Es gibt sie doch. Menschen, die soziale Medien durchforsten. Nach Enthauptungen, Vergewaltigungen, Suiziden suchen, nach anstößigem „Content“ und menschlichen Abgründen. Sie sehen, was alle anderen nicht sehen sollen. Nicht sehen wollen. Oft auch nicht sehen können.
Kayleigh ist eine von ihnen. Die Protagonistin in Hanna Bervoets’ neuem Roman „Dieser Beitrag wurde entfernt“ stellt sich täglich nur eine Frage: „Darf der vorliegende Beitrag auf der Plattform stehen bleiben?“ Sie arbeitet bei Hexa, einem Subunternehmen eines „einflussreichen Technologieunternehmens“, und kennt die Spielregeln der sozialen Medien.
Blut darf nur sichtbar sein, wenn es „komisch“ ist; Sadismus ist nur mit „aufklärerischem Wert“ okay. Tiere dürfen in Fotos aus dem Fenster geworfen werden, in Videos dagegen nicht. Und geschützte Gruppen – Frauen, Lesben, Schwule, sogar Heterosexuelle – dürfen nie verallgemeinernd diskriminiert werden. „Alle Moslems sind Terroristen“ müsste gelöscht werden, „‚Alle Terroristen sind Moslems‘ ist dagegen erlaubt, denn Terroristen sind keine GG, und ‚Moslem‘ ist außerdem keine Beleidigung“, erklärt die Ich-Erzählerin im Buch.
Community Management: 500 Beiträge am Tag, Stoppuhr auf dem Klo
Neben den Richtlinien der Plattform lernen die Angestellten bei Hexa auch die Spielregeln grenzenloser liberaler Marktwirtschaft kennen. Nur wer 500 Beiträge am Tag „schafft“, erfüllt die Quote und darf bleiben. Alle anderen gehen bald freiwillig. Die Pausen sind mit sieben Minuten zu kurz, selbst der Toilettengang wird gestoppt.
Doch Kayleigh bleibt. Ihr Schuldenberg ist hoch, die Bezahlung bei Hexa verhältnismäßig gut. Und die junge Frau ist erschreckend souverän. Mit ihrer Abgebrühtheit ist sie eigentlich allein. Ihre Kolleginnen und Kollegen verlieren nach und nach den Verstand. Der eine leidet so sehr unter Verfolgungswahn, dass er sich nur noch mit Elektroschocker ins Bett traut – wenig später kündigt er mit den Worten: „Ich fühle mich einfach nicht mehr wie ein Mensch.“ Andere ertragen die Bilder der „Beiträge“ nur noch berauscht; erst wird täglich nach Feierabend exzessiv getrunken, später auch während der Arbeitszeiten.
Doch in Sigrid findet Kayleigh schnell eine Seelenverwandte, später eine Freundin und Liebhaberin. Erst langsam fällt ihr auf, dass ihre Partnerin von heftigen Albträumen geplagt wird. Als Sigrid zusammenbricht, merkt Kayleigh, dass mit dem Entfernen aus dem Netz nicht auch die Erinnerung gelöscht wird.
Kräutertee statt Therapie: Soziale Medien machen krank
Sigrid therapiert sich aber lieber selbst. Erst mit vermeintlich wohltuenden Teemischungen und magischen Superbeeren, später versucht sie es mit Meditations-Apps. Als all das kaum für Linderung sorgt, verirrt sich Sigrid immer mehr in Verschwörungsmythen: Homöopathie, Flat-Earth-Theorien, Shoa-Leugnungen.
Mit ihrem Roman gibt die Niederländerin Hanna Bervoets einen Einblick in die Schattenwelt der oft auch unsozialen Medien und führt zu einem entscheidenden Punkt: Was ist normal – und was ist die Norm? Wie schnell sich bei der Beantwortung dieser heiklen, aber streng normierten Frage der moralische Kompass verschieben kann, zeigt Bervoets exemplarisch an der Figur der Sigrid. Beim Lesen kommen allerdings Zweifel auf, ob Verschwörungsmythen wirklich so infektiös sind, wie der Roman hier suggerieren will.

