Die Aussichten für die nächsten Jahre sind trübe: Spätestens im Spätherbst wird es in West- und Mitteleuropa Proteste und Demonstrationen gegen Preissteigerungen, Energiepreise, Stromabschaltungen und Gasmangel geben, die die Corona-Proteste der letzten Jahre in den Schatten stellen werden. Dass Joe Biden die Präsidentschaftswahlen in den USA verliert, ist so wahrscheinlich wie ein Angriff Chinas auf Taiwan. Es ist dabei von untergeordneter Bedeutung, ob Donald Trump oder ein anderer Republikaner gegen Biden gewinnt.
Selbst Biden hat vor seiner Wahl angekündigt, die nuklearen Garantien für die Nato-Verbündeten einzuschränken: Eine atomare Antwort der USA gibt es nur bei einem atomaren Angriff auf einen Verbündeten, bei einem konventionellen nicht. In letzterem Fall dürfte dann eine Art Ukraine-II-Szenario ablaufen: Die USA senden Soldaten, Material, Waffen und diplomatische Unterstützung, setzen aber keine Atomwaffen ein. Was geschieht, wenn Trump oder ein anderer republikanischer Isolationist an die Macht kommt, kann man sich leicht vorstellen.
Das deutsche Dilemma mit der nuklearen Abschreckung
Trump ist imstande, die Beistandsgarantie der Nato außer Kraft zu setzen. Als er noch Präsident war, zog er in einem Interview in Zweifel, ob die USA tatsächlich den Nato-Partner Montenegro, „ein kleines Land“, verteidigen würden, wenn dadurch ein dritter Weltkrieg drohe. Ob er sich darüber im Klaren war, dass zwei Jahre zuvor russische Agenten einen Putschversuch unternommen hatten, um den Beitritt Montenegros zur Nato zu verhindern? Verhindert wurde der Putsch damals übrigens von Serbien, was man angesichts des weitverbreiteten Serben-Bashings in Westeuropa nicht verschweigen sollte.
Ob mit Biden oder Trump als Präsident ab 2024 – das deutsche Dilemma mit der nuklearen Abschreckung bleibt bestehen. Besser, das heißt verlässlicher, wird’s nicht. Da hatte Thorsten Frei, Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, recht, als er Ende Mai in einem Gastbeitrag für die FAZ forderte, „das Undenkbare zu denken“. Ich weiß nicht, wie man Undenkbares denken kann, ich stelle es mir noch schwieriger vor als Ungenießbares zu genießen oder Unsägliches zu sagen, aber gerade Trump ist ja damit berühmt geworden, Dinge zu sagen, die er selbst vermutlich zuvor weder ge- noch durchdacht hat. Mit Freis Undenkbarem ist es ähnlich: Man kann es durchaus denken, aber das Ergebnis ist ziemlich ungenießbar.
Warum Deutschland Atommacht werden sollte
Eines der Dinge, die man in Deutschland besser nicht laut sagt, ist die schlichte Erkenntnis, dass noch nie ein Atomstaat einen anderen Atomstaat angegriffen hat, weder atomar noch konventionell. Atomare Abschreckung hat bisher funktioniert, sie hat sogar – nach der Kubakrise – dazu geführt, dass die USA und die UdSSR Absprachen getroffen haben, mit denen ein zufällig, gegen ihren Willen stattfindender Atomschlag ausgeschlossen bzw. so eingegrenzt werden sollte, dass er keinen Krieg zur Folge haben würde.
Diese Zeiten sind allerdings vorbei, außer den USA und Russland (und, in geringem Maße, Frankreich und Großbritannien) gibt es jetzt auch noch einen chinesischen Hecht im Karpfenteich der Atommächte, was Absprachen, Vorwarnzeiten und die Benutzung roter Telefone einigermaßen kompliziert. Und davon abgesehen ist historische Erfahrung keine Garantie für die Exaktheit von Voraussagen. Was nicht war, kann durchaus noch werden, das gilt auch für das „Undenkbare“.
Russland und Frankreich und die Zweitschlagkapazität
Ob atomare Abschreckung immer funktioniert, wissen wir nicht. Dass sie nur funktionieren kann, wenn beide Seiten Atomwaffen haben, wissen wir mit großer Sicherheit, denn in den vergangenen Jahrzehnten haben immer wieder Atommächte Nicht-Atommächte angegriffen. Hier genau steckt das Dilemma Deutschlands: Konventionell ist es relativ sicher, auch wenn die Bundeswehr nur beschränkt einsatzfähig ist. Die einzige denkbare konventionelle Bedrohung kommt aus Russland, doch die russische Armee müsste sich erst durch Polen kämpfen, bevor sie an der deutschen Grenze auftauchen würde.
Und selbst die europäischen Nato-Mitglieder (besonders nach dem Beitritt Finnlands und Schwedens) sind Russland haushoch überlegen. Anders sieht die Sache aus, denkt man das Undenkbare zu Ende: Ein russischer Atomschlag gegen Frankreich oder Großbritannien hätte unweigerlich einen Atomschlag gegen Russland zur Folge, denn beide Länder haben nicht nur Atomwaffen, sondern auch die sogenannte Zweitschlagkapazität.
Wie lässt sich Putin abschrecken?
Die ist gewissermaßen das am wenigsten Denkbare des Undenkbaren, weshalb sie weiter unten im Text erklärt wird. Hier ist wichtig: Deutschland hat weder Atomwaffen, noch Zweitschlagkapazität. Deutschland kann auf einen Atomschlag konventionell antworten, was konkret bedeutet (jetzt wird’s so undenkbar, dass man Jugendlichen unter 16 diese Textstelle verdecken sollte), dass Olaf Scholz von seinem vermutlich nur beschränkt einsatzfähigen Atombunker aus nach der Rückverwandlung Berlins in eine Ruinenlandschaft als Rache die Zerstörung eines Moskauer Einkaufszentrums anordnen kann.
Diese Aussicht dürfte Wladimir Putin, der pro Woche mehrere ukrainische Einkaufszentren zerbombt, vermutlich kaum abschrecken. Olaf Scholz müsste darauf vertrauen, dass die USA im Rahmen des „nuclear sharing“ ihre Zustimmung geben, eine US-Atomwaffe von deutschem Territorium starten zu lassen und Moskau in ein zweites Nagasaki zu verwandeln, womit die USA allerdings einen Atomkrieg mit Russland zulasten amerikanischer Großstädte riskieren würden.
Das klingt ziemlich undenkbar. Man kann also davon ausgehen, dass jeder amerikanische Präsident, egal ob er mit Vornamen Joe oder Donald heißt, bemüht sein wird, zu beteuern, genau das zu tun (um so einen Angriff abzuschrecken) aber vermeiden wird, seine Drohung wahrzumachen, nachdem der Angriff dann doch stattgefunden hat. Da Putin das weiß, dürfte ihn „nuclear sharing“ weit weniger von einem atomaren Angriff auf die Bundesrepublik abschrecken als eine atomar bewaffnete Bundesrepublik.
Der Atomwaffensperrvertrag begrenzt den legalen Besitz von Atomwaffen
An diesem Beispiel sieht man, dass Thorsten Frei eigentlich gar nicht recht hat: Atomare Abschreckung ist nicht undenkbar, sie besteht fast nur aus Denken. Bei der konventionellen Abschreckung geht’s um das, was ein Staat hat und kann, um militärische Hardware und die Fähigkeit, sie einzusetzen. Bei atomarer Abschreckung geht’s darum, was für den möglichen Gegner glaubwürdig und überzeugend ist und ihn deshalb abschreckt. Israel ist das beste Beispiel dafür: Dessen atomare Abschreckung beruht gar nicht auf dem Besitz von Atomwaffen, sondern auf der Unsicherheit seiner Nachbarn, ob es welche besitzt. Niemand steckt seine Hand gerne in ein dunkles Loch, solange er nicht sicher ist, dass keine Giftschlange darin wohnt.
Das bringt uns zu der bahnbrechenden Erkenntnis, die wir dem amerikanischen Nobelpreisträger Thomas Schelling verdanken, dass der Besitz von Atomwaffen für eine funktionierende Abschreckung weniger wichtig ist als die Möglichkeit, welche herstellen zu können. Schellings Erkenntnisse sind von besonderer Relevanz für die Grünen und ganz besonders für Annalena Baerbock, die in Japan und New York so gerne und erfolglos für die generelle Abschaffung von Atomwaffen wirbt.
Der Atomwaffensperrvertrag begrenzt den legalen Besitz von Atomwaffen de facto auf die USA, Frankreich, Großbritannien, China und Russland und die verzichten natürlich solange nicht auf ihre Atomwaffen, wie ihre potenziellen Gegner das nicht tun. Aber selbst wenn sie Baerbocks Charme erliegen sollten, würde das nach Schelling nichts ändern: Wir bekämen dann ein Wettrüsten zwischen den gleichen Staaten, das darauf angelegt wäre, die Zeitspanne maximal zu verkürzen, die notwendig ist, um aus atomwaffenfähigem Uran eine einsatzfähige Waffe herzustellen.
Annalena Baerbock könnte dann wieder zwischen Nagasaki und New York pendeln und einen Vertrag aushandeln, der auch das verbietet, aber man sieht bereits: Denkt man das Undenkbare zu Ende, wird etwas ziemlich Lächerliches daraus, nämlich eine deutsche Außenministerin, die ihre Zeit damit vergeudet, einer Chimäre hinterherzufliegen, die am Ende darin besteht, den Uranabbau als ersten Schritt zur Vorbereitung eines Angriffskriegs zu ächten.
Etwas, das ganz besonders undenkbar ist
Daraus folgt aber auch, dass Deutschland gar nicht so weit davon entfernt ist, eine Atommacht zu werden und, frei nach Schelling, bereits ein gewisses atomares Abschreckungspotenzial hat. Es kann, wenn es will, Atomwaffen in relativ kurzer Zeit herstellen. Nur ist es damit leider nicht getan. Atomar bewaffnete Staaten gibt es genug auf dieser Erde, allerdings haben sie nicht viel davon: Pakistan und Indien zum Beispiel schrecken einander ab, ohne dass das deshalb zu Frieden geführt hätte.
Wenn der Iran eine Atombombe bekommt, kann er Israel und den Irak abschrecken, die USA dürfte er damit nicht sonderlich beeindrucken. Das liegt daran, dass er keine Zweitschlagkapazität hat. Letzteres bedeutet, dass atomare Bewaffnung einen atomaren Angreifer nur dann abschreckt, wenn dieser sicher sein kann, dass sein Angriff erwidert wird. Ist das nicht der Fall, wirkt der Besitz von Atomwaffen genau umgekehrt wie Abschreckung: Er lädt den Gegner dazu ein, die atomare Gefahr präventiv auszuschalten.
Man kann das sehr schön im Nahen Osten beobachten, wo Israel immer wieder den Iran von der Entwicklung einer Atombombe abzuhalten versucht, indem es die entsprechenden Installationen bombardiert oder Wissenschaftler, die für das iranische Atomprogramm verantwortlich sind, umbringt. Mit einer einfachen Atombombe allein würde Deutschland also im Konfliktfall eine andere Atommacht geradezu zu einem Atomschlag einladen.
Wer abschrecken will, braucht deshalb die Zweitschlagkapazität – aber die ist enorm teuer und aufwendig. Frankreich kann ein Lied davon singen, es hat geheime Silos für Mittelstreckenraketen und atomwaffenfähige U-Boote. Das alles dient dazu, auch dann atomar zurückschlagen zu können, wenn die eigenen Großstädte und Befehlszentren bereits getroffen wurden.
Und es erfordert enorme Geheimhaltung und enorme Kosten, um die Force de Frappe zu unterhalten. Weshalb französische Präsidenten immer wieder vorgeschlagen haben, Deutschland möge sich doch daran beteiligen. Darum geht’s im Grunde, wenn Thomas Frei und Wolfgang Schäuble eine „europäische atomare Abschreckung“ fordern. Um die britischen Atomwaffen geht’s dabei seit dem Brexit nicht mehr und um die vielen kleineren Staaten in der EU auch nicht.
Warum Deutschland nicht Atommacht werden darf
Ihr Ziel ist also durchaus sinnvoll: Wenn Deutschland – zugegeben, mit riesigem Aufwand – Atommacht mit Zweischlagkapazität würde, wäre es atomar nicht mehr erpressbar und Olaf Scholz müsste nicht mehr ständig mit Putin telefonieren, sondern er könnte auf russische Drohungen mit Atomwaffen genauso gelassen antworten wie französische Regierungsmitglieder, nachdem Putin seinen Verteidigungsminister anwies, die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen: „Wir haben auch Atomwaffen“, antworteten sie schlicht.
Das Problem ist nur: Deutschland darf gar nicht Atommacht werden. Erstens gibt es da den Atomwaffensperrvertrag, der nicht nur Atomwaffenstaaten verbietet, ihre Waffen, Kenntnisse und alles, was dazu dienen kann, Atomwaffen herzustellen und an Nichtatomwaffenstaaten weiterzugeben, sondern es auch Nichtatomwaffenstaaten verbietet, selbst solche Waffen herzustellen oder sie anderweitig zu beschaffen.
Hinzu kommt der Vertrag, für den Annalena Baerbock so heftig wirbt und den Deutschland auch ratifiziert hat. Beide Verträge könnte man mit dreimonatiger Frist kündigen und hätte dann freie Hand. Dass die Ampel das überlebt, ist allerdings eher unwahrscheinlich, auch wenn die bisherigen Atommächte darauf verzichten sollten, Deutschland dann so zu behandeln, wie sie das mit Nordkorea tun, dem einzigen Land, das bisher aus dem Atomwaffensperrvertrag ausgestiegen ist. Und klar ist auch: Für alle Möchtegern-Atomwaffenstaaten dieser Welt wäre es das Signal, aus dem bestehenden System der Nuklearwaffenkontrolle auszusteigen – eine Steilvorlage für Iran, Nordkorea und alle, die ihnen heimlich die Daumen halten.
In Deutschland regieren die Richter
Und genau hier beginnt die Quadratur des atomaren Kreises. Anders als im Iran oder in Nordkorea, wo das größte Hindernis auf dem Weg zur Atomwaffe technologische Rückständigkeit ist, hindern vor allem zwei Faktoren Deutschland daran, Nuklearmacht zu werden: Seine öffentliche Meinung und das Recht, bzw. die Tatsache, dass Deutschland stärker als die meisten anderen Länder auf dieser Welt ein Rechtsstaat ist.
Man muss lange suchen, bis man auf dieser Welt noch ein Land findet, indem selbst die Außenpolitik der Macht von Richtern unterworfen ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundeswehr bei Einsätzen außerhalb des Nato-Vertragsgebiets zu einer Parlamentsarmee gemacht, während die französische, polnische, britische Regierung über ihre Armee in solchen Fragen ohne Mitsprache des Parlaments frei verfügen können.
Das Bundesverfassungsgericht kann internationale Verträge kassieren, für deren Ratifizierung in manchen anderen Staaten statt eines Gesetzes nur die Unterschrift eines Präsidenten notwendig ist. In Deutschland zwingen Richter Diplomaten, sich für im Ausland festgehaltene Deutsche auf eine bestimmte Art und Weise einzusetzen, sie legen fest, ob der Abschuss von Flugzeugen gesetzlich geregelt werden muss, unter welchen Bedingungen die Europäische Zentralbank Schuldverschreibungen anderer Staaten kaufen darf und wie die EU aussehen muss, damit der Bundestag die EU-Verträge ratifizieren darf. Vieles von dem, was in anderen Staaten in die außenpolitische Hoheit der Exekutive fällt, kann in Deutschland von der Opposition und von einfachen Bürgern gerichtlich angefochten werden.
Frankreichs Atomstreitmacht stützt sich zurzeit auf zwei Pfeiler
Niemand kann auch nur den geringsten Zweifel daran haben, dass jeder einzelne Beschluss, jedes Gesetz, jede Maßnahme, die notwendig wäre, um Deutschland eine atomare Zweitschlagkapazität zu geben, sofort eine Prozesslawine vor den ordentlichen Gerichten und dem Bundesverfassungsgericht auslösen würde. Vermutlich würde das sogar für die Standorte der einzelnen Atomwaffenstandorte und die Parameter der Trägersysteme gelten, die natürlich, um ihre Zweitschlagkapazität zu erhalten, absoluter Geheimhaltung bedürfen. Die gleiche Bundesrepublik, die es in Jahrzehnten nicht geschafft hat, ein Endlager für (zivilen) atomaren Sondermüll zu finden, soll plötzlich im Stande sein, in kürzester Zeit Standorte für atomar bestückte Mittelstreckenraketen und ihre Trägerflugzeuge festzulegen und zwar so, dass sie streng geheim bleiben und ihre Lage nicht in den Medien und vor Gericht debattiert werden? Undenkbar!
Frankreichs Atomstreitmacht stützt sich zurzeit auf zwei Pfeiler: auf Flugzeuge, von denen aus nukleare Raketen abgefeuert werden können, deren Reichweite aber sehr begrenzt ist. Und auf vier Atom-U-Boote mit strategischen Langstreckenraketen, die über mehrere, individuell programmierbare Sprengköpfe verfügen. Dieser Teil ist der wirklich abschreckende, aber auch der wirklich teure. Für Deutschland hieße das nicht nur Abschied vom Atomausstieg, sondern auch Einstieg in eine zweite Zeitenwende, und zwar eine enorm kostspielige.
Warum Deutschland als Atommacht nicht mehr die Bundesrepublik wäre
Schäuble, Frei und andere vor ihnen müssen das geahnt haben und vermutlich reden und schreiben sie deshalb auch nicht über das Undenkbare, sondern das leichter Vorstellbare: dass Europa, und nicht Deutschland, oder mindestens Deutschland und Frankreich gemeinsam Atommacht werden sollen. Der Atomwaffensperrvertrag lässt sich damit aber nicht aushebeln.
Wenn die französische Regierung allein über die Atomwaffen verfügen kann, muss keiner der beiden Staaten aus dem Vertrag austreten. Dann allerdings finanziert Deutschland nur einen Teil der „Force de Frappe“, ohne dass das ganze Arrangement für Russland abschreckender wird, als es jetzt schon beim „nuclear sharing“ mit den USA der Fall ist. Oder die Bundesregierung erwirbt für ihr Geld auch das alleinige Verfügungsrecht über einen Teil der Waffen und bricht damit – zusammen mit Frankreich – den Atomwaffensperrvertrag.
Richtig haarsträubend wird es aber erst, wenn daraus dann wirklich eine „europäische Abschreckung“ werden soll, die auch andere Staaten, die von der atomaren Schwelle weiter entfernt sind, umfasst. Dass beispielsweise fünfzehn oder zwanzig Regierungen – jede nach ihren eigenen verfassungsrechtlichen Beschränkungen – im Ernstfall innerhalb von Minuten gemeinsam über einen atomaren Gegenschlag entscheiden, ist, um bei Thomas Frei zu bleiben, ziemlich undenkbar.
Eine nuklear bestückte Iskander-Rakete aus Kaliningrad braucht nur wenige Minuten bis Berlin. Der Europäische Rat braucht in der Regel mehrere Wochen, bis er sich treffen kann. Die Frage von Sein oder Nichtsein an ein demokratisch nicht legitimiertes militärisches Gremium zu delegieren, dürfte in Deutschland an Karlsruhe und in den anderen Staaten am Parlament oder den Protesten auf der Straße scheitern. Natürlich können Frankreich, Deutschland oder alle beide gemeinsam eine Doktrin verabschieden, die die Bedingungen für einen Einsatz von Atomwaffen festlegt.
Aber wären Deutschland und Frankreich wirklich bereit, Paris und Berlin einer „undenkbaren“ Gefahr auszusetzen, um von einem Angriff auf die Slowakei abzuschrecken? Ein solcher Krieg der Doktrinen wäre auch nicht glaubwürdiger als die derzeitige Lage, in der es vor allem die USA sind, die von einem Angriff auf Deutschland abschrecken. Die „Europäisierung der atomaren Abschreckung“ würde somit den Druck zur atomaren Autarkie nur nach unten an die kleineren EU-Mitgliedstaaten weitergeben – bis sich am Ende dann auch Malta eine atomare Zweitschlagskapazität zulegt, wenn es sich das leisten kann.
Daran sieht man, dass es durchaus Sinn ergibt, das Undenkbare zu denken und aufzuschreiben. Die Unionsforderungen nach Atomwaffen sind gar nicht brandgefährlich, sie würden Deutschland sogar weniger sicherer und, naja, auch abschreckender machen. Allerdings wären sie in dem Deutschland, das wir kennen, nicht umsetzbar: Deutschland müsste sich dazu in einen militaristischen Zentralstaat verwandeln, in dem außen- und verteidigungspolitische Fragen der Kontrolle der Gerichtsbarkeit entzogen und u. U. vielleicht sogar die Pressefreiheit im Bezug auf atomare Angelegenheiten eingeschränkt wird. Bevor Deutschland sich daranmacht, Atomwaffen zu erwerben, bräuchte es eine neue Verfassung, von einer anderen Regierung und einer anderen öffentlichen Meinung einmal abgesehen. Deutschland kann Atommacht werden, aber es kann dabei unmöglich die Bundesrepublik bleiben.
Klaus Bachmann ist Politikwissenschaftler, Historiker, Publizist und Professor für Sozialwissenschaften an der SWPS University in Warschau.

















