Wahlkampf in Berlin

Kai Wegner: Berlins neuer Regierender Bürgermeister oder „der einsame Kai“?

Der CDU-Spitzenkandidat liegt in allen Umfragen vorne. Dabei weiß er selbst, dass das Rote Rathaus ein fernes Ziel ist. Aber er macht unverdrossen weiter. Ein Porträt.

Benjamin Pritzkuleit

Kai Wegner hat eine gute Konstitution und ein gutes Gedächtnis. Beides kann er in diesen Tagen des Wahlkampfs gut gebrauchen.

Neulich verteilte der Spitzenkandidat der Berliner CDU gemeinsam mit Unterstützern an der Bahnhofstraße in Lichtenrade Flyer und Kugelschreiber, die Hände rot gefroren von der Eiseskälte. Als der Winterwind den Wahlkämpfern dann den Regen waagerecht ins Gesicht blies, suchten sie Schutz unter dem Dach eines Discounters. Nur Wegner hielt die Stellung mit blank rasiertem Schädel und einem türkisfarbenen Schal zum dunkelgrauen Wollmantel. Hätte ja sein können, dass ausgerechnet in diesem Moment ein Passant auftaucht. War aber nicht so. Tatsächlich blieb es die gesamte Zeit in Lichtenrade bei einer deutlichen Überzahl von CDU-Wahlhelfern gegenüber potenziellen Wählern. 

Dabei ist der äußerste Süden Tempelhofs allerfeinstes CDU-Terrain. Voriges Mal, bei der Pannenwahl im September 2021, holte die Partei unter ihrem Spitzenkandidaten Wegner magere 18 Prozent. In Lichtenrade war es etwa das Doppelte. Da fällt es leichter, sich mit voller Kraft in diesen merkwürdigen Wahlkampf zu werfen. Schließlich eröffnete erst ein richterlich attestiertes systemisches Versagen der CDU unverhofft die Chance, plötzlich doch stärkste Kraft in Berlin zu werden. Die Umfragen sind gut, überall liegt die CDU vorn. Der Vorsprung wächst eine Woche vor der Wahl.

„Ich habe richtig Lust auf den Wahlkampf“, sagt Kai Wegner, der Regierender Bürgermeister werden könnte. Und das, obwohl ihm bei allen Umfragen bescheinigt wird, er sei weniger bekannt als Franziska Giffey (SPD). Zwar würden immer noch mehr Berliner Giffey direkt zur Regierenden Bürgermeisterin wählen, wenn sie könnten. Aber Wegner holt auf, Bettina Jarasch von den Grünen hat er überholt. Es läuft bei ihm.

Kai Wegner mit dem CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz
Kai Wegner mit dem CDU-Bundesvorsitzende Friedrich MerzBenjamin Pritzkuleit

In Berlin profitiert Kai Wegner vom Rückenwind von der Bundes-CDU

Und tatsächlich sind seine Voraussetzungen deutlich besser als 2021, als die CDU an der nicht geklärten Merkel-Nachfolge krankte. Der Gegenwind des unglücklichen Armin-Laschet-Wahlkampfs wirkte in Berlin eher wie ein Orkan. Kai Wegner hatte keine Chance, landete mit seinen kümmerlichen 18 Prozent sogar noch etwas über dem wirklich desaströsen Ergebnis seines Vorgängers Frank Henkel fünf Jahre zuvor.

Jetzt ist Friedrich Merz unangefochtener Vorsitzender der Bundespartei, und Kai Wegner verspürt Rückenwind. Jetzt blüht er auf, ist permanent unterwegs, verströmt Tatendrang und Optimismus. Diese neue Chance, die will er nutzen.

Kai Wegner liebt das Gespräch mit den „normalen Leuten“

„Ich habe zwar sehr lange Tage und bin selten vor Mitternacht zu Hause. Aber ich mag das. Mir geht’s gut“, sagt er . Seine Familie – seine Lebensgefährtin und die insgesamt drei Kinder – mache das mit. „Weil sie alle wissen, dass ich dabei glücklich bin.“

So gelöst hat man Kai Wegner schon sehr lange nicht mehr gesehen. Im Gespräch mit den „ganz normalen Leuten“ bringt er im Plauderton in wenigen Sätzen komplexe Themen unter und liefert die CDU-Positionen gleich mit: zu Sicherheit, Bildung, Verkehr, Wohnungsbau. 

