Essay

Hackt nicht auf Amnesty International herum: Das Völkerrecht ist eben naiv

Alle Jahre wieder verpflichten sich Staaten dazu, humanitär Krieg zu führen, obwohl sie das weder können noch wollen. Der Bericht von Amnesty International über die Ukraine wird zu Unrecht scharf kritisiert.

Ein ukrainischer Soldat in den Außenbezirken von Kiew.
Ein ukrainischer Soldat in den Außenbezirken von Kiew.imago/Orlando Barria

Diese Geschichte beginnt mit einem Loch. Es liegt irgendwo zwischen Sirte und Misrata in Libyen. Was genau in diesem Loch geschah, ist bis heute nicht geklärt, aber klar ist soweit, dass sich der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi am 20. Oktober 2011 vor einem Luftangriff der Nato in diesem Loch versteckte. Rebellen fanden ihn, misshandelten ihn (so viel ist unumstritten), ob sie ihn auch erschossen oder ob er an bereits bei der Bombardierung erlittenen Verletzungen starb, ist unklar. Auch einer seiner zahlreichen Söhne überlebte das Zusammentreffen mit Nato-Flugzeugen und Rebellen nicht.

Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag verfolgte anschließend einen weiteren von Gaddafis sieben Söhnen, Saif al-Islam al-Gaddafi, wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Ermittlungen gingen aus wie das Hornberger Schießen: Die libysche Übergangsregierung aus Gaddafi-Gegnern sabotierte den ICC, libysche Milizen nahmen vier ICC-Abgesandte als Geiseln und schließlich verloren sowohl der Gerichtshof als auch der Sicherheitsrat das Interesse an Libyen. Saif al-Islam wurde schließlich in Tripolis zum Tode verurteilt, freigelassen und kandidiert zurzeit für das vakante Präsidentenamt seines Landes.

Seht, wie ein Wüterich verscheidet

Der Tod seines Vaters wurde vom ICC nie untersucht. Seht, wie ein Wüterich verscheidet, könnte man mit Schillers Wilhelm Tell sagen, was ist Schlechtes daran, einen blutigen Diktator ums Leben zu bringen, der sein Land ruiniert, seine Feinde ermorden, unbeteiligte Zivilisten in fremden Ländern von seinen Agenten in die Luft jagen (siehe das La-Belle-Attentat in Berlin) oder abstürzen (das Lockerbie-Attentat) ließ, bulgarische Krankenschwestern als Geiseln hielt und seine Petrodollars benutzte, um afrikanische Nachbarn zu destabilisieren.

Das Problem ist: Nach internationalem humanitärem und Völkerstrafrecht ist die Misshandlung und Ermordung von wehrlosen Zivilisten bzw. Kombattanten, die sich ergeben oder nicht mehr wehren können während eines Krieges ein Kriegsverbrechen, genauso wie die Bombardierung von Einkaufszentren und Wohnblocks in der Ukraine durch die russische Armee.

Es gibt da nicht einmal eine Abstufung in nicht-ganz-so-schlimme, schlimme und ganz-arg-schlimme Kriegsverbrechen. Nicht einmal das Strafmaß hilft einem da weiter, Richter haben die Anstifter und Ausführenden von Massakern schon zu lebenslänglich, aber auch zu wenigen Jahren Freiheitsstrafe verurteilt (etwa, wenn sie geständig waren und mit der Anklagebehörde zusammenarbeiteten). Kriegsverbrechen sind Kriegsverbrechen, basta.

Amnesty International hat ja keine Ahnung

Diesen Hintergrund sollte man im Hinterkopf haben, bevor man in den Chor all der Amnesty-International-Basher einstimmt, die sich derzeit zu Wort melden. Sie fallen über den jüngsten AI-Ukraine-Bericht her, in dem die ukrainische Armee aufgefordert wird, Zivilisten besser zu schützen und deshalb auf die Stationierung von Einheiten und schwerem Gerät in der Nähe von Wohnsiedlungen zu verzichten, weil diese sonst das Feuer der Russen auf sich ziehen. Damit verletze die Ukraine ihre Pflicht, Zivilisten so gut wie möglich vor (russischen) Angriffen zu schützen.

