Essay

Holger Friedrich: Warum der Rechtsstaat auch für reiche Russen gelten muss

Der Umgang mit russischen Superreichen stellt für den deutschen Rechtsstaat eine Herausforderung dar. Ein Essay.

Der Philanthrop Usmanow: Er wird zu Unrecht von westlichen Behörden angefeindet.
Der Philanthrop Usmanow: Er wird zu Unrecht von westlichen Behörden angefeindet.privat

„Ihre Perspektive auf die Demokratie ist einzigartig und nicht falsch“, schrieb die in London lebende und in der DDR aufgewachsene bundesrepublikanische Historikerin Katja Hoyer über die Ostdeutschen in ihrer letzten Veröffentlichung.

Ich bin Ostdeutscher, gehöre zu den 96 Prozent, die sich nach einer von Hoyer zitierten Studie der Universität Jena für die Demokratie aussprechen und zähle zu den 50 Prozent, die Verbesserungspotenzial erkennen und dies artikulieren, ohne jemals auch nur einen Moment an die AfD gedacht oder gar mit ihr sympathisiert zu haben.

Doch ich bekenne, mit der Selbstgefälligkeit der politischen Eliten und ihrer oftmals konform agierenden Medien nicht in Harmonie leben zu wollen. Deswegen der Kauf der Berliner Zeitung, deswegen das regelmäßige Hinterfragen allseits akzeptierter Standards und das Aufbegehren gegen die Selbstgefälligkeiten unseres sich so oft selbst genügenden Establishments. Aktuell bin ich zum Widerspruch motiviert durch die Ankündigung der EU, zum Jahrestag des Überfalls der Russischen Föderation auf die Ukraine die Sanktionen gegen russische Bürger oder Unternehmen zu verschärfen.

Diese Entscheidung ist selbstgefällig, sie stiftet keinen Nutzen. Das haben bereits die bisherigen Sanktionen gezeigt. Weder ist die russische Wirtschaft zusammengebrochen, noch wurde der Krieg gegen die Ukraine wesentlich beeinflusst. Auch haben sich exponierte Personen in der Russischen Föderation nicht erkennbar von ihrer politischen oder militärischen Führung abgewandt.

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Eher das Gegenteil – in unserer selbstreferenziellen Genügsamkeit übersehen wir die Adaptionsfähigkeit global agierender Strukturen. So haben wir über die vergangenen Jahrzehnte einen Saldo aufgebaut, den es früher oder später zu begleichen gilt. Den Preis zahlen wir heute schon gemeinsam. Erst einen wirtschaftlichen, später einen moralischen. Es ist die Umkehrung des „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ des Bertolt Brecht in seiner Ballade „Wovon lebt der Mensch“ in seiner gemeinsam mit Kurt Weill 1928 am Berliner Theater am Schiffbauerdamm uraufgeführten, weltweit erfolgreichen und von den Nazis verbotenen „Dreigroschenoper“.

Denn wir sind wirtschaftlich unter Druck geraten, und wir korrumpieren uns moralisch. Das ist bedauerlich: Gerade erinnert uns die Meldung des Todes des Regime-Gegners Alexej Nawalny in einem entlegenen russischen Straflager, dass sich der Westen eigentlich immer als Vorbild für Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Individualrechte verstanden hat.

Ein Treffen mit Usmanow

Als vor anderthalb Jahren viele deutsche Medien, teilweise in einem wahren Furor, vom größten Steuerskandal, von Sanktionsumgehungen und Geldwäsche in unvorstellbaren Dimensionen berichteten – es ging um den Usbeken mit russischem Pass Alischer Usmanow –, war ich skeptisch. Schon die Fakten schienen unstimmig, sei es hinsichtlich der Position und Rolle exponierter Vertreter zentralasiatischer Völker im politischen Establishment Russlands oder hinsichtlich der Menge und des Werts der vorgefundenen Preziosen. Später wurden Zahlen publik. Der Geldwäsche-Vorwurf wurde auf 42 Millionen Euro beziffert. Für derart verschobene Größenordnungen – im Vergleich zum Milliarden-Volumen der öffentlich bekannten wohltätigen Spenden Usmanows - hat der einstige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, mit Blick auf den westdeutschen Immobilienpleitier Schneider einen Gattungsbegriff geprägt: Peanuts.

Zu jener Zeit beruflich in der usbekischen Hauptstadt Taschkent tätig, klopfte ich an die Tür des dort ansässigen Usmanow. Ich wollte fragen, ob das alles so stimmen konnte. Längst hatte ich gelernt, dass manche Medien mitunter allzu gerne auf Informationen aus Drittquellen zugreifen, im Zweifel mit unklarer Herkunft. Ein direkter Zugang musste einen Wert darstellen, den es für die Berliner Zeitung zu erschließen galt.

Im Visier des Westens: Roman Abramowitsch
Im Visier des Westens: Roman AbramowitschAnthony Anex/KEYSTONE

Es war leicht, Zugang zu bekommen. Schon schwerer war es, Vertrauen zu erringen, insbesondere in Usmanows professionellem Umfeld. Doch bereits im ersten Gespräch ahnte ich, wie kompliziert es für die deutschen Medien – und wie viel komplizierter für die ermittelnden Behörden – werden könnte, ihre mit viel juristischer und noch mehr vorverurteilender Verve errichtete Stellung gesichtswahrend zu räumen.

Usmanows Unternehmerlaufbahn hatte nach einer politisch motivierten Kriminalisierung zu Sowjetzeiten, als er wegen einer Intrige gegen seinen Vater einige Jahre im Gefängnis saß, begonnen und sollte nun, lange nach dem Rückzug aus der operativen Verantwortung und dem Ende seiner unternehmerischen Aktivitäten, erneut in einer politisch motivierten Kriminalisierung enden – diesmal allerdings unter den Auspizien des sich als demokratisch-freiheitlich verstehenden Rechtsstaats. Nach Jahrzehnten als erfolgreicher Investor bei Börsenstars wie Facebook oder dem chinesischen JD.com, nach ebenso erfolgreicher Arrondierung seiner russischen Erz- und Stahlaktivitäten (lange nach den Wild-West-Privatisierungen der 1990er) dürfte sich genügend Erfahrung, Kapital und Motivation angesammelt haben, um den – bis heute nicht substantiierten – Vorwürfen der deutschen Justiz zu begegnen.

Das übermotivierte Handeln einzelner Ermittler

Ein Sprichwort sagt: „Wähle deine Schlachten weise“. Dagegen ist die Wahl der deutschen Behörden von einer Unbedachtheit, die dem Kampf um das Eigentum in der Dreigroschenoper gleichkommt.

Was damals, bei unserer ersten Begegnung in Taschkent, eine Ahnung war, ist nach anderthalb Jahren Gewissheit. Dieser Mann arbeitet und lebt nach eigenen, überaus ambitionierten Regeln. Er ist gläubiger Muslim, an seinen Händen klebt kein Blut, und er ist großzügig. Auf orientalische Art verschwenderisch gegenüber seiner Familie, Weggefährten und Menschen verstreut über den Globus, auch gegenüber Menschen in Deutschland.

Ich verstehe gut, dass Usmanows Verhalten Neid und Unverständnis provoziert. Aufgrund mangelnden interkulturellen Verständnisses erscheint uns manches in anderen Teilen der Welt rätselhaft. Doch dieser Umstand darf weder Politik noch Behörden veranlassen, abseits rechtsstaatlicher Prinzipien zu agieren. Nach anderthalb Jahren hat sich in diesem Fall – leider – der initiale Eindruck einer politisch motivierten Hexenjagd gefestigt. Nach nunmehr einer Vielzahl durch Usmanow gewonnener Prozesse sind sämtliche Argumentationslinien der staatlichen Sanktionierung unter Druck geraten.

Abgesehen vom erkennbaren Verstoß gegen das Gebot der Steuersparsamkeit dürfte das übermotivierte Handeln einzelner Ermittler inzwischen mit dem Legalitätsprinzip kollidieren. Das wird auch im Ausland wahrgenommen und führt ganz nebenbei zu der Schlussfolgerung, der deutsche Rechtsstaat könnte möglicherweise (politisch) interessengeleitet handeln. Dieser Eindruck wäre fatal, weil er die mittlerweile international immer wieder geäußerten Vorwürfe der Doppelmoral im deutschen Agieren in der Welt bestätigen würde.

Hinzu kommt: Auch das Legalitätsprinzip gilt nicht absolut. So kann es gemäß Paragraf 153 ff. der Strafprozessordnung durchbrochen werden. Die Ermittlungsbehörden können von der Strafverfolgung absehen und ein Verfahren einstellen.

Der Begriff des Neuererwesens

Nach dem durch Usmanows Medienanwalt Joachim Steinhöfel gegen das Magazin Forbes durchgesetzten Urteil – die Berliner Zeitung berichtete – ist die Verfahrenseinstellung keine Undenkbarkeit mehr. Schließlich basieren die Begründungen sowohl der Sanktionen als auch der Ermittlungen gegen den Unternehmer zu einem Großteil auf Presseberichten. Zahlreiche Berichte haben sich als inkorrekt erwiesen und mussten nach gerichtlichen Entscheidungen korrigiert werden. Die große Zahl rechtskräftiger Urteile gegen Presseorgane ist ein deutlicher Hinweis auf die Fragwürdigkeit der Vorwürfe gegen Usmanow.

Sanktionen gelten Freund und Feind als anerkannt wirksames Mittel in Wirtschaftskriegen. Wenn Sanktionen jedoch aufgrund falscher Tatsachen und vornehmlich gestützt auf eine soufflierende Medienbegleitung zustande kommen, wenn Individuen für das Handeln ihres Staates per Kollektivstrafe verantwortlich gemacht werden, und wenn zudem Sippenhaft – etwa die Sanktionierung von Usmanows Schwester oder, in einem anderen Fall, der Kinder des russischen Milliardärs Roman Abramowitsch – zur Anwendung kommt, dann sind die Grenzen des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates überschritten.

Es darf im Sinne des Werteversprechens einer die individuellen Freiheitsrechte hochhaltenden Gesellschaft nicht sein, dass deutsche Ermittlungsbehörden ohne handfeste Beweise oder stringente Indizien straf- und steuerrechtliche Ermittlungen gegen Vermögende mit russischem Pass durchführen, die offenbar politisch motiviert scheinen und auf schale Arte und Weise an die Mechanismen der Vergangenheit zur Finanzierung deutscher Rüstung erinnern. Die Namen lauten heute Abramowitsch, Wolosch oder Usmanow. Doch die Mechanismen sind die von gestern.

Politisch verfolgt: Arkadi Wolosch
Politisch verfolgt: Arkadi WoloschMikhail Metzel/Imago

Der Preis, den wir zahlen, ist nicht nur die Vergeudung von Steuergeld durch Ermittlungen und Gerichtsverfahren. Es gibt größere, indirekte Kosten, wenn wir einen Philanthropen der islamischen Welt wie Alischer Usmanow ungerechtfertigt und darüber hinaus wider besseres Wissen attackieren. Auch in anderen Kulturen gibt es Solidarität, die sich gegen Unrecht richtet. Die Herrschenden in der islamischen Welt haben unsere Energiepreise in der Hand, besitzen Zugang zu vertraulichen Kanälen im Gazakrieg und sind potenzielle Geschäftspartner und Investoren. In der Folge steigen unsere Risikoprämien, die der Westen immer schwerer auf seine Geschäftspartner umlegen kann. Auch diese Gelder fehlen in aktuellen und zukünftigen Verteilkämpfen im deutschen Haushalt.

Um auf die Historikerin Katja Hoyer und die Ostdeutschen zurückzukommen: Der Begriff des Neuererwesens in der DDR wird nur noch Eingeweihten bekannt sein. Sprachlich sperrig, zudem aus dem Russischen entlehnt, wird er eher irritieren als beruhigen. Doch er zeigt den deutschen Ermittlungsbehörden, die derzeit im politischen Systemkonflikt aufgerieben werden, Möglichkeiten auf, einen klügeren als den konfrontativen Weg zu wählen.

Holger Friedrich ist Verleger der Berliner Zeitung.

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