Es sind Sätze voller Frustration. Sie zeugen von Überforderung und Verzweiflung. Heidi Müller bekommt sie oft in ihrer Praxis am Stadtrand Berlins zu hören, sie haben die Jugend-Psychotherapeutin alarmiert. „Schule ist Folter“, lautet so ein Satz oder: „Ich bin dumm.“
Die Heranwachsenden sagen das zum Beispiel, „weil sie die Note 1,0 nicht geschafft haben, die sie aber brauchen, um aufs Gymnasium zu kommen“, erklärt Müller. „Mein Eindruck ist, dass die Lehrer jetzt schnell alles nachholen wollen, was in der Pandemiezeit nicht geschafft wurde.“ Und das scheint bei weitem nicht das einzige Erbe von Corona zu sein.
Das Virus hat in der öffentlichen Wahrnehmung seinen Schrecken verloren, doch es wirkt nach. Inzwischen liegen wissenschaftliche Studien vor, die das ganze Ausmaß der Nebenwirkungen erkennen lassen, entstanden durch Maßnahmen zum Schutz vor Covid-19 bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Nicht weniger als eine gesundheitliche, soziale und bildungspolitische Katastrophe sehen Heidi Müller und ihre Mitstreiter aufziehen: Therapeuten, Ärzte, Lehrer, Eltern; sie haben sich zu einer Initiative zusammengeschlossen. Bündnis für Kinder und Jugend – jetzt! haben die Aktivisten sie genannt.
Sie wollen eine Lobby sein für eine Generation, deren Stimme in gesellschaftlichen Debatten oft nicht durchdringt. Während der Pandemie war das so, als zwar der solidarische Beitrag der jungen Menschen allgemein anerkannt, ihr Verzicht zum Schutz der Gemeinschaft allseits gelobt wurde. Mit den Folgen dürfen sie nun aber nicht alleingelassen werden, fordert die Initiative. Sie will alle beteiligten politischen Gewerke an einen Tisch bringen, von der Bildung über die Gesundheit bis zu den Finanzen. Ausgehend von Berlin, wo sich die neue Landesregierung gerade formiert, ausstrahlend auf das gesamte Bundesgebiet.
Studien: Mehr Kinder mit Depressionen
„Mehr Zeit, mehr Platz, mehr Zuwendung“, so fasst das Bündnis den Bedarf auf seiner Homepage zusammen, „sowie bessere Bildungs-, Betreuungs- und Freizeitangebote für die junge Generation“. Mitbegründerin Sandra Reuse sagt: „Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.“ Denn die Fakten liegen längst auf dem Tisch. Da sind die Symptome einer Depression, die bei Kindern und Jugendlichen schon seit den Schulschließungen in der Pandemie zu 75 Prozent häufiger diagnostiziert wurden als vor Corona. Das ergab eine Untersuchung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung für ganz Europa.
Im Februar legte eine Arbeitsgruppe verschiedener Bundesministerien einen Bericht vor, der sich unter anderem auf Daten der Krankenkassen stützt und weitere gesundheitliche Probleme belegt. Bei Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren etwa nahmen diagnostizierte Essstörungen um 54, Angststörungen um 24 Prozent zu. Jungen in dieser Altersgruppe litten deutlich häufiger an Adipositas; die erfassten Fälle von Fettleibigkeit stiegen um 15 Prozent. Mögliche langfristige Folgen sind laut Erhebungen des Robert-Koch-Instituts Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ 2 und Probleme mit den Gelenken.
Erschreckend sind zudem die Erkenntnisse, die das Bundesgesundheitsministerium aus einer Studie zum Konsum von Drogen und Medikamenten im Oktober 2022 vorgelegt hat. 18.189 Jugendliche und junge Erwachsene wurden befragt. Rund ein Drittel gab an, häufiger Alkohol getrunken zu haben. War der Konsum vor der Pandemie niedriger als bei Erwachsenen, ergab sich nun ein Gleichstand. 48 Prozent der Jugendlichen und 41 Prozent der jungen Erwachsenen rauchten während der Pandemie häufiger, auch hier glichen sich die Bilanzen an.
Um 44 Prozent wuchs der Konsum von Cannabis, um bis zu 26 Prozent der Gebrauch von Arznei. Und auch digitale Medien nutzte die heranwachsende Generation deutlich öfter und länger, ein Plus von 85 Prozent ergab die Umfrage. Zum Teil trug dazu der online erteilte Unterricht bei. Einerseits ein Segen, weil auf diese Weise der Kontakt zu den Lehrkräften nicht abriss. Andererseits kamen nicht alle Schüler gleich gut mit dem Medium zurecht. Sei es, weil Schulen nicht über die nötige Infrastruktur verfügten, weil Lehrer die Technik nur spärlich oder gar nicht einsetzten oder Eltern nicht unterstützend eingreifen konnten.
Bündnis schlägt vor: Mehr Raum für Kreativität
Die Folge: Etliche Kinder hinken im Lehrstoff hinterher, haben Defizite, die nun umso schwerer auszugleichen sind, da Lehrer fehlen. Zum Stichtag 1. November 2022 waren in Berlin knapp 1000 Stellen nicht besetzt. „Unter diesen Bedingungen kann man aus unserer Sicht den regulären Stoff nicht so durchziehen, wie es die Lehrpläne vorsehen“, sagt Sandra Reuse. „Und deswegen sollte man sich jetzt kurzfristig was anderes überlegen.“
Das Bündnis schlägt vor, den Unterricht und den Noten-Druck zu reduzieren, dagegen aber Kapazitäten für Sport, Musik und Kreativität zu schaffen. „Dafür sollte das Raumangebot besser erschlossen und genutzt werden“, sagt Sandra Reuse. Und dann die Personalnot: Die herrsche nicht nur bei den Lehrern, sondern auch in der Jugendarbeit. Erzieher und Sozialarbeiter werden in Berlin überall gesucht. Die Sportvereine der Stadt können die starke Nachfrage nicht befriedigen, weil weder genügend Übungsleiter noch ausreichende Hallen-Kapazitäten vorhanden sind.
„Wir würden gern mit der Politik ins Gespräch kommen“, sagt Sandra Reuse. Für Berlin setzt ihr Bündnis auf die Koalition aus CDU und SPD, die sich gerade formiert. Doch selbst bei allem guten Willen: Manche Forderung der Aktivisten dürfte schwer umzusetzen sein. Zum Beispiel: „Psychotherapeutische Ad-hoc-Beratung für Schüler, Eltern, Lehrer und Erzieher“. Die Universitäten Leipzig und Koblenz fanden im vergangenen Jahr bei einer bundesweiten Studie heraus, dass Kinder und Jugendliche im Durchschnit ein halbes Jahr auf den Beginn einer Therapie warten müssen. Vor der Pandemie waren es dreieinhalb Monate.
Berlin verfügt über 267 Kassensitze für Psychotherapeuten, die auf Kinder und Jugendliche spezialisiert sind. Laut jüngster Statistik lebten am 31. Dezember 2021 insgesamt 484.385 Menschen zwischen sechs und 20 Jahren in der Stadt. Wie viele wegen psychischer Probleme in Behandlung sind, ist nicht erfasst. Tendenziell dürften es eher mehr als weniger werden, der aktuellen Krisen wegen. Die stark gestiegenen Kosten für Lebenshaltung setzen viele Familien unter Druck. Vor allem diejenigen, die bereits zuvor knapp kalkulieren mussten.