Der Bericht hat, vorsichtig ausgedrückt, gewisse Schwächen. Er ist oberflächlich, nennt nicht einmal genau die Normen, die die Ukraine verletzt haben soll und abstrahiert von den Umständen der einzelnen Fälle, die AI untersucht hat, wobei offenbleibt, wie und wann sie untersucht wurden. Das Ganze ist offenbar ein Nebenprodukt von Untersuchungen über russische Kriegsverbrechen: russische Einheiten haben auf zivile Ziele gefeuert und in der Nähe mancher dieser Ziele waren ukrainische Einheiten.

Das hätten sie, argumentiert AI, besser bleiben lassen sollen, denn so boten sie den Russen einen Vorwand, zivile Ziele zu beschießen. Die Frage, ob die russische Armee, die Mariupol und Cherson in Schutt und Asche bombte, einen solchen Vorwand benötigte, spielt dabei keine Rolle. Zu Recht: Internationales humanitäres Recht muss von allen Konfliktparteien rigoros eingehalten werden – auch wenn der Gegner das nicht tut, auch wenn sich ein Staat nur verteidigt, sogar wenn er um seine Existenz kämpft.

Das Völkerrecht ist rigoros

„Dass die Ukraine sich verteidigt, enthebt sie nicht der Verpflichtung, internationales humanitäres Recht einzuhalten“, sagte dazu Agnès Callamard, die Amnesty-Generalsekretärin. Klingt weltfremd und naiv und ist es auch. Aber so ist das Recht eben. Im eigenen Land akzeptieren wir das Prinzip in der Regel ohne Naserümpfen: Wenn ich anfange, Supermarktregale auszuräumen, ohne zu bezahlen und unanständige Slogans in geparkte Autos ritze, kann sich mein Nachbar, der mir nacheifert, nicht auf mich berufen, um einer Strafe zu entgehen.

Damit enden die Parallelen zwischen dem Strafgesetzbuch und dem Völkerrecht aber auch schon. Staaten sind ja keine Personen, was man schon daran erkennt, dass kein Weltpolizist ihnen Handschellen anlegen kann. Und als Bürger darf ich meinen Gegner notfalls auch umbringen, um das eigene Leben oder das eines Dritten zu retten. Für Staaten gilt das nicht. Oder, anders ausgedrückt: Ein Staat muss nach dem Recht, das Amnesty International zugrunde legt, selbst dann Zivilisten schützen, wenn er dadurch vielleicht eine Schlacht oder den ganzen Krieg verliert oder von der Landkarte verschwindet.

Dieses Recht – es geht dabei vor allem um die Haager Landkriegsordnung, die Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle und die einschlägigen Menschenrechtskonventionen – ist äußerst rigoros und verlangt von kriegführenden Parteien, egal ob sie anerkannte Staaten sind oder nicht – eine derart große Zurückhaltung, dass Kriege vermutlich gar nicht mehr ausbrechen würden, wären die Parteien zu solcher Zurückhaltung fähig.

Ein fairer Kampf ist selten Realität

Seine Autoren waren, als sie dieses Recht erfanden, vom Wunsch nach einer klaren Trennung von Kämpfern und Zivilisten beseelt. Die war schon nach dem Auftauchen von Freischärlern während der napoleonischen Kriege und dem Entstehen von Partisanen hinfällig, gar nicht zu reden von den Kolonialkriegen, in denen einheimischen Kämpfern ihre Familien und Rinderherden folgten, was die Unterscheidung in Zivilisten und Kombattanten noch weiter komplizierte.

Den Autoren der einschlägigen Konventionen muss ein Krieg vorgeschwebt haben, bei dem zwei feindliche Armeen auf einem weiten, naturbelassenen Feld aufeinander losgehen. Und immer, wenn einer ruft, dass er nicht mehr kann oder will, wird er von seinen Gegnern gefangengenommen und human behandelt: Er hat dann Anspruch auf Essen, Trinken, ärztliche Betreuung, muss keine Angaben machen, die seinen Kameraden schaden könnten und bekommt ein Dach über dem Kopf. Er muss keine Zwangsarbeit verrichten, darf nicht gefoltert werden, wird vom Roten Kreuz besucht und registriert und irgendwann gegen andere Gefangene ausgetauscht. Das klingt wie Joe Frazer gegen Muhammed Ali auf zwischenstaatlicher Ebene. Nur dass beide Boxer davon ausgehen durften, den Kampf zu überleben. Das erleichtert es ein wenig, fair zu boxen.

Den humanen Krieg gab es einst tatsächlich

Diese Vision klingt hoffnungslos idealistisch und ist es auch. Obwohl es vereinzelt Kriege gab, die sich tatsächlich so abspielten. Als Anfang des vorigen Jahrhunderts Buren und Briten in Südafrika aufeinander losgingen, da zogen sich die Kämpfer beider Seiten nach jeder Schlacht zurück und schickten ihre Sanitäter vor. Die sammelten dann die Verstümmelten und ihre herumliegenden Gebeine ein und begannen, sie wieder zusammenzusetzen – ohne Ansehen der Person. So landeten verwundete Buren in britischen Lazaretten und britische Soldaten in Buren-Lazaretten und wurden dort – viele Zeitzeugen und Betroffene bestätigen das – mit den anderen Patienten gleichbehandelt.

Als 1915 die russische Armee die Festung Przemysl in Südostpolen (heute an der ukrainischen Grenze gelegen) einnahm, erlaubte der Festungskommandant den österreichisch-ungarischen Offizieren sogar das Tragen ihrer persönlichen Schusswaffen. Sie konnten auf Ehrenwort in der Stadt Einkäufe machen und die Einwohnerinnen mit ihren Uniformen beeindrucken. Ja, es gab Zeiten, da konnte man stolz darauf sein, in der russischen Armee zu kämpfen. Damals waren die Österreicher die Bösen – sie internierten Tausende ukrainischer Zivilisten, die sie zu Unrecht für Russenfreunde hielten, im Lager Thalerhof, unter Bedingungen, die Frau Callamard vermutlich zur Weißglut gebracht hätten.

Aber im gleichen Krieg setzten die Kriegsparteien auch zum ersten Mal Massenvernichtungswaffen ein: Giftgas. Das war nach damaligem humanitären Recht nicht generell verboten, denn mit so etwas hatten die Juristen, die die Haager Landkriegsordnung ausgearbeitet hatten, nicht gerechnet. Wie naiv damals dieses Recht war, sieht man daran, dass eine der Haager Konventionen sogar verbieten wollte, Sprengstoff von Fesselballons aus auf den Gegner zu werfen. Heute feuern senkrechtstartende Jets Überschallraketen ab, die nuklear bestückt werden können. Daran erkennt man: das internationale humanitäre Recht mag rigoros und anspruchsvoll sein, die Welt ist dadurch aber nicht besser geworden. Das liegt vor allem daran, dass es, seit es so rigoros geworden ist, kaum noch eingehalten, geschweige denn durchgesetzt wird.

Die Raketenbatterie im Hof des Krankenhauses

Nehmen wir die Situation, die Amnesty in dem inkriminierten Ukraine-Bericht beschreibt und die aus Hunderten ähnlicher Auseinandersetzungen bestens bekannt ist: Eine Einheit trifft ein ziviles Ziel, ein Einkaufszentrum, einen Wohnblock, ein Krankenhaus oder, wie in Mariupol, ein Theater. Das ist nicht per se verboten, denn es kommt vor, dass darin oder dahinter feindliche Einheiten Stellung bezogen haben.

Die israelische Armee kann ein Lied davon singen: Im dichtbesiedelten Gaza-Streifen ist es für bewaffnete Kämpfer fast unmöglich, außerhalb von Wohnsiedlungen Stellung zu beziehen, womit jeder Wohnblock vor einer Hamas-Raketenstellung zum Ziel für die Israelis wird. Und wenn Teile der Zivilbevölkerung dann auch noch den bewaffneten Kämpfern helfen oder Soldaten in Waffen und Uniform in einem Krankenhaus verwundete Kameraden besuchen und das Krankenhaus dann beschossen wird, wird die Sache extrem undurchsichtig.

Wenn alles seinen korrekten humanitär-juristischen Gang ginge, müsste der Kommandeur der Einheit, die auf das Krankenhaus gefeuert hat, in seinem Heimatland angeklagt und vor Gericht gestellt werden. Geschieht das nicht – und in der Regel ist das so, denn für die seinen ist er ja meist ein Held – kann der Internationale Strafgerichtshof (ICC) seine Überstellung fordern und ihm den Prozess machen. Im Prozess kann er dann versuchen, zu beweisen, dass das Krankenhaus ein legitimes militärisches Ziel war, weil sich darin bewaffnete Soldaten der Gegenseite aufhielten oder in seinem Innenhof eine Raketenstellung geparkt war.

