streiten“ insgesamt außen vor. Dies wurde nachträglich korrigiert.