Vor 18 Tagen begann der russische Großangriff auf die Ukraine. Zweieinhalb Millionen Menschen haben das Land verlassen, Millionen sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Viele Menschen aber harren in ihren Städten und Dörfern aus. Es wird viel über Frontverläufe berichtet, über Militärmanöver, Verhandlungsversuche, Telefonate zwischen Staatschefs. Wir haben Menschen in der Ukraine gebeten, uns ihren Alltag im Krieg zu schildern.
Anna Lenchowska und ihr Mann Valera leben in Kiew am rechten Ufer des Dnipro. Sie arbeiten für Bürgerrechtsorganisationen und fürchten deshalb, bei einer Eroberung Kiews durch die Russen besonders gefährdet zu sein. Das Ehepaar hat sich dennoch entschlossen, in Kiew zu bleiben. Anna Lenchowska wollte ihren Vater nicht allein zurücklassen.
„Wir haben einen alten Schrank aus den 1970ern in unserer Wohnung. Er ist massiv und wir haben ihn im Schlafzimmer vor das Fenster geschoben. Wir suchen dort bei Luftalarm Schutz. Es gibt keinen Luftschutzraum in unserem Gebäude. Allerdings ist die Angst, getroffen zu werden, in Kiew auch im Moment nicht so groß. Ich muss sagen, unser Antiraketensystem funktioniert gut. Eine Batterie steht auch in unserem Stadtviertel. Wir können tagsüber auf die Straße gehen und die Geschäfte haben geöffnet. Die Ausgangssperre beginnt erst um 20 Uhr. Nur kann es in jedem Moment eben einen Alarm geben und dann muss ich mich orientieren, wo der nächste Luftschutzraum ist. Es gibt noch Ware in den Supermärkten. Allerdings vor allem teure Sachen, die jetzt niemand braucht. Alltagsgüter wie Zwiebeln oder Tomaten sind dagegen schwerer erhältlich. Inzwischen ist es bei uns so wie in der Sowjetzeit. In einem Supermarkt gibt es Eier, aber falls ich noch Fleisch brauche, muss ich in einen anderen gehen.
Ich spüre um mich herum die Erschöpfung der Menschen. Es gab so etwas wie Trotz in den ersten Kriegstagen. Das war die allgemeine Stimmung. Inzwischen sind die Gefühle komplizierter. Es gibt Hochs und Tiefs. Wut, Angst, Trauer, das gibt es jeden Tag auch in einer anderen Mischung. Ich habe am vergangenen Wochenende meinen Vater ins Stadtzentrum geholt. Er wohnt jetzt in der Wohnung von Freunden, die Kiew verlassen haben. Mein Vater lebt in einem Vorort im Nordwesten mit viel Wald und Seen. Die Gegend erinnert mich an Wannsee in Berlin. Viele Kiewer sind dort hingezogen, weil ihnen das Leben im Zentrum zu anstrengend war. Nun liegen die Vororte direkt an der Front. Die Russen sind in die Wälder vorgerückt. Eigentlich wollte ich meinem Vater nur Lebensmittel vorbeibringen. Aber am letzten Checkpoint hieß es, dass sie nur Menschen durchlassen, die andere evakuieren wollen. Also habe ich meinen Vater angerufen und ihm gesagt, er müsse seine Wohnung verlassen. Ich habe dann noch eine Freundin mitgenommen, die bei meinem Vater in der Nähe wohnt. Wir mussten direkt an den Wäldern vorbei, die schon von den Russen eingenommen worden sind. Das war der schlimmste Moment für mich seit Beginn des Krieges.
Wir überlegen uns einen Plan B, sollte sich die Lage in Kiew verschlechtern. Aber was für Chancen haben wir? Wir können Kiew zu dritt nur mit dem Auto verlassen. Mein Vater hat auch noch einen Hund, den wir mitnehmen müssen. Auf den Straßen aus Kiew heraus ist es aber gefährlich. Da wird geschossen. Außerdem müsste mein Mann wie alle Ukrainer im wehrfähigen Alter im Land zurückbleiben. Wir könnten also nur irgendwohin in der Ukraine fliehen, wenn wir zusammenbleiben wollen. Ich hoffe im Moment, dass unsere Armee Kiew halten kann.“
Maria Varenikowa ist Journalistin und arbeitet in der Ukraine für die New York Times. Sie stammt aus der zentralukrainischen Stadt Winnyza, lebte aber in Kiew. Varenikowa hat ihren Sohn aus Kiew nach Spanien zu ihrer Schwester gebracht und kehrte dann in die Ukraine zurück, um über den Krieg zu berichten.
„Ich habe meinen Sohn aus Kiew herausgebracht, um ihn zu meiner Schwester in Madrid zu bringen. Wie ich es geschafft habe, mich in Spanien von ihm zu verabschieden und wieder in die Ukraine zurückzukehren, können Menschen in normalen Umständen wahrscheinlich nicht nachvollziehen. Als Mutter musste ich zuerst an mein Kind denken. Deshalb habe ich ihn nach Spanien gebracht. Aber ich bin auch Journalistin. Mein Land wurde angegriffen. Ich kann nicht einfach davonlaufen und andere diesen Job machen lassen, während ich in Madrid in der Sonne sitze.
Überhaupt müssen die Menschen in der Welt verstehen: Wir Ukrainer sind keine Helden. Wir sind ganz normal. Aber die Umstände sind es nicht. Deshalb machen wir zurzeit Dinge, die anderen besonders mutig vorkommen. Wir haben einfach keine andere Wahl. Ich arbeite derzeit in Lwiw in der Westukraine. Noch wird hier nicht gekämpft. Mein beruflicher Alltag dreht sich um die Geflüchteten, die aus anderen, gefährlicheren Teilen der Ukraine hier Schutz suchen. Es geht auch um die Menschen, die in den Krieg ziehen. Und um Beerdigungen von jenen, die es nicht mehr lebendig nach Lwiw zurückschaffen. Es ist nicht so, dass ich erst seit dem 24. Februar über einen Krieg in meinem eigenen Land schreibe. Der Krieg im Donbass begann 2014. Aber etwas ist anders als bisher. Wir ukrainischen Journalisten haben uns um Unparteilichkeit bemüht. Das ist Teil unserer journalistischen Ethik, auch wenn es schwerfällt, wenn im eigenen Land geschossen wird. Ich wusste, dass in der Ostukraine kein Bürgerkrieg herrscht und dass die sogenannten Separatisten von Russland gesteuert wurden. Jetzt ist es so offensichtlich, dass Russland die Ukraine überfällt, dass ich nicht mehr jedes Wort umdrehen muss.
Die Tage vergehen voller Arbeit, aber sie betäubt meine Ängste nicht. Wenn die Nato keine Flugverbotszone einrichten will, brauchen wir massive Waffenlieferungen, um weiter standhalten zu können. Ich habe für das Zögern im Westen ein gewisses Verständnis. Ich konnte mir selbst nicht vorstellen, dass Russland unser Land vollständig einnehmen will. Das erschien mir als groteskes Wagnis, das sich für Russland nicht lohnt. Doch dann habe ich verstanden, dass die Russen offenbar jede Hemmung verloren haben. Ich fürchte, die Menschen, die jetzt in Europa Angst vor einem russischen Atomschlag haben, haben einen Grund dafür. Vielleicht wäre es auch für die Ukraine besser, wenn wir mit allen Waffen, die uns die Welt liefern kann, diesen Krieg allein ausfechten. Sollte es zum Dritten Weltkrieg kommen, gibt es auch keinen Ort mehr, wohin wir fliehen könnten.“
Am Sonntag wurde auch eine Militärbasis in der Nähe von Lwiw mit Raketen angegriffen, nach Angaben der ukrainischen Behörden starben mindestens 35 Menschen.
Diana Berg floh 2014 vor den prorussischen Separatisten aus Donezk nach Mariupol. Dort leitete sie das Zentrum Platform Tu für alternative Künstler, Aktivisten und queere Menschen aus der ukrainischen Hafenstadt an der Kontaktlinie zu den Separatistengebieten. Berg harrte die ersten Tage des Krieges in der umkämpften Stadt aus. Am Freitag war sie mit ihrem Mann mit dem Auto auf der Flucht in Richtung Lwiw in der Westukraine.
„Ich sitze mit meinem Mann im Auto. Wir sind auf dem Weg nach Lwiw. Ich kann nur sprechen, wenn das Netz nicht gerade zusammenbricht. Auf unserer Strecke ist bisher alles ruhig. Ganz anders sieht es in mir drin aus. Ich bin in Gedanken in meiner Heimatstadt Mariupol. Dort ist alles zerstört. Freunde, die geblieben sind, haben nichts mehr. Es gibt kein Wasser, keinen Strom, keine Heizung, kein Internet, um mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben. Die Russen haben sogar eine Geburtsklinik in Mariupol bombardiert. Die Evakuierung der Zivilisten kommt nicht voran. Es ist die Hölle.
Mein Mann und ich sind die ersten Tage nach Kriegsbeginn in Mariupol geblieben. Die Russen haben die Stadt pausenlos beschossen. Dann waren wir uns sicher, dass wir die Stadt verlassen müssen, wenn wir am Leben bleiben wollen. Wir haben es geschafft, unter den Raketen hindurch Mariupol zu verlassen. Dann sind wir erst einmal nach Dnipro gefahren, einer Großstadt circa 240 Kilometer nördlich. Aber auch dort ist es nicht sicher. Wir sind also wieder ins Auto gestiegen und losgefahren in westliche Richtung. Unser Ziel ist Lwiw. Ich plane nicht, mein Land zu verlassen. Unser Ziel ist etwas anderes: Wir wollen uns in Lwiw mit Freunden aus Mariupol treffen und mit Kollegen vom Team von Platform Tu. Wir wollen gemeinsam überlegen, wie es weitergeht.“
Nikolay Kolomensky, 62 Jahre alt, ist Chirurg. Er lebt in der Millionenstadt Charkiw, die seit zwei Wochen schwer angegriffen wird. Der Kontakt zu ihm kam über den Arzt Michael Schenk vom Franziskus-Krankenhaus Berlin zustande, der mit der Universitätsklinik Charkiw seit Jahren kooperiert. Kolomensky beschreibt die Lage in Charkiw per Chat, in einer Nacht während er im Keller neben seiner Familie Wache hält.
„Charkiw wird täglich mit allen der Russischen Föderation zur Verfügung stehenden Waffentypen angegriffen. Raketenangriffe und Luftangriffe. Wohnblöcke und wichtige Einrichtungen in der Stadt werden auf zynische Art und Weise beschossen. Der Beschuss erfolgt überwiegend abends und nachts, um psychologischen Druck auszuüben. Ich bin Chirurg mit vierzig Jahren Erfahrung. Ich habe schon viel gesehen, aber was ich jetzt sehe, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Mein Krankenhaus wurde zerstört. Es gibt keine Heizung mehr, keine Fenster. Ich leiste jetzt humanitäre Hilfe. Ich habe ein Auto, solange es Treibstoff gibt, bin ich mobil. Dabei geriet ich selbst am 6. März unter Mörserbeschuss. Wie durch ein Wunder wurde ich nicht verletzt. Es war im Bezirk Pjatychatky, in der Nähe eines Supermarktes. Eine Frau starb in meinen Armen an Blutverlust. Drei Menschen starben im Krankenhaus. Die anderen 13 Menschen werden Invaliden bleiben. (Er sendet ein Video, verwackelt, man sieht schwer verletzte Zivilisten, blutigen Schnee.)
Wir verstehen die Methoden dieses dummen Abenteuers nicht. Es kann nicht einmal als Krieg bezeichnet werden. Ein Krieg ist, wenn die Armee gegen die Armee kämpft. Hier sterben mehr Zivilisten als Militärs. Viele Gebiete haben keinen Strom, keine Heizung und kein Wasser. Heute sind es -8 Grad. Wo die Fernwärme ausgefallen ist, werden die Heizungsrohre durch den Frost platzen. Es ist eine Katastrophe. Schon in Friedenszeiten ist das schwer zu reparieren, aber wie soll man das mit begrenzten Mitteln unter Beschuss und Bombardierungen schaffen? Ich habe ein Haus mit einem Keller. Die Familie ist praktisch die ganze Zeit dort. Meine Frau und ihr sechsjähriger Sohn, ihre Eltern und ihre Schwester mit ihrem Mann und ihrer achtjährigen Tochter. Tagsüber, wenn kein Beschuss zu hören ist, gehen wir in den ersten Stock und die Kinder laufen im Hof herum. Sie können nicht die ganze Zeit im Keller sein. Ein Raketenwerfer hat das Haus getroffen, es gibt Einschüsse. Verglichen mit der Zerstörung in der Stadt ist es nichts. Während des Zweiten Weltkriegs gab es weniger Schäden in Charkiw als heute nach nur zwei Wochen. Wir haben ein wissenschaftliches Forschungszentrum für Kernphysik mit einer Nuklearanlage. Auch sie ist gezieltem Beschuss ausgesetzt.
Unsere Welt ist auf den Kopf gestellt worden. Ein Reich der krummen Spiegel ... Wird die Stunde kommen, in der Kriege verboten sein werden? Können Sie sich vorstellen, auf welchem Entwicklungsstand sich die Menschheit befinden würde, wenn sie nicht kämpfen, sondern gestalten würde? Wir Ukrainer werden uns aber nicht ergeben. Wir wissen, wofür wir kämpfen. Und wofür kämpfen die Russen? Für die wahnhaften Vorstellungen ihres Herrschers?“




