Es ist 23.33 Uhr, als die ersten Erinnerungen wach werden. Ich liege schon im Bett, als das Telefon plötzlich trotz Stummschaltung laut wird. „Achtung, Luftschutzalarm! Begeben Sie sich zum nächsten Luftschutzraum“, heißt es auf Ukrainisch aus der App „Tryvoha!“, die über Luftschutzalarme in der Ukraine informiert. Auch die Sirenen gehen einige Sekunden später an. Zuletzt habe ich die am 24. Februar gegen 7 Uhr morgens gehört. Ich las gerade die Nachrichten über die begonnene große Invasion Russlands in der Ukraine. Auf den Straßen räumten Menschen Kinder, Haustiere, Hab und Gut in die Autos. An Geldautomaten standen Hunderte Menschen Schlange, an Tankstellen reihten sich Autos gar kilometerlang aneinander.
Mehr als 200 Mal Luftschutzalarm seit Februar
Seitdem gab es laut Statistik insgesamt mehr als 200 weitere Luftschutzalarme in der Region Lwiw. Auch in Lwiw, das bis 1918 zu Österreich-Ungarn gehörte und Lemberg genannt wurde, wurden zivile Gebäude getroffen. Auch ein kleiner Reifenhändler bekam am 18. April einen Volltreffer ab. Sieben Menschen starben allein dort. Von dem Gebäude blieben nur noch die Grundmauern übrig. Auch die wurden später bei den Aufräumarbeiten abgetragen, heute steht fast nichts mehr. Am Zaun des Grundstücks erinnern Plakate an das Kriegsverbrechen.
The death toll in #Lviv has risen to 7 people, 11 injured - 3 of them in serious condition, said the head of Regional Military Administration Kozytsky. This is preliminary data that may change. The fires were extinguished, but the facilities were destroyed.#UkraineRussiaWar pic.twitter.com/WIHJZD9lRD
— SUSPILNE NEWS 📰 (@suspilne_news) April 18, 2022
Ein halbes Jahr nach Beginn des großflächigen russischen Angriffs sind die Luftschutzalarme für die meisten Menschen zur Gewohnheit geworden. Niemand gerät in Panik. Olha Myhal, stammt aus Lwiw, lebte aber bis März in Kiew. „Manchmal dauert es 20 Minuten bis zur Entwarnung, manchmal mehr als eine Stunde“, sagt sie. Die Statistik verrät, dass der längste Luftschutzalarm in der Region Lwiw ganze fünfeinhalb Stunden gedauert hat. Seit meiner Ankunft am 13. August hat es 17 weitere gegeben. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Manchmal heulen die Sirenen zwei Tage lang nicht. Dann gibt es gleich sieben innerhalb von 24 Stunden. Das ist auch der Hauptgrund, warum kaum noch jemand Schutz in den Kellern sucht. Diese sind zwar überall ausgewiesen. Würden die Lemberger dort aber jedes Mal hingehen, hätten sie seit Kriegsbeginn weit mehr als eine Woche ihrer Lebenszeit dort verbracht. „Manchmal verschlafe ich den Alarm ganz“, sagt Olha. In anderen Teilen der Ukraine sieht es jedoch deutlich anders aus. In Städten näher an der Front ist der Beschuss deutlich häufiger.
Essen für Soldaten im Restaurant bezahlen
Bei einem Spaziergang durch die Stadt fallen die vielen patrouillierenden Soldaten und schwer bewaffnete Polizisten auf. Viele Spaziergänger tragen patriotische Kleidung, manche mit dem ukrainischen Staatswappen, manche mit bekannten Sprüchen aus der Zeit seit Februar. Einige T-Shirts zeigen das Motiv einer Briefmarke, das die ukrainische Post herausgegeben hat. Darauf zeigt ein ukrainischer Soldat dem vermutlich bei einem ukrainischen Angriff versenkten russischen Flaggschiff „Moskwa“ den Mittelfinger. In einigen Kneipen wird Bier ausgeschenkt, dass den russischen Diktator Putin mit einem kräftigen Fluch bedenkt. Auf einem anderen Bier sieht man Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Naziuniform. Beide Biere entstanden zwar deutlich vor dem Beginn der Invasion, besonders das Putin verfluchende Bier hat aber noch mal deutlich an Popularität gewonnen.

Überall werden Spenden für die Armee und zur Unterstützung geflüchteter Ukrainer gesammelt. „Bei uns gibt es die Möglichkeit, das Essen für einen Soldaten zu bezahlen“, sagt Furkat Ibrahim, der ein usbekisches Restaurant besitzt. So können Gäste einfach ein Mahl bezahlen, dass sie nicht essen und es als Kredit für Soldaten lassen, die das Restaurant besuchen. „In Lwiw machen das sehr viele Cafés und Restaurants“, sagt Ibrahim.
Binnenflüchtlinge aus der Ostukraine statt Touristen aus dem Westen
Bis Februar war Lwiw ein Touristenmagnet, mit Billigflügen konnte man sie aus vielen Städten Europas direkt erreichen – auch aus Berlin, München oder Düsseldorf. Der Flughafen liegt seit Februar brach. Wer nach Lwiw reisen will, kommt mit dem Bus, dem Auto oder per Zug aus Polen. So dauert die Fahrt ab Deutschland oft mehr als 20 Stunden.
Die einst von Touristen dicht an dicht gefüllten Kirchen und andere Sehenswürdigkeiten sind mittlerweile leer. Zwar kommen noch vereinzelte Gäste zu den Attraktionen, doch die meisten Fenster sind mit Brettern vernagelt, um sie vor Luftangriffen zu schützen. Denkmäler sind von Gerüsten umhüllt. Die meistbesuchte Attraktion der Stadt sind nicht mehr das Haus der Wissenschaften mit seiner berühmten Holztreppe oder das bekannte Opernhaus der Stadt, das noch aus der Zeit der österreichischen Herrschaft über Galizien stammt. Derzeit drängen sich Einheimische und Besucher vor allem um die Wracks von Panzern und Geschützen, die die ukrainische Armee bei der Verteidigung des Landes zerstört hat und die nun auf dem Marktplatz von Lwiw ausgestellt werden.

Auch das Gewirr in den Straßen hat sich merklich verändert. So sind die Gassen zwar ähnlich belebt wie im letzten Sommer. Dennoch ist der Sprachenmix der Touristen dem Ukrainischen und Russischen von Einheimischen und Binnenflüchtlingen aus der Ukraine gewichen. Laut Auskunft der Stadtverwaltung befinden sich derzeit rund 150.000 Binnenflüchtlinge aus anderen Teilen der Ukraine in Lwiw.
„In naher Zukunft eröffnen wir ein weiteres Containerdorf für die Flüchtlinge“, sagt Andrij Moskalenko, Vizebürgermeister von Lwiw. Doch auch der Wohnungsmarkt hat sich trotz Abwanderung durch die Binnenflüchtlinge noch weiter verknappt. „Die Mieten sind seit Februar zunächst sehr stark gestiegen. Mittlerweile haben sie sich jedoch auf einem Niveau von zehn bis 20 Prozent über denen vor Februar eingependelt“, sagt Rostyslaw Tschuwartschuk, Immobilienmakler bei West Estate in Lwiw.
Gespenstische Ruhe in den Straßen von Lwiw nach 23 Uhr
Doch auch wenn Lwiw eine der sichersten Städte der Ukraine ist, so gilt auch hier des Nachts eine Ausgangssperre. Um 23 Uhr müssen alle Bewohner der Stadt sich innerhalb von Häusern befinden. Die meisten Restaurants schenken die letzte Runde daher schon ab 21 Uhr aus. Spätestens gegen 22 Uhr strömen alle nach Hause. Ab 23 Uhr sind die Straßen totenstill und es sind nur noch vereinzelt Stimmen und Fernseher durch die offenen Fenster zu hören.
Für die nächsten sechs Stunden, bis 5 Uhr morgens, ist so gut wie kein Auto zu hören. „Das ist eine Anweisung der Militärverwaltung“, erklärt Vizebürgermeister Moskalenko. So habe man besonders zu Beginn der Invasion im Februar und März mit russischen Saboteuren in der Stadt zu tun gehabt. Diese sammelten nachts Informationen über Truppenbewegungen und markierten Objekte für Luftschläge. Mittlerweile sind solche Nachrichten zwar nur noch selten zu hören. „Aber wir rechnen nicht damit, dass die Ausgangssperre in naher Zukunft gelockert wird“, so Moskalenko.
Party den ganzen Tag – oder die ganze Nacht
So verlagert sich so manche Aktivität auf den Abend oder gar den Tag. So veranstalten hiesige Techno-Clubs ihre Partys oft einfach tagsüber. Gefeiert wird dann von morgens bis zur Ausgangssperre. „Manche Clubs machen aber trotzdem auch nachts Partys. Die illegalen Partys machen dann einfach nachts die Türen dicht und wer mitfeiern will, muss einfach bis 5 Uhr morgens bleiben“, erzählt mir ein Clubgänger.
Das kann jedoch auch schiefgehen. So gibt es Berichte von Razzien durch Polizei und Militärpolizei bei einzelnen Partys. Neben Strafen sollen dort durch die Militärpolizei auch Einberufungsbescheide an die männlichen Teilnehmer der illegalen Partys verteilt worden sein. Und auch außerhalb der Techno-Szene beeinflusst die Ausgangssperre die soziale Terminplanung. „Wir treffen uns mit Freunden jetzt meistens einfach zu früherer Stunde – also am Wochenende oft schon um 17 statt früher 19 oder 20 Uhr“, sagt Olha Myhal. Dennoch hat die Ausgangssperre bei vielen Kneipengängern einen positiven Nebeneffekt. „Ich hab schon eine Weile keinen Kater mehr gehabt. Man kann einfach nicht mehr so lang trinken“, sagte Olha Myhal.





