Grundrechte

Pandemie und die Folgen: „Wir haben viel zu reparieren“

Wissenschaftler fordern die Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen. Fehler müssten analysiert, Probleme abgestellt werden. Denn die nächste Pandemie kommt bestimmt. 

Eine junge Frau trägt eine Maske in der Berliner U-Bahn.
Eine junge Frau trägt eine Maske in der Berliner U-Bahn.Jörg Carstensen/dpa

„Wir haben viel zu reparieren“, sagt Gerd Antes, Mathematiker und Medizinstatistiker. Er ist hörbar aufgebracht: Denn die ernsthafte Aufarbeitung der Fehler in der Pandemie-Bekämpfung lässt auf sich warten – übrigens nicht nur in Deutschland.

In Österreich, wo es teilweise einzigartig harte Maßnahmen gab wie einen monatelangen „Lockdown für Ungeimpfte“, hatte die Bundesregierung zunächst verkündet, eine große Debatte über die Fehler starten zu wollen. Über Ostern wurde das Ansinnen jedoch vorläufig wieder fallengelassen – und „verschoben“. In Deutschland wird über eine „Enquete-Kommission“ der Bundestags diskutiert. Eine solche Kommission hat jedoch, anders als ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, kaum Werkzeuge für eine wirklich regierungskritische Aufarbeitung.

Die juristische Aufarbeitung der Corona-Pandemie läuft ebenfalls inkonsistent. In Weimar muss sich ein Richter vor Gericht verantworten, weil er die Maskenpflicht, Abstandsregeln und Tests für zwei Schulen aufgehoben hatte. Er hatte mit der „Sicherstellung des Kindswohls“ argumentiert, jedoch nach Ansicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof mit seinem Eingreifen seine Kompetenzen überschritten, somit einen „ausbrechenden Rechtsakt“ gesetzt. Der Richter ist seit Januar vom Dienst suspendiert, berichtet die Legal Times Online.

In Bayern können Personen, gegen die wegen des Verlassens ihrer Wohnung in den ersten beiden April-Wochen 2020 ein Bußgeld verhängt wurde, dieses nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zurückfordern – allerdings nur, wenn sie die Wohnung damals verließen, „um alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstands im Freien zu verweilen“, so der bayrische Gesundheitsminister Klaus Holetscheck laut dpa.

Wenn Bußgelder verhängt wurden, weil Menschen die eigene Wohnung verlassen haben, „um andere zu treffen oder gar Partys zu feiern“, so die dpa, sei keine Erstattung möglich. Holetscheck sieht in dem Urteil im übrigen eine Bestätigung der damaligen Entscheidung der bayrischen Staatsregierung, „die Ausbreitung des Virus mit dem Mittel der Ausgangssperre zu verlangsamen“. Der Gesundheitsminister: „Dabei war unser Ziel immer der Schutz von Menschenleben.“

Wegen der allgemein eher verhaltenen Bereitschaft zur Analyse von falschen oder überzogenen Maßnahmen hat eine Gruppe Wissenschaftler nun einen Offenen Brief an den Bundestag geschrieben. Sie fordern die „Einsetzung einer Kommission zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie“. Zu den Unterzeichnern gehören Fachärzte, Virologen, Epidemiologen, Kinderärzte, Soziologen, Juristen und Vertreter vieler anderer Disziplinen. Initiator Gerd Antes sagte der Berliner Zeitung, es sei „natürlich nicht ausreichend, unter dem Schlagwort ,Blick nach vorn‘ die Vergangenheit abzuhaken und nicht zu betrachten“.  

Da man davon ausgehen müsse, „dass sich eine solche Lage wiederholen wird, müssen wir jetzt die Vorbereitung darauf leisten“. Der Blick nach vorn müsse „sich gründen auf eine nüchterne, emotionsfreie, aber auch schonungslose Analyse des Geschehens in den vergangenen drei Jahren“. Dazu gehöre auch die Feststellung, dass viele Entscheidungen falsch getroffen wurden, weil sich die „politisch Verantwortlichen das damals bereits vorhandene Wissen nicht angeeignet haben“, so Antes. Antes hofft, dass der Offene Brief einen Beitrag auf dem Weg der Rückkehr zur Normalität leisten kann: „Normalität heißt, dass die völlig versagende Achse Politik - Wissenschaft - Medien einmal in den Einzelkomponenten wieder funktioniert und – noch wichtiger – auch im Zusammenspiel.“

Der Physiker Bernhard Müller, der den Brief ebenfalls unterschrieben hat, sagte dieser Zeitung: „Wir müssen für vergleichbare Krisen künftig besser gerüstet sein. Das geht nur, wenn man das Geschehene sorgfältig analysiert, Fehler identifiziert und die Probleme abstellt.“ Die Forderung der Unterzeichner, die Analyse nicht personenbezogen, sondern anhand der Sachfragen durchzuführen, sei laut Müller ein wichtiger Faktor, um die Bereitschaft der Entscheider zur Mitwirkung an der Aufklärung zu erhöhen: Er sei „vorsichtig optimistisch“, dass die Bereitschaft zur kritischen Befassung steigen könnte: „Manche haben sich während der Pandemie so positioniert, dass eine selbstkritische Rückschau schwer fällt. Aber ich sehe schon quer durch das Parteienspektrum Stimmen, die aus der Pandemieerfahrung lernen wollen. Der Schritt erfordert eine gewisse Überwindung, und gerade deshalb wäre eine extreme ,blame culture‘ jetzt kontraproduktiv.“

Eine Auseinandersetzung mit einigen „grandiosen wissenschaftlichen Fehlleistungen“ sei aber nötig, sagt Antes. Dazu bedürfe es einer „ernsthaften Diskussion ohne ausschließlich ideologisch bedingte Aussagen“. Bernhard Müller hofft, dass „die Politik und andere Bereiche der Gesellschaft den Ball aufnehmen und wir über die Ausgestaltung der Aufarbeitung ins Gespräch kommen“. Das Ziel sei ein strukturierter „Aufarbeitungsprozess“. Es gehe aber auch darum, „dass die Einstellung überspringt:  Wir nehmen Fehler als Ansporn, wir übernehmen Verantwortung, wir machen nach der größten Krise im Deutschland der Nachkriegszeit professionell unsere Hausaufgaben“.