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In Charkiw herrschte Aufbruchstimmung. Jetzt ist brutaler Krieg

Wie behandelt man Schmerz nach Kriegsverletzungen? Das lehrte unser Autor in Charkiw. Nun hält er aus Berlin Kontakt in die schwer angegriffene Metropole.

Charkiw am Montag: Krankenschwestern kümmern sich um neugeborene Babys in einem Keller.
Charkiw am Montag: Krankenschwestern kümmern sich um neugeborene Babys in einem Keller.UNICEF

Mein Herz ist sehr schwer, ich bin tieftraurig. Weil ich sehe, was in diesem Moment an Monstrositäten in der Stadt Charkiw und in der Ukraine passiert. Ich fühle mich der Stadt Charkiw und meinen Freunden dort sehr verbunden. Fast rund um die Uhr bin ich mit ihnen in Kontakt, wenn ich nicht gerade meine Patienten in Berlin behandle.

Ich bin Schmerzmediziner und versuche, das Konzept einer multimodalen Therapie für chronische Schmerzpatienten umzusetzen. Es beruht darauf, dass Schmerz biologische, aber auch psychische und soziale Ursachen hat und ganzheitlich behandelt werden sollte. Im Jahr 2015 bekam ich, damals noch im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, über das Wirtschaftsministerium die Anfrage, ob wir uns um eine Delegation russischer und ukrainischer Ärzte kümmern könnten. Ich lernte Fatima Abduyeva, eine Kardiologin aus Charkiw, kennen und bekundete mein Interesse an einer Kooperation. Meine Motivation war und ist nicht nur medizinisch, sondern auch historisch begründet: Ich möchte beitragen, wiedergutzumachen, was unsere Vorfahren im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine und in Russland angerichtet haben.

Die Uni wurde einst mit deutscher Hilfe gegründet

Die Delegation reiste aus Berlin ab, kurz darauf erreichte mich der Skype-Anruf eines gut gelaunten Kollegen aus Charkiw, der mich mit „Grüezi“ ansprach und sich als Professor Wladimir Ilic Savenkov vorstellte. Er fragte, ob ich nicht seine Stadt besuchen und Fortbildungen zur Schmerzmedizin geben wolle, ein Gebiet, das bei uns integraler Bestandteil der Medizin ist, in der Ukraine aber noch in den Kinderschuhen steckt. Er entpuppte sich als der Direktor der Universitätsklinik. Savenkov ist Professor für Urologie – und nun ein guter Freund von mir.

Noch 2015 flog ich nach Charkiw, hielt viele medizinische Vorträge, lernte die freundliche Gebietsgouverneurin und den damaligen Bürgermeister kennen. Die Veranstalter hatten es irgendwie fertiggebracht, mehr als 50 Ärztinnen und Ärzte aus dem ganzen Land zusammenzutrommeln. Meine Vorträge hielt ich auf Englisch mit russischen Folien in kyrillischer Schrift, was für mich Gehirnakrobatik bedeutete (für das Publikum möglicherweise auch). Mir wurde klar, wie begrenzt die medizinischen Ressourcen in der Ukraine noch waren. Wir besprachen medizinische Kooperationen.

Ich lernte auch die ehrwürdige Nationale Medizinische Universität Charkiw (KNMU) kennen und erfuhr, dass sie vor über 200 Jahren auch mit deutscher Hilfe gegründet wurde. Sie hat ein internationales Profil mit über 3000 Studierenden aus allen Kontinenten. Das inspirierte mich zu der Idee, mich intensiver einzubringen.

Seitdem war ich immer wieder in Charkiw, auf Kongressen, Konferenzen. Wir gründeten an der Universitätsklinik ein Zentrum für Schmerzmedizin mit Ausbildungsstätte. Es lief schwierig an, weil es zu wenig wirkungsvolle Medikamente und auch keine Opioide gab, nicht einmal für Krebskranke.

Im September 2016 wurde ich zum Ehrenprofessor der KNMU ernannt. Im vergangenen Jahr fragte mich die Leiterin der Abteilung für internationale Beziehungen der Uni, Anzhela Stashchak, ob ich nicht auch als regulärer ausländischer Professor an der Universität arbeiten wolle. Mein Arbeitgeber, das Franziskus-Krankenhaus Berlin, stimmte zu.  So hielt ich in meiner neuen Rolle meine ersten Vorträge im November. Es ging dabei um Tumorschmerz. Und auf ausdrücklichen Wunsch auch um die Behandlung von Schmerzen nach Kriegsverletzungen. Die Region Charkiw behandelt seit 2014 schwerstverletzte Soldaten und Zivilisten des Kriegs zwischen der Ukraine  und den Separatisten in Donezk und Luhansk.

Eine Stadt im Aufbruch, noch im November

Zu diesem Zeitpunkt war ich einige Zeit nicht in der Stadt gewesen. Charkiw war noch strahlender geworden, schien mir, die Parks wunderschön renoviert, es gab einen neuen Zoo und eine neue Philharmonie. In meinen Vorträgen saßen Studierende aus der Ukraine, aus Indien, dem Nahen Osten. Alle waren fröhlich, kommunikativ. In Charkiw herrschte Aufbruchstimmung, und das mitten im November. Die Anspannung der Pandemie schien verflogen.

Drei Monate ist das her. Nun ist der Krieg in Charkiw. Inhuman und extrem brutal. Die Stadt ist heute, am 1. März, fast vollständig umzingelt, Essen, Wasser und Medikamente werden knapp.

Täglich telefoniere ich mit meinen Freunden. Tag und Nacht schlagen Raketen ein, in Wohngebiete. Die Geräusche dabei sind beängstigend, man hat das Gefühl, die Nerven würden aus dem Körper gezogen. Russische Panzer fahren durch die Stadt – die Bewohner fühlen sich wie bei einer Alien-Invasion. So haben es Freunde beschrieben. Eine gewaltige Explosion verwüstete heute am zentralen Platz der Freiheit, wo immer der große Weihnachtsmarkt stattfand, das Gebäude der Regionalverwaltung Charkiw mit sämtlichen Nachbargebäuden.

Die Studierenden aus der Ukraine, aus Indien, dem Nahen Osten, an deren Lachen ich mich so gut erinnere, sitzen vor Angst und Kälte zitternd in Bunkern, sind hungrig und fürchten um ihr Leben. Und sie helfen in den Krankenhäusern, „dabei ist das nicht mal ihr Krieg“, schreibt eine Freundin mir. Zwei von ihnen sollen schon gestorben sein.

Die Freunde fliehen, um ihr Leben zu retten

Wladimir Korostiy, Professor für Psychiatrie und stellvertretender Leiter der Universitätsklinik, macht Akutbehandlungen für durch den Krieg seelisch schwersttraumatisierte Menschen. Als wir am Dienstag sprachen, sagte er, dass er große Angst um sein Leben und das seiner Familie hat und noch am Abend entscheiden wolle, ob er versuchen wird, in die westliche Ukraine mit dem Auto zu fliehen.

Wladimir Savenkov leitete bis Dienstag eine Privatklinik, war in die Notfallversorgung urologischer Patienten eingebunden. Er wohnte in der Nähe des Freiheitsplatzes, wo am Dienstag die Rakete einschlug. Er teilte mir am Mittwoch mit, dass er am Morgen losgefahren ist, mit dem Auto in Richtung Westen, eine gefährliche Fahrt, um sein Leben und das seiner Frau zu retten.

Anzhela Stashchak, die mich an die Uni geholt hatte, ist mit ihrer Familie schon vor einigen Tagen in die Westukraine geflohen.

Es gibt keinerlei normale medizinische Versorgung mehr in Charkiw, sagte man mir, weder in den Polikliniken, noch in den Krankenhäusern. Medikamente werden knapp. Es werden nur noch Notfälle behandelt, in den Militärkrankenhäusern sowie den großen Regionalkrankenhäusern. Die OP-Säle sind teilweise in die Untergeschosse ausgelagert. Die Bettchen der Frühgeborenen stehen in Charkiw jetzt in Kellern.

Michael Schenk  ist Chefarzt des Zentrums für Integrative Schmerzmedizin am Franziskus-Krankenhaus Berlin.

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