Kommentar

Machtwort des Kanzlers: Die Ampel ist in einer deprimierenden Verfassung

Olaf Scholz weist die Laufzeit aller drei deutscher Atomkraftwerke bis April 2023 an. Das eigentliche Problem löst sein Basta aber nicht.

Diskutiert er noch oder weist er schon an? Bundeskanzler Olaf Scholz mit Finanzminister Christian Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck im Rahmen einer Kabinettssitzung.
Diskutiert er noch oder weist er schon an? Bundeskanzler Olaf Scholz mit Finanzminister Christian Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck im Rahmen einer Kabinettssitzung.dpa/Michael Kappeler

Kurz nach 18 Uhr am Montag ploppte der Brief des Bundeskanzlers in die Mail-Eingänge der Hauptstadtjournalisten. Ein Regierungssprecher wies in der Begleitmail vorsorglich darauf hin, dass es sich bei der abendlichen Post um ein Schreiben von Bundeskanzler Olaf Scholz an sein Kabinett handele, „das ich Ihnen gerne zur Kenntnis gebe“. Ganz klar, hier sollte eine Information nicht durchgestochen, sondern systematisch flächendeckend verteilt werden. Ein Wumms gewissermaßen.

Der Brief ging nicht an das ganze Kabinett, wie es der Sprecher beschrieb, sondern an drei Ministerien: Umwelt, Wirtschaft und Finanzen. Die „liebe Kollegin“ und die „lieben Kollegen“ und natürlich die Öffentlichkeit wurden darin Zeuge eines historischen Moments: Der Kanzler macht von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch. Nicht im Gespräch unter vier oder sechs Augen als kleiner Wink mit dem Zaunpfahl, sondern auf offiziellem Briefpapier und dem expliziten Verweis auf „Paragraph 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung“.

Dann folgte die Weisung des Regierungschefs: Die zuständigen Minister sollen die gesetzliche Grundlage schaffen, „um den Leistungsbetrieb der Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 sowie Emsland über den 31.12.2022 hinaus bis längstens 15.4.2023 zu ermöglichen.“ Parallel zu dieser Entscheidung soll ein „ambitioniertes Gesetz zur Steigerung der Energieeffizienz vorgelegt“ und der vorzeitige Kohleausstieg im Rheinischen Revier gesetzlich geregelt werden.

Mit diesem Basta beendete der Kanzler den seit Tagen geführten Koalitionsstreit um den Weiterbetrieb der letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland. Die Grünen wollten nur zwei der drei AKW im sogenannten Streckbetrieb bis März 2023 vorhalten. Streckbetrieb bedeutete in dem Zusammenhang: Zuschalten, wenn nötig. Aber nur dann. Ganz anders die FDP. Sie wollte den Betrieb bis 2024 weiterführen, den Kauf neuer Brennstäbe inklusive. Die Einigung eilte, denn für jede Regelung muss das Atomgesetz geändert werden – andernfalls wären alle drei AKW zum Ende des Jahres abgeschaltet worden.

Nun hat Scholz den gordischen Knoten durchschlagen, jedenfalls auf den ersten Blick. Er hat beiden Streithähnen etwas gegeben und gleichzeitig etwas genommen. Die Grünen müssen schlucken, dass es nun um einen Leistungsbetrieb geht und das von allen drei AKW. Die FDP muss hinnehmen, dass schon 2023 Schluss ist und nicht erst im Jahr darauf.

Auf den ersten Blick scheinen die Liberalen damit besser klarzukommen. Deren Parteichef und Finanzminister Christian Lindner twitterte flott, der Kanzler habe nun Klarheit geschaffen. Er lobt den Weiterbetrieb von allen drei AKW und erklärte: „Der Vorschlag findet daher die volle Unterstützung der Freien Demokraten.“ Die Grünen mussten länger Luft holen und kommentierten zurückhaltender. Klar, sie haben vor wenigen Stunden erst ja einen abweichenden Parteitagsbeschluss gefasst.

Wirtschaftsminister Habeck erklärte am späten Abend zwar, er könne „mit dem Vorschlag arbeiten“. Fraktionschefin Britta Haßelmann aber sagte, man nehme zur Kenntnis, dass der Kanzler seine Richtlinienkompetenz ausübt. „Wir werden nun mit der Fraktion beraten, wie wir mit der Entscheidung des Kanzlers umgehen.“ Dazu muss man sagen, dass Scholz zwar anweisen kann, welche Gesetzentwürfe ausgearbeitet werden – die nötige Mehrheit im Bundestag müssen sie aber dennoch finden. Formal hat Haßelmann also recht. Aber die Mehrheit ist nicht ernstlich in Gefahr – sonst könnte die Ampel sofort einpacken.

Aber auch so bietet das Regierungsbündnis einen deprimierenden Anblick. Noch kein Jahr ist die Fortschrittsregierung im Amt, die so vieles anders machen wollte als die zerstrittene Vorgängerin, vor allem auch im Umgang miteinander. Und doch sieht der Regierungschef keinen anderen Ausweg als sein Chef-Ass auf den Tisch zu hämmern. Wäre es nicht klüger gewesen, auf dieses Getöse zu verzichten und mal ein bisschen eher hinter den Kulissen zu managen? Führung bestellt, Führung geliefert, könnte man auch sagen. Die Frage ist, wie oft er so etwas wiederholen kann.

Tatsache ist, dass Angela Merkel in ihren 16 Jahren Kanzlerinnenschaft niemals auf ihre Richtlinienkompetenz gepocht hat, noch nicht mal in den schlimmsten Zeiten mit dem renitenten CSU-Minister Horst Seehofer. Bei Olaf Scholz hat es nur wenige Monate gedauert, bevor er zum letzten Mittel greifen musste. Das lässt für die Zukunft nichts Gutes ahnen.