Zwei ältere Damen nähern sich dem Stand. „Ach, Herr Wegner“, sagt die eine, „werfen Sie die Grünen raus.“ Unmöglich sei deren Anti-Auto-Haltung, „dieser Hass“. Wegner erzählt, was er machen würde, wenn er den Senat anführen würde: eine Verkehrspolitik für alle, für Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger. Mehr Busse und Bahnen. Vor allem die Außenbezirke müssten besser angebunden werden.

Kai Wegner mit Heinrich Lummer
Kai Wegner mit Heinrich Lummer

Wegner glüht, und der Grund dafür ist denkbar einfach: „Ich höre überall, dass die Menschen unzufrieden sind mit dem rot-grün-roten Senat, dass sie eine Veränderung wollen. Wir wollen diese Veränderung schaffen und den Senat ablösen.“

Lokalkolorit soll dabei helfen. Kai Wegner ist der einzige gebürtige Berliner unter den drei Kandidaten, die Aussichten auf den Posten im Roten Rathaus haben. Er kennt sich in vielen Ecken der Stadt aus. Zum Beispiel in Lichtenrade. Und erwähnt an diesem kalten Straßenwahlkampftag nicht ganz ohne Grund, dass er früher hier immer in einem griechischen Imbiss gegessen habe, „im Gyros King“. Klingt zünftig, erdverbunden und fast ein bisschen bescheiden. 

Wegner ist der König der Kieze, vor allem im Westen der Stadt. In Spandau, dem westlichsten aller Berliner Bezirke, wurde er vor 50 Jahren geboren, ging dort zur Schule, ist bis heute dort zu Hause. Doch so viel Identifikation birgt natürlich auch Gefahren. Vielen gilt Wegner als Kleinbürger, dessen Horizont kaum über die Havel hinweg reicht.

Einst machte Wegner Wahlkampf für CDU-Rechtsaußen Heinrich Lummer

Das mag auch mit seinen politischen Anfängen in den 90er-Jahren zusammenhängen – natürlich in Spandau. Als junger Mann war er eifriger Anhänger von Heinrich Lummer. Der rechte Scharfmacher wollte nach seiner Zeit als Innensenator in den Bundestag. Also bewarb er sich um das Direktmandat in Spandau und holte es bei der Wahl 1994 – unter tatkräftiger Mithilfe des jungen Mannes und der Jungen Union. Zu diesem Zeitpunkt startete Wegner neben seiner Karriere als Versicherungskaufmann eine in der Politik. Seit mehr als 20 Jahren ist er Berufspolitiker.

Später distanzierte sich Wegner von seinem politischen Ziehvater Lummer und dessen zunehmend wirren Ausritten ins Nationale, auch Rechtsextreme. Er habe dazugelernt, sagt Wegner, er habe die Stadt, die Welt und die Menschen im Laufe der Jahre besser verstanden. Radikale Haltungen würden eher abschrecken, dauernder Streit und Kampf führe zu nichts. Er sei offener und verständnisvoller geworden. Weicher?

Seit einiger Zeit verkauft sich Kai Wegner verstärkt als Sozialpolitiker. Er kritisiert die Grünen dafür, dass sie einen ideologischen Kampf gegen das Auto führen, obwohl doch so viele Berlinerinnen und Berliner darauf angewiesen seien. Höhere Parkgebühren lehnt die CDU mit dem Hinweis aufs Soziale ab. „Wer in Zeiten von Energiekrise und Inflation meint, den Berlinern in die Tasche greifen zu müssen, handelt verantwortungslos und unsozial“, sagt der Spitzenkandidat.

Und besonders die Wohnungs- und Mietenpolitik hat es Wegner angetan. Da sagt er, was alle sagen: „Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit.“ 

Kai Wegner als Mieterschützer: Realität oder Fake?

Auf ihrer Fraktionsklausur im Oktober – da war schon Wahlkampf – machte sich die CDU für „faires Wohnen für alle“ stark. Ein Mietenkataster solle her, eine unabhängige Schiedsstelle, die Wuchermieten verhindern soll, ein Verbot von Inflationsmieten, eine Nebenkostenbremse, das Ende der Steuerbefreiung bei Immobilienkäufen, bei sogenannten Share Deals. Wegner sagte: „Die CDU-Fraktion will eine neue Stufe des Mieterschutzes zünden.“ Und: „Wer aus der Wohnungsnot in Berlin maximale Profite schlagen will, soll sich warm anziehen.“

[Friedrich Merz in Neukölln; CDU-Bundesvorsitzende; Gropiusstadt; Wahlkampf von Kai Wegner]

Berlin, 27.01.2023

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Copyright: Benjamin Pritzkuleit
[Friedrich Merz in Neukölln; CDU-Bundesvorsitzende; Gropiusstadt; Wahlkampf von Kai Wegner]Berlin, 27.01.2023Model Release: NoProperty Release: NoCopyright: Benjamin PritzkuleitBenjamin Pritzkuleit

Schwer zu sagen, ob Wegner wirklich glaubt, was er sagt. Zumindest fällt ihm der Versuch, die CDU als Mieterpartei zu verkaufen, aus persönlichem Erleben nicht schwer. Aufgewachsen ist der Sohn einer Verkäuferin und eines Eisenflechters in Hakenfelde im Norden Spandaus, einem Ortsteil, in dem nur wenige Menschen viel Geld haben. Er sei „in liebevollen Verhältnissen aufgewachsen“, schreibt er auf seiner Homepage. Die Familie habe nicht viel, aber doch ausreichend Mittel gehabt. Bis eines Tages eine Mieterhöhung eintrudelte und man umziehen musste. Diese Erfahrung, so Wegner, habe ihn tief geprägt. „Ich weiß, wie es den Menschen geht, deren Mieten steigen, die fürchten, es sich nicht mehr leisten zu können“, sagt er.

Das habe sich auch nicht geändert, nur weil seine soziale Situation seit vielen Jahren  eine ganz andere ist. Längst lebt Wegner mit seiner Familie dort, wo viele leben, die es sich leisten können, aber Spandau nicht verlassen wollen: in Kladow, einer Gegend mit besonders hohen Immobilien- und Mietpreisen.

Spandauer Aufstiegsgeschichten: Was Kai Wegner und Raed Saleh gemeinsam haben

Kai Wegners Geschichte ist eine Aufstiegsgeschichte, der seines Spandauer Dauerkonkurrenten Raed Saleh von der SPD nicht unähnlich: Der Partei- und Fraktionschef ist im armen Hochhausgebiet Heerstraße Nord aufgewachsen. Und auch er wohnt mittlerweile in Kladow.

Während Saleh klassische Sozialpolitik nach dem Motto „viel hilft viel“ betreibt, stellt sich immer wieder die Frage, was aus Kai Wegners Hakenfelder Prägung erwachsen ist, aus seinem Wissen um die Sorgen der „normalen Menschen“.

Was ist davon also geblieben? Nicht so viel, sagen seine Kritiker und verweisen auf seine Zeit als baupolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Bundestag, dem er von 2005 bis 2021 angehörte, 16 lange Jahre. Ketzerisch könnte man sagen, dass sich die damalige Regierungspartei die gesamte Zeit eher dabei hervorgetan hat, das Gröbste an Mieterschutz zu verhindern. Zum Beispiel wurden auf Betreiben der CDU Neubauten von der Mietpreisbremse ausgenommen. Dennoch reklamiert Wegner für sich, er habe beim Mietrecht gegen Widerstände innerhalb der Fraktion das Maximale herausgeholt.

Den Mietendeckel halte auch er für einen „fatalen Irrweg“, sagte er damals und sagt er noch heute, der die Mieter verunsichere und die Immobilienwirtschaft verprelle. Auch andere marktregulierende Instrumente wie das öffentliche Vorkaufsrecht für zum Verkauf stehende Häuser und Wohnblöcke in Milieuschutzgebieten bekämpft die CDU zuverlässig. Das Nein zur Enteignung von Immobilienkonzernen versteht sich von selbst.

Das alles trägt dazu bei, dass viele in der Stadt Kai Wegner die Wandlung zum Sozialpolitiker nicht recht abnehmen. Nur gut, dass er auf mindestens einem Politikfeld keinerlei Glaubwürdigkeitsprobleme hat: Wegner und seine CDU wollen eine starke Polizei, jedenfalls eine stärkere als bisher. Und einen starken Staat, der durchgreift.