Gelingt ihm der Nachweis, was nicht einfach ist, denn auf die Hilfe der anderen Seite kann er nicht rechnen, muss sein Anwalt noch argumentieren, dass der Angriff zielführend und verhältnismäßig war und der Angeklagte keine weniger drastischen Mittel zur Verfügung hatte, um sein Ziel zu erreichen. So etwas kann Jahre dauern. Um dem zu entgehen, müsste ein Offizier, der eine Artillerie-Einheit befehligt, vor jedem Schuss erst einmal eine auf humanitäres Völkerrecht spezialisierte Anwaltskanzlei zu Rate ziehen. Manche Armeen stellen sich darauf ein, indem sie ihre Offiziere auf entsprechende Schulungen schicken. Das sind meist Armeen, die schon lange keinen Krieg mehr geführt haben.

Was schwerer wiegt, entscheiden die Ankläger

Solche Probleme hätte auch jeder ICC-Ankläger, wollte er den Amnesty-Bericht als Grundlage für ein Verfahren in Den Haag nehmen. Der ukrainischen Armee würde dort niemand einen Strick daraus drehen, dass sie sich in Wohngebieten bewegte und dabei feindliches russisches Feuer auf sich zog. Beim ICC gibt es nämlich das „Prinzip der Schwere“, das verlangt, die knappen Mittel dieses Weltgerichts nur für besonders schwere Fälle einzusetzen.

Die Bombardierung des klar gekennzeichneten und nicht von Militärs bevölkerten Schutzraums wie des Theaters von Mariupol ist ein solch schwerer Fall, ebenso wie die Beschießung des mit Flüchtlingen überfüllten Bahnhofs vom Kramatorsk, von Massenerschießungen wie in Butscha gar nicht zu reden. Die Stationierung von ukrainischen Einheiten in Wohngebäuden und der Aufenthalt von Soldaten in Krankenhäusern sind Fälle, für die zunächst einmal die ukrainische Justiz selbst zuständig ist.

Nur wenn ICC-Ankläger beweisen können, dass die ukrainische Justiz nicht willig oder nicht imstande ist, die Täter vor Gericht zu bringen, kann der ICC ihre Auslieferung verlangen – und die Ukraine kann sich dann juristisch dagegen wehren. Und das dauert. Der erste ICC-Haftbefehl gegen den sudanesischen Diktator Omar Hassan Ahmad al-Bashir erging 2009, bekommen haben ihn die Richter bis heute nicht, obwohl die sudanesische Regierung den Haftbefehl noch nicht einmal angefochten hat und al-Bashir schon vor mehreren Jahren gestürzt wurde. Welcher ukrainische Kommandant auch immer Soldaten in ein Krankenhaus geschickt hat – er wird vermutlich das Zeitliche segnen, bevor er sich dafür verantworten muss.

Die Strategien von Amnesty International

Aber als Anklageschrift ist der AI-Bericht ohnehin nicht geeignet – und auch nicht gemeint. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie AI und Human Rights Watch haben mit internationalen Straftribunalen zusammengearbeitet, sie haben Ermittlungen ausgelöst und Prozesse beeinflusst. Aber wenn sie das wollen, gehen sie anders vor. Dann organisieren sie Kampagnen, liefern harte Beweise, stellen Zeugen zur Verfügung, treten als „Freunde des Gerichts“ auf und mobilisieren die Medien. AI hätte das tun können, denn natürlich gibt es den Verdacht auf Kriegsverbrechen auch in Bezug auf die Ukraine.

Amnesty hat nichts davon aufgegriffen und wer sich das Verzeichnis der AI-Berichte der letzten Monate ansieht, der kommt eher zum Schluss, AI führe eine Kampagne gegen Russland. Selbst der Ukraine-Bericht erwähnt ständig russische Kriegsverbrechen. Warum also ein (noch dazu schlechter) Bericht über den Verdacht, die Ukraine habe nicht alles zum Schutz ihrer Zivilisten getan? Zum einen natürlich, um den Anschein der Neutralität zu wahren – gerade wegen der großen Zahl von Berichten, die Russland an den Pranger stellen. Aber da ist noch mehr und das lässt tief blicken, tief ins internationale Recht und tief in die Praktiken und Möglichkeiten von internationalen Menschenrechtsorganisationen.

Die Hechte im Karpfenteich der internationalen Justiz

Im Fischteich des internationalen humanitären Rechts schwimmen nicht nur Juristen, sondern auch jede Menge Raubfische, die da eigentlich nichts zu suchen haben, aber ihre scharfen Zähne benutzen, um sich durchzusetzen. Da ist der UN-Sicherheitsrat, der ICC-Ermittlungen suspendieren, aber auch in Ländern anordnen kann, für die der ICC eigentlich gar nicht zuständig ist. So war das in Libyen und im Sudan. Weil solche Entscheidungen Einstimmigkeit benötigen, kann jedes ständige Mitglied des Sicherheitsrats sich selbst und Länder aus seinem Hinterhof („im nahen Ausland“ würden Russen sagen) vor dem ICC durch ein Veto schützen.

Solche Länder müssen trotzdem humanitäres Recht achten und anwenden. Aber wer dagegen verstößt, muss nur die Richter seines eigenen Landes fürchten, sollte bei Auslandsreisen aber vorsichtig sein. Es sind Staaten, die darüber entscheiden, wer am ICC Richter wird, es sind Staaten, die vom ICC Gesuchte festnehmen oder laufenlassen können, es sind Staaten, die die Ankläger entsenden und es sind Staaten, die darüber entscheiden, ob ihre Politiker, Militärs und Geheimdienstler vor dem ICC aussagen dürfen.

Ohne Mitarbeit von Staaten ist der ICC machtlos, das konnte man im Sudan beobachten, aber auch in Libyen und Kenia. Dort streiten momentan zwei Kandidaten um den Wahlsieg bei den Präsidentschaftswahlen, Raila Odinga und William Ruto, die noch vor wenigen Jahren auf der ICC-Anklagebank saßen, bis der ICC die Anklagen fallen ließ, weil ihm die Beweise und die Zeugen abhandengekommen waren. Das wundert einen weniger, wenn man weiß, dass zur gleichen Zeit Odinga und Ruto in einer Art Koalition das Land regierten und eine Art inoffizielle Absprache hatten, sich gegenseitig und ihre Anhänger vor dem bösen, kolonialistischen ICC im fernen Den Haag zu schützen. In manchen Ländern Afrikas schadet es Gesundheit und Karriere mehr, wenn man sich als Zeuge statt als Angeklagter auf den Weg nach Den Haag macht.

Daran sieht man: Die Staaten sind die Hechte in diesem Karpfenteich. Die internationale Gerichtsbarkeit spiegelt die Machtverhältnisse unter den Staaten wider, aber sie hebelt sie auf keinen Fall aus. Der Gedanke, China, Russland oder die USA würden brav ihre Kriegshelden an den ICC ausliefern, damit diese dort ihre Verbrechen in Afghanistan, Libyen, der Ukraine und in Myanmar bekennen und Buße tun, ist weltfremd und naiv. Manchmal helfen die USA dem ICC, dessen Statut sie nie ratifiziert haben, dabei, renitente Rebellenführer hinter Gitter zu bringen. Aber nur, wenn es die nationalen Interessen der USA nicht schädigt.

Die NGOs sind nur die Boten, die die schlechten Nachrichten bringen

Die kleinsten Fische in diesem Fischteich sind die Nichtregierungsorganisationen, also Vereine wie Amnesty International, Human Rights Watch (HRW), die Helsinki-Komitees und die Menschenrechtsaktivisten und -Anwälte in ihrem Dunstkreis. Wenn die großen Hechte sich treffen, bombardieren sie sie mit Petitionen, Briefen, organisieren Proteste und schreiben Berichte, die alle mit Empfehlungen enden über das, was die Regierungen doch bitte tun möchten, wenn sie ihre Menschenrechtsverpflichtungen einhalten wollen.

Staaten sind nun aber umso eher bereit sind, solche Verpflichtungen einzugehen, je einfacher es für sie ist, sie einzuhalten. Staaten, die von Freunden umgeben sind (wie die Bundesrepublik) und deshalb in absehbarer Zeit keine Kriege führen müssen, ratifizieren schneller rigorose Konventionen als Staaten, denen ständig jemand ans Leder will (wie Israel) und die deshalb lieber freie Hand haben bei ihrer Verteidigung.

Länder mit einer funktionierenden Justiz, die ohnehin Folter und Menschenrechtsverletzungen bestraft, können leichteren Herzens Konventionen gegen Folter und Menschenrechtsverletzungen ratifizieren als Länder, in deren Gefängnissen und Untersuchungshaftanstalten Zustände herrschen, die geeignet sind Frau Callamard auf den Plan zu rufen. Viele Staaten wollen zwar in punkto humanitäres Recht gerne als Musterschüler dastehen, nehmen es mit der Anwendung aber dann doch nicht so ernst. Dann stellen internationale NGOs wie Amnesty International sie an den Pranger, in der Hoffnung, dass sie ihr Verhalten ändern. Bevor sie das tun, bitten sie die entsprechende Regierung freundlich, doch die eine oder andere der von ihnen festgestellten Verfehlungen abzustellen. Kann ja sein, dass die Regierung bisher gar nichts davon wusste.

Höfliche und nicht ganz so höfliche Menschenrechtler

Das klingt naiv und ist es auch, aber mehr kann man als NGO eben nicht tun. Und wer sich jetzt immer noch über den Amnesty-Bericht aufregt, der möge berücksichtigen, dass Amnesty unter allen Menschenrechts-NGOs mit Abstand die höflichste ist. Sie veranstaltet regelmäßig Briefschreibeaktionen, bei denen Tausende gutwilliger Menschen auf der ganzen Welt Postkarten an politische Gefangene und Petitionen an blutige Diktatoren schicken, sie möchten diese Gefangenen doch bitte freilassen.

Andere Menschenrechts-NGOs sind da wesentlich rigoroser und verlangen oft geradezu ultimativ die radikale und rücksichtslose Einhaltung der Menschenrechte unter allen Umständen und sofort. 1994 forderte Human Rights Watch so beispielsweise die rücksichtslose Bestrafung aller Täter des Völkermords in Ruanda. Das überzeugte die ruandische Regierung und sie sperrte 120.000 Verdächtige ein, allerdings ohne über die notwendigen Gefängnisse zu verfügen. Erwartungsgemäß trampelten sich die Gefangenen in den überfüllten Zellen gegenseitig tot, verhungerten und gingen an Krankheiten zugrunde.

HRW forderte daraufhin, ihre Haftbedingungen zu verbessern und den Häftlingen den Prozess zu machen, rechtsstaatlich, versteht sich, vorzugsweise mit Pflichtverteidigern und Berufungsinstanz. Bloß gab es in ganz Ruanda nur noch ein paar Dutzend professioneller Richter und Anwälte und viele der Inhaftierten hatten weder Akten, noch Dokumente, noch wussten sie, was man ihnen genau vorwarf. Am Ende wurde der größte Teil der Gefangenen auf Bewährung entlassen, mit der Auflage, die eigenen Taten rückhaltlos vor Laienrichtern zuzugeben. Wer das tat, kam frei, musste aber gemeinnützige Arbeit leisten.

HRW kritisierte dann, diese Laiengerichte urteilten nicht fair. Daran sieht man: Nicht nur die Ukraine hat Probleme, die rigorosen Erfordernisse des internationalen humanitären Rechts und seiner Verteidiger zu erfüllen. Das liegt auch daran, dass für Menschenrechtler Menschenrechte meist nicht verhandelbar sind. Sie müssen kompromisslos eingehalten werden. Punkt. Andernfalls erfolgt kompromisslose Kritik (mehr aber auch nicht). Regierungen haben es da nicht so leicht, sie müssen auf die öffentliche Meinung im eigenen Land Rücksicht nehmen (während Amnesty International, wie schon der Name sagt, eigentlich nicht einmal ein eigenes Land hat), sie müssen abwägen, zwischen internationalem Recht und nationalem Interesse und zwischen dem Amboss, am Pranger von AI zu stehen, und dem Hammer, den Krieg zu verlieren.

Ein Krieg wie ein Boxkampf

Menschenrechtler müssen und wollen in der Regel keine Kriege gewinnen. Wenn es nach ihnen geht, sollte man Kriege abschaffen, verbieten oder so stark reglementieren, dass sie am Ende wirklich ablaufen wie Frazer gegen Ali, oder, um das Ganze an osteuropäische Verhältnisse anzupassen, Klitschko gegen Putin: Drinnen im Ring hauen sich die Profis die Nasen platt, während die Zivilisten aus sicherer Entfernung Beifall klatschen und buhen. Und wer nicht mehr kann oder will, wirft das Handtuch und wird zweiter Gewinner. Den Krieg, der dazu passt, hat es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben, noch nicht einmal zwischen Buren und Engländern.

Das klingt jetzt ganz so, als seien diese Menschenrechtler dem irdischen Dasein entrückte Wesen, die Zeppelin-gleich über die Schlachtfelder dieser Welt schweben und anstelle der von der Haager Landkriegsordnung verbotenen Sprengkörper Moralpredigten abwerfen. Oft ist das so, aber was will man auch machen, wenn man nun einmal nicht mehr Einfluss hat? Es gibt allerdings noch einen anderen Grund: Das internationale humanitäre Recht selbst ist so rigoros, gleichzeitig aber auch naiv und weltfremd und hinkt der modernen Kriegführung hoffnungslos hinterher.

Die eigenwillige Logik der USA

Wolfgang Kaleck vom Europäischen Zentrum für konstitutionelle und Menschenrechte (European Center for Constitutional and Human Rights) hat dieser Tage den mit geradezu chirurgischer Präzision durchgeführten CIA-Drohnenangriff auf Al-Kaida-Chef Aiman Al-Sawahiri als rechtswidrig kritisiert. Keine unbeteiligten Zivilisten kamen zu Schaden, es gab kaum Kollateralschaden, lediglich die Bausubstanz des betreffenden Hauses wurde in Mitleidenschaft gezogen und die eingesetzten Mittel waren zielführend und verhältnismäßig.

Und dennoch hat Kaleck recht: Nach internationalen Recht hätten die USA von den Taliban al-Sawahiris Festnahme und Auslieferung verlangen und ihn dann in den USA vor Gericht stellen müssen. Nur erkennen die USA die Taliban gar nicht an, weshalb die Taliban wiederum keinen Grund haben, jemanden an die USA auszuliefern. Einfache Gemüter wären vielleicht geneigt, die Osama-bin-Laden-Version vorzuschlagen: Die USA fallen in Afghanistan ein, und statt al-Sawahiri zu erschießen wie weiland bin Laden (was auch völkerrechtswidrig war), entführen sie ihn und machen ihm dann den Prozess in den USA, gewissermaßen in Nachahmung der Eichmann-Entführung (die auch völkerrechtswidrig war) und seines Prozesses in Jerusalem.

Das internationale humanitäre Recht ist hoffnungslos idealistisch

Aber nein, auch wenn die USA die Taliban nicht anerkennen, ist Afghanistan dennoch ein souveränes Land, in das man nicht einfach so einfallen darf. Das wäre nämlich ein Angriffskrieg und so etwas verbietet die UN-Charta. Für Regierungen, die gerne die Muskeln spielen lassen, ist Völkerrecht eine echte Spaßbremse. Es verbietet fast alles, was Eindruck macht, Erfolg verspricht und zu Hause Beifall aufbranden lässt. Im konkreten Fall von al-Sawahiri wäre die juristisch sauberste Lösung eine ganz im Sinne von Konfuzius gewesen: Joe Biden setzt sich an einen Fluss und wartet, bis al-Sawahiris Leiche vorbeischwimmt. Kein Menschenrechtler hätte etwas dagegen sagen können.

Das klingt jetzt irgendwie ironisch, ist aber gar nicht so gemeint. Denn so ist das internationale humanitäre Recht nun einmal – idealistisch, naiv und überholt bis zum Gehtnichtmehr. Es hat nicht einmal verbindliche Regeln für den Umgang mit Drohnen zustande gebracht und ist ratlos beim Umgang mit Menschen, die weder Zivilisten noch Kombattanten sind und in einem fremden Land, das man nicht angreifen darf, auf dem Balkon stehen und einen Terroranschlag planen.

Aber wer deshalb auf Amnesty International oder Wolfang Kaleck herumhacken will, der muss wissen, dass er den Boten prügelt, nicht den Absender. Den für das Zustandekommen und die Anwendung dessen, was Frau Callarmard und Kaleck verteidigen, sind nicht die Menschenrechtler, sondern die Staaten verantwortlich. Um vor ihren Bürgern und der Weltöffentlichkeit gut auszusehen, erlegen sie sich ständig rigorose Beschränkungen bei der Kriegführung auf, die sie dann, wenn dann wider Erwarten ein Krieg ausbricht, weder einhalten können noch einhalten wollen.

Klaus Bachmann ist Politikwissenschaftler, Historiker, Publizist und Professor für Sozialwissenschaften an der SWPS University in Warschau.

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