Natürlich, der Westen! Beim flüchtigen Surfen durch das Internet begegnete ich kürzlich der These eines für seine provokanten Interventionen bekannten Intellektuellen, der zufolge der Westen längst dabei sei, die Ukraine zu kolonisieren. Schlecht gelaunt klickte ich weiter, der Grund meines Unbehagens wurde mir erst später bewusst.
Es rührte nicht zuletzt daher, dass ich versucht war, zumindest ein Stück weit mit der Kritik an der Unterstützung der Ukraine durch westliche Staaten mitzugehen. Ist es nicht so, dass derzeit in Windeseile Entscheidungen für eine spätere politische Umsetzung getroffen werden, die in Friedenszeiten sehr viel mehr Zeit in Anspruch genommen hätten oder nie in Erwägung gezogen worden wären? Eine Nato- und EU-Mitgliedschaft für die Ukraine, um nur diese immer wieder genannten Kernprojekte zu nennen, werden tektonische Verschiebungen in der geopolitischen Konstellation auslösen, die als Weltordnung zu bezeichnen inzwischen als unbedacht-euphemistische Äußerung gilt.
Aufgeklärte Gesellschaft?
Mein Missmut über die These einer möglichen westlichen Kolonisierung bezog sich indes auf die Verknüpfung der militärischen Unterstützung der Ukraine mit dem zuletzt in verschiedenen Spielarten kursierenden Begriff des Kolonialismus. Was lange als eine vergangene, wenn nicht sogar überwundene Phase der imperialistischen Herrschaft galt, kehrt nun als politischer Schuldkomplex zurück, dem weitere historische Aufarbeitung zukommen zu lassen, eine sich aufgeklärt wähnende Gesellschaft sich kaum entziehen kann. Aufgeklärte Gesellschaft? Selbst diese mit emphatischem Timbre versehene Vorstellung hat Kratzer abbekommen, seit man unverdächtigen Denkern wie Immanuel Kant mit Vorwürfen traktiert, rassistischen Haltungen das Wort geredet zu haben.
Die These von der Kolonisierung der Ukraine durch den Westen markiert auf subtile Weise einen Schuldzusammenhang, der argumentativ nicht ohne weiteres zurückzuweisen ist. Es wäre natürlich leicht, die Perfidie des Gedankens zu benennen, weil er den aggressiv-imperialistischen Angriff auf die Ukraine durch Putin und dessen Gefolgsleuten unterschlägt. In dem Diskurssystem, in dem sich der thesenfreudige Intellektuelle bewegt, der westliche Militärhilfe als ungenierten Utilitarismus meint, entlarven zu können, entspräche der Verweis auf die Gewaltpolitik Putins der Redefigur des Whataboutism. „Komm mir jetzt nicht mit Putin“, soll das besagen, „um von den bösen Absichten des Westens abzulenken.“
Tatsächlich verlaufen derzeit gerade sehr viele politische Debatten nach diesem und ähnlich verworrenen Mustern. Wer sich kritisch zur bewusst eingesetzten Störsprache, dem Gendern, äußert, wird nicht selten verdächtigt, sich gemein zu machen mit den Weltbildern rechtsradikaler Strategen. Und wer die Haltung der anti-israelischen Boykottbewegung BDS ablehnt, dem kann es passieren, mild lächelnd darauf hingewiesen zu werden, dass er oder sie gerade dem Kampagnenmodus der Springer-Presse aufgesessen ist. Das Muster ist mühelos zu kopieren. Das literaturwissenschaftlich geschulte Eintreten für einen alten Text, in dem das N-Wort vorkommt, kann sich als gefährliche Relativierung und Schlimmeres entpuppen. Vor der Lust am spontanen Widerspruch jedenfalls ist die umsichtige Selbstvergewisserung geboten, um nicht in diskursive Fallen zu tappen.
Abgebrühtheit und Gelassenheit
Was tun, wenn man angehend einer weitgehend freidrehenden Hermeneutik des Verdachts nicht einfach aufgeben will? Ich schlage eine gewisse Abgebrühtheit und Gelassenheit vor. Nicht alles, was Debatte genannt wird, ist auch eine. Wer überall mitredet, macht sich verdächtig, nichts zu sagen zu haben. Ohne Zweifel ist argumentative und sprachsensible Wachsamkeit geboten, um herauszufinden, ob es sich lohnt, über koloniale Schuld und deren Nachleben in der postkolonialen Konstellation zu reden. Oder ob sie lediglich als Trigger benutzt wird, die eine echte Auseinandersetzung über geopolitische Veränderungen konterkariert.