Das ist zwar nichts Neues, zieht aber seit Silvester umso mehr. Vorige Woche machte Parteichef Merz in der Neuköllner Gropiusstadt die Gewaltexzesse zum Wahlkampfthema. Lokalmatador Falko Liecke, konservatives Aushängeschild der Berliner CDU, hatte Merz eingeladen. Da konnte Wegner nicht Nein sagen und musste auch kommen und eine Rede halten.

Sollte Wegner ernsthaft mit Merz’ forschem Auftreten gefremdelt haben, wie es mancher aus seinem Umfeld glauben machen will, war das auf der Bühne nicht herauszuhören. Da sprach Wegner davon, dass in Berlin die „Probleme oftmals nicht mehr benannt“ würden. Es gebe „so unfassbar viele Integrationserfolgsgeschichten“, aber eben auch die Gegenbeispiele: „junge Männer mit Migrationshintergrund“, ob hier geboren oder nicht, ob deutsche Staatsbürger oder nicht, die sich nicht an die Regeln hielten. Diese Männer dürfe man nicht aufgeben, man müsse vielmehr versuchen, sie für die Gesellschaft zu gewinnen. Aber, so Wegner: „Wenn ich um Vorbilder ringe, dann muss ich den Hintergrund kennenlernen.“ Also habe die CDU die Vornamen der Verdächtigen wissen wollen. Für so etwas gibt es den Rassismusvorwurf quasi gratis.

Tatsächlich könnte die Vornamen-Debatte noch komplizierte Folgen für die Berliner CDU im Allgemeinen und Kai Wegner im Besonderen haben. Und das hat mit den Berliner Grünen zu tun.

Vordergründig bleiben die Grünen für Wegners CDU das, was sie seit der Gründung der Vorgängerpartei Alternative Liste vor mittlerweile 44 Jahren sind: Lieblingsfeinde. Für ihn und seine Partei waren die zurückliegenden Jahre „geprägt von einem Gegeneinander: Fahrradfahrer gegen Autofahrer, Mieter gegen Vermieter, Innenstadt gegen Außenbezirke“, wie Wegner sagt. Besser seien „ein neues Miteinander, Angebote und Problemlösungen statt Bevormundung und Zwang“. Gleichzeitig betont Wegner bei jeder Gelegenheit, wie gut er mit manchem Spitzen-Grünen zusammenarbeite.

Tatsächlich sah es eine Zeit lang so aus, als wollte die CDU ernsthaft Optionen für eine mögliche Koalition nach der Wahl am 12. Februar ausloten. Traditionell ist ihr die FDP inhaltlich am nächsten. Wegners Truppe reagierte in den vergangenen Tagen überaus bissig auf das offenbar immer besser werdende Verhältnis der Liberalen zur SPD. Und dann ist da die SPD selbst, mit der die CDU ebenfalls Schnittmengen fände. Aber da sind – oder besser: waren – eben auch Gedankenspiele über ein schwarz-grünes Bündnis. Baden-Württemberg und Hessen machen es vor. Für Berlin hätte es den Reiz des Neuen, Frischen, Unverbrauchten. Nach Silvester erscheint Schwarz-Grün aber noch unwahrscheinlicher als schon zuvor.

Was bleibt also am Ende von und für Kai Wegner? Die Deutschland-Koalition mit SPD und FDP? In der SPD finden sich zumindest auf Funktionärsebene kaum Anhänger dafür. Franziska Giffey hat aus ihrem Faible für die rot-grün-gelbe Ampel nach dem Vorbild im Bund nie einen Hehl gemacht.

Schon warnen viele Konservative und Liberale in Berlin, das Stichwort lautet: „Bremen“. 2019 wurde die CDU bei den dortigen Bürgerschaftswahlen zum allerersten Mal stärkste Partei. Genützt hat es ihr nicht, weil die SPD zusammen mit Grünen und Linken eine Koalition zimmerte. Das ist auch in Berlin wieder sehr gut möglich. Die CDU und Wegner hätten sich dann „totgesiegt“. Nicht nur in der SPD spottet man über „den einsamen Kai“.

Sollte Wegner die Wahl gewinnen und doch verlieren, würden die Stimmen in der CDU, die an ihrem Frontmann zweifeln, wieder laut. Die, die ihm vorwerfen, die Partei zu spalten. Den Osten zu ignorieren. Aller behaupteten Wandlungsfähigkeit zum Trotz zu unbeweglich zu sein, alten Ideen und Seilschaften verhaftet.