Geopolitik

Russlands wütende Reaktion auf Merz’ Ankündigung: Zwischen Eskalation und Propaganda

Die Äußerung des Bundeskanzlers, die Reichweitenbeschränkung für die Ukraine aufzuheben, sorgt für heftige Reaktionen aus Russland. Nun sei Berlin im Visier des Kremls.

Taurus-Lieferungen an Kiew bleiben ein brisantes Thema im Ukrainekrieg. Nach der Äußerung von Kanzler Merz könnte die Debatte wieder aufflammen.
Taurus-Lieferungen an Kiew bleiben ein brisantes Thema im Ukrainekrieg. Nach der Äußerung von Kanzler Merz könnte die Debatte wieder aufflammen.Bienert/Bundeswehr/dpa

Bundeskanzler Friedrich Merz löste mit seiner Ankündigung am Montag eine mittelschwere diplomatische Erdbebenwelle aus: „Es gibt keinerlei Reichweitenbeschränkungen mehr für Waffen, die an die Ukraine geliefert wurden“, erklärte der CDU-Politiker unmissverständlich. Dies bedeute, dass die Ukraine nun „militärische Ziele im russischen Hinterland“ angreifen dürfe.

Diese Aussage traf in Moskau wie eine politische Granate ein. Kremlsprecher Dmitri Peskow reagierte umgehend mit scharfer Kritik: Dies seien „ziemlich gefährliche Entscheidungen, wenn es sie gegeben hat“. Auch Außenminister Sergej Lawrow nutzte ein Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen Hakan Fidan, um eine bemerkenswerte These zu verbreiten: „Die Bundesrepublik Deutschland hat vor langer Zeit und heimlich die Entscheidung getroffen, der Ukraine Langstreckenangriffe auf Russland zu erlauben.“

Kreml-Experte: Merz-Regierung wählt die Eskalation

Besonders spöttisch kommentierte der russische Chefdiplomat die anschließenden Dementis aus Berlin: „Gestern hat er (Anm. d. Red.: Merz) mit großem Pathos erklärt, dass es von nun an keine Beschränkungen der Reichweite von Angriffen geben wird – Stunden später sagte sein Vizekanzler, davon könne keine Rede sein. Dann behauptete Merz plötzlich, er habe nur bestehende Praxis beschrieben. Diese Verwirrung zeigt das wahre Kompetenzniveau europäischer Führer.“ In Russland gibt die Bundesregierung jedenfalls ein überaus unkoordiniertes und unprofessionelles Bild ab.

Eine nuanciertere Einschätzung zur aktuellen Dynamik liefert Artem Sokolow, Analyst am renommierten Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO). „Die Aussagen von Merz über die Bereitschaft, deutsche Waffen gegen Ziele in Russland einzusetzen, spiegeln die Entschlossenheit der deutschen Führung wider, angesichts der laufenden Verhandlungen zwischen Moskau, Washington und Kiew eine eskalative Rhetorik zu verwenden“, so Sokolow im Gespräch mit der Berliner Zeitung.

Sokolows Analyse deutet auf ein bewusstes taktisches Vorgehen Berlins hin – weder eine reine Eskalation noch Zurückhaltung, sondern eine ambivalente Strategie der Abschreckung bei gleichzeitiger Risikominimierung. „Deutsche Waffen werden bereits von den ukrainischen Streitkräften an der Front eingesetzt und damit faktisch gegen Ziele in den neuen russischen Regionen verwendet. Gleichzeitig weisen die vagen Formulierungen Merz’ und sein Bestreben, die Diskussion über Waffenlieferungen an die Ukraine aus der öffentlichen Debatte zu nehmen, auf den Wunsch Berlins hin, eine Distanz zwischen kriegerischer Rhetorik und tatsächlichen Schritten zur militärischen Unterstützung der Ukraine zu wahren.“

Wie schon zu Zeiten der Ampelkoalition bevorzuge die Bundesregierung unter Merz, im Gleichschritt mit den Nato-Verbündeten zu handeln, ohne beispielsweise mit einer eigenen Initiative voranzugehen, so der Experte von der russischen Diplomatenschmiede.

Reaktion aus Russland: Europäer sollten ihre Luftschutzkeller überprüfen

Die Reaktionen in russischen Staatsmedien übertreffen wiederum an Schärfe selbst Lawrows Äußerungen. In der populären Talkshow „60 Minuten“ auf Rossija 1 heißt es, Deutschland kehre zu seinen faschistischen Wurzeln zurück. „Merz ist nur der Handlanger Washingtons“ und „Sollten deutsche Raketen jemals russischen Boden treffen, wird Berlin in Schutt und Asche liegen!“, brüllen die Talkshowgäste.

In kremlfreundlichen Telegramkanälen warnen Kriegsblogger hingegen vor dem Taurus-Marschflugkörper, der in Zukunft wieder im Mittelpunkt der Debatte stehen könnte. „Jede Taurus-Rakete, die aus Kiew auf Moskau abgefeuert wird, ist de facto ein deutscher Angriff. Unsere Vergeltung wird nicht auf die Ukraine beschränkt bleiben. Die europäischen Hauptstädte sollten ihre Luftschutzkeller überprüfen“, schreibt ein Blogger.

Merz’ Äußerung – ob nun bewusste Eskalation oder rhetorischer Fehltritt – hat jedenfalls den Nerv des Kremls getroffen. Die Reaktion zeigt nämlich: Moskau fürchtet weniger die deutschen Waffen selbst als vielmehr den symbolischen Bruch mit der bisherigen westlichen Zurückhaltung in ihrer Ukraine-Waffen-Politik. Gleichzeitig nutzt der Kreml die Gelegenheit, um innenpolitisch die „deutsche Gefahr“ zu beschwören und außenpolitisch Zwietracht unter den Nato-Verbündeten zu säen.