Ethnische Säuberung im Kaukasus

Bergkarabach geht uns alle an: Es droht eine Kettenreaktion des Schreckens

Während die Welt auf die Ukraine schaut, vertreibt Aserbaidschans Regime Armenier mit Gewalt aus Bergkarabach. Warum uns das nicht egal sein kann. Ein Kommentar.

Anwohner versammeln sich in der Nähe eines lokalen Regierungsgebäudes in Stepanakert, Bergkarabach.
Anwohner versammeln sich in der Nähe eines lokalen Regierungsgebäudes in Stepanakert, Bergkarabach.Siranush Sargsyan/AP

Bergkarabach – wo ist das überhaupt? Und was geht uns der Konflikt im fernen Kaukasus eigentlich an? Die Antworten darauf sind ganz einfach: Der Krieg in Bergkarabach – seit Jahrzehnten stehen sich Armenier und Aseris verfeindet gegenüber – geht uns eine Menge an. Denn Bergkarabach ist nicht irgendein unbedeutender Ort auf der Weltkarte.

Genau hier begann 1988 der Zerfall der Sowjetunion, als Tausende seiner Bewohner für eine Vereinigung mit Armenien demonstrierten. Im schiitisch-turksprachigen Aserbaidschan gab es daraufhin Massaker und Pogrome gegen die christlich-armenische Minderheit. Es kam zu wechselseitigen Vertreibungen in beiden Teilrepubliken.

Später erschütterten blutige Konflikte und Kriege den gesamten postsowjetischen Raum und forderten Hunderttausende Tote. Bergkarabach war somit der Auftakt für eine ganze Reihe ethnischer und nationalistischer Konflikte nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Ethnische Säuberung: Alijew macht mit seinen Drohungen Ernst

Seit der frühen Sowjetherrschaft ist Bergkarabach zwar völkerrechtlich aserbaidschanisches Gebiet, aber zugleich auch die Heimat einer indigenen armenischen Bevölkerung mit ihrer eigenen christlich-orthodoxen Tradition, armenischen Sprache und Kultur. Bis 1991 herrschte hier im Rahmen einer „Autonomen Oblast“ Selbstverwaltung.

Nachdem sich die Sowjetmacht zurückgezogen hatte, begann der Krieg. Aus Angst vor einem Genozid – an die vielen Toten des jungtürkischen Völkermords an den Armeniern von 1915/16 erinnern sich Armenier noch heute sehr gut – erkämpfte sich die selbsternannte armenische „Republik Arzach“ in Bergkarabach die Unabhängigkeit vom neu entstandenen Aserbaidschan.

Jetzt ist dieser Freiheitskampf der Zwergrepublik gescheitert. Seine Drohung, Bergkarabach „zurückzuholen“, hat Aserbaidschans Diktator in die Tat umgesetzt. Innerhalb von 24 Stunden zwang er die Bergkarabach-Armenier, die er zuvor durch eine monatelange Blockade ausgehungert hatte, zur Aufgabe.

Ob die armenischen Kämpfer nach dem neuesten Waffenstillstand ihren Kampf fortsetzen und ob es für die vielen Flüchtlinge ein sicheres Geleit geben wird, ist unklar. Alijews Drohung: Wer als Armenier die aserbaidschanische Staatsbürgerschaft nicht annehmen wolle, solle sich „ein anderes Land zum Leben suchen“.

Bergkarabach: Spuren armenischer Geschichte werden vernichtet

De facto kommt das einer Vertreibung gleich. In den im letzten Krieg vor knapp drei Jahren durch Aserbaidschan einverleibten Regionen lebt heute kein einziger Armenier mehr. Und auch die armenische Kultur ist dort für immer zerstört, denn anstatt das historische Erbe zu bewahren, hatte das Alijew-Regime mehrere „Smart Villages“ im Baukastenstil gebaut, die es seither stolz korrupten EU-Abgeordneten und unbedarften Journalisten aus aller Welt präsentiert.

Und der Westen? Der hat versagt. Alle Worte der Empörung über den Angriff und die drohende ethnische Säuberung klingen geheuchelt, solange EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lukrative Gasverträge mit dem Regime aus Baku abschließt und Bundeskanzler Olaf Scholz sogar gemeinsame Pressekonferenzen mit Alijew in Berlin abhält.

Aserbaidschans Machthaber Ilham Alijew während einer Pressekonferenz mit Bundeskanzler Scholz in Berlin
Aserbaidschans Machthaber Ilham Alijew während einer Pressekonferenz mit Bundeskanzler Scholz in BerlinBernd von Jutrczenka/dpa

Doch es geht auch anders: Mit Frankreich hat Armenien schon lange einen zuverlässigen europäischen Partner. Und auch die USA erkannten die strategische Chance, die eine militärische Zusammenarbeit mit Armenien angesichts eines geschwächten Russlands bietet. Vom 11. bis zum 20. September führten sie erstmals eine gemeinsame Militärübung mit den armenischen Streitkräften durch. Für Bergkarabach kam Washingtons Kurswechsel allerdings zu spät.

Es droht eine Kettenreaktion des Schreckens – wie 1988

Umsonst zerreißen jetzt armenische Demonstranten in der Hauptstadt Jerewan russische Pässe, um ihrem Unmut über den schändlichen Verrat der russischen „Friedenstruppen“ Luft zu machen. Diese ließen Aserbaidschan gewähren, während Kremlchef Wladimir Putin mit Alijew Hinterzimmer-Geschäfte machte. Und vergeblich demonstrieren sie vor dem Amtssitz ihres Premierministