Russische Propaganda

Ukrainischer Philosoph Jermolenko: „Die Gulags gab es schon vor den Gaskammern“

Die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine überrascht viele im Westen. Die Ukrainer kennen die Gewalt. Sie zieht sich durch die russische Geschichte.

Ein historisches Foto (ein Soldat bewacht Häftlinge auf dem Weg zur Arbeit) in der Ausstellung im Gulag Perm 36. Das Arbeitslager im Dorf Kucino befindet sich ca. 90 Kilometer östlich der Stadt Perm im Ural. Es ist das einzige erhaltene Arbeitslager auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.
Ein historisches Foto (ein Soldat bewacht Häftlinge auf dem Weg zur Arbeit) in der Ausstellung im Gulag Perm 36. Das Arbeitslager im Dorf Kucino befindet sich ca. 90 Kilometer östlich der Stadt Perm im Ural. Es ist das einzige erhaltene Arbeitslager auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.imago/Hohlfeld

Der Einfluss russischer Propaganda ist weiterhin groß. In Deutschland vermittelt sie bis heute viele falsche Bilder von Ukrainern. Der ukrainische Philosoph und Journalist Wolodymyr Jermolenko beschäftigt sich seit Langem mit russischer Propaganda und Desinformation. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung in der ukrainischen Stadt Lwiw spricht er über Russlands Sicherheitsinteressen, den russischen Kolonialismus und erklärt, unter welchen Bedingungen Russland doch noch einen Sieg in Europa davontragen könnte.

Berliner Zeitung: Herr Jermolenko, Sie beschäftigen sich intensiv mit russischer Propaganda. Das Hauptargument rund um die russische Invasion lautet, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine begonnen habe, um eine weitere Ausdehnung der Nato zu verhindern. Ist diese Argumentation schlüssig?

Wolodymyr Jermolenko: Wenn es Russland wirklich um die Nato-Osterweiterung und um die eigene Sicherheit ging, dann sollte man sich fragen, warum Russland dann Belarus besetzt hat. Belarus war Russland freundlich gesinnt, es gibt vielfältige Beziehungen zwischen den Ländern. Belarus war qua Verfassung neutral, Lukaschenko wollte keine Annäherung an die Nato. Jetzt ist das Land von russischen Truppen besetzt. Und obwohl die belarussische Verfassung die Stationierung von Atomwaffen verbot, wurde diese auf Druck der Russen geändert und nun sollen belarussische Flugzeuge sogar russische Atomwaffen tragen. Hinzu kommen die Kriege in der Republik Moldau und Georgien und die andauernde Besetzung der Territorien dort. Russland sieht sich als ein verletztes Imperium, das es wiederherzustellen gilt.

Die russische Propaganda gegenüber Ukrainern wird immer radikaler. Kürzlich tauchten Videos in russischen Kanälen auf, in denen offen zum Massenmord an Ukrainern aufgerufen wird. Wie kommt es dazu?

Ukrainer werden in der russischen Propaganda schon länger als Nicht- oder Untermenschen dargestellt. Ukrainer sind dort Nazis und Faschisten. Nach der russischen Lesart hat man deshalb das Recht, sie auszurotten. Die russische Propaganda hat diesen Genozid an uns Ukrainern auch schon länger vorbereitet. Mit dem falschen Narrativ, dass Ukrainer im Donbass einen Genozid an Russen begangen hätten, was auch Putin selbst im vergangenen Jahr in einer Rede verbreitet hat, haben die Russen in Wahrheit ihren Genozid an den Ukrainern moralisch vorbereiten und rechtfertigen wollen. Und es gibt übrigens noch ein sehr neues und praktisches Narrativ, das die russische Propaganda gezielt verbreitet: Ukrainer können mit westlichen Waffen nicht umgehen, westliche Waffen werden weiterverkauft und geschmuggelt. Das alles geht auf das Narrativ des brutalen, gierigen, rohen und niederen Ukrainers zurück.

Ist diese Darstellung von Ukrainern eine Entwicklung der russischen Propaganda unter Putin, um Ukrainer zu diffamieren?

Nein, es gibt dafür schon sehr alte Belege. Im Westen wird oft kritisch auf westliche Schriftsteller der kolonialen Epoche geschaut. Man sollte aber auch auf russische Autoren so schauen. In der russischen Literatur werden Ukrainer immer wieder marginalisiert. Wenn man sich zum Beispiel die Werke von Puschkin anschaut, dann werden dort die ukrainischen Kosaken als brutal, unzivilisiert und gewaltbereit dargestellt. Wenn es in der Darstellung von Ukrainern etwas Gutes gibt oder wenn Ukrainer gut sind, dann verhalten sie sich in diesen Werken meistens russisch. Diese Darstellung von Ukrainern als etwas Niederem zieht sich durch die gesamte russische Kultur und Gesellschaft von der Zarenzeit bis heute.

Diese Darstellung des Wilden, die Sie hier beschreiben, kennt man auch aus dem westlichen Kolonialismus gegenüber Afrikanern oder amerikanischen Ureinwohnern.

Das stimmt. Aber es gibt einen Unterschied. Der westliche maritime Kolonialismus betont die Andersartigkeit der kolonisierten Völker. Aus seiner Sichtweise kolonisiert man andersartige, entfernte, minderwertige Völker aus einer anderen Rasse, denen man überlegen sei. Russen hingegen stellen uns Ukrainer als nah zu ihnen dar. Sie sagen, wir seien eigentlich das Gleiche. Wenn Ukrainer ihre Andersartigkeit betonen, wird das von Russen als Verstoß gegen die Norm dargestellt. Die russisch-orthodoxe Kirche diffamiert Ukrainer gar als Satanisten. Russische Politiker nennen Ukrainer Faschisten und Nazis. Sie wollen einen Genozid an uns begehen und unsere Kultur auslöschen.

Dieser Genozid weckt im Westen Vergleiche zwischen Russland und Nazideutschland. Denken Sie, Russland ist ein faschistischer Staat?

Wir haben dafür sogar ein eigenes Wort: Raschist, also die Mischung aus russisch und faschistisch. Ich finde den Begriff zwar problematisch, aber der Putinismus ist eine bestimmte Art des Faschismus. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied zum deutschen Nationalsozialismus. Der Nazismus setzte auf die Erhöhung und die Heraushebung des deutschen Volkes. Dieses Volk sollte leben, sich weiterentwickeln und die Welt beherrschen, weil es nach der Naziideologie überlegen war. Deutsche Leben sind in dieser Ideologie mehr wert als andere. In Russland hingegen ist menschliches Leben wertlos. Es zählt nicht viel. Das ist tief verwurzelt in der russischen Geschichte. Und man sollte nicht vergessen, dass es den Gulag [russisches und sowjetisches Lagersystem zur Inhaftierung von Minderheiten und Regimegegnern] schon lange vor den deutschen Gaskammern gab. Grausamkeit war schon immer ein Schlüssel russischer Herrschaft, der sich durch die Jahrhunderte zieht. Für das 20. Jahrhundert zählt der Nationalsozialismus als der Inbegriff des Bösen. Aber es ist übrigens auch nicht zielführend, hier eine Hierarchie des Bösen aufzustellen, nach dem Motto, was war schlimmer. Andere grausame Regime müssen auch verurteilt und bekämpft werden.

Wolodymyr Jermolenko ist ein ukrainischer Philosoph.
Wolodymyr Jermolenko ist ein ukrainischer Philosoph.Peter Althaus

Nach dem 24. Februar hatte man für kurze Zeit das Gefühl, dass die russische Propaganda an Strahlkraft verloren hat. Mittlerweile scheint sie wieder im Aufwind zu sein. Denken Sie, die russische Propaganda könnte doch noch siegen?

Für die Ukraine kann ich das definitiv verneinen. Wir sind angegriffen worden, und das lässt keinen Raum mehr für Interpretationen – nicht nach Butscha und Mariupol. Für den Westen denke ich, dass die russische Propaganda insgesamt auch eher nicht mehr gewinnen kann, auch wenn sie dort möglicherweise gewisse Erfolge erzielen kann. Im Westen glaubt man einfach der russischen Propaganda nicht mehr so stark. Aber es gibt noch eine dritte Region, und dort hat Russland mit der Propaganda Erfolg: den sogenannten globalen Süden.

Wie kommt das?

Russland polarisiert und stilisiert sich zu einem Antiimperium. Sie stellen den Westen als gierig und blutdürstig dar. In vielen Ländern verfängt das auch, wegen deren eigener Geschichte. Und sie stellen sich sogar als Beschützer des Islams dar, was in Ländern wie Indonesien gut funktioniert. Russland nutzt in diesem Kontext sogar die eigene Brutalität geschickt dafür aus. Denn jede brutale Gewalttat der Russen provoziert eine Reaktion des Westens darauf. Diese Reaktion münzt Russland um in ein: „Schaut her, die mögen uns sowieso nicht.“ Sie wollen die Führungsmacht des Antiwestens und des globalen Südens sein. Und genau hier ist es paradox, denn Russland will sich als antiimperialistisch stilisieren, dabei sind sie selbst eines der grausamsten Imperien in der Geschichte. Mittlerweile ist Russland sogar das einzige Imperium, das es noch in Europa gibt.

Zwar ist noch kein Ergebnis dieses Krieges abzusehen, dennoch hat Russland erheblich an Einfluss eingebüßt, auch weil die westliche Reaktion stärker war, als von Russland erwartet. Könnte Putins Russland in den nächsten Jahren dennoch wieder Oberwasser gewinnen?

Ein sehr bedrohliches Szenario ist die Wiederwahl Donald Trumps 2024 als US-Präsident. Falls das passieren sollte, könnte es ein Treffen Trump-Putin geben. Putin weiß, dass für Trump der Hauptgegner China ist. Er könnte vorschlagen: Ich helfe euch, China zu schlagen, dafür gebt ihr mir halb Europa. Im Gegenzug zieht Trump dann Mittel aus der ohnehin verhassten Nato ab oder verlässt sie ganz und überlässt Putin das Feld. Nur Großbritannien und Frankreich haben in Europa noch Atomwaffen. Man wäre also zurück bei einem Europa 1945.

Wir danken für das Gespräch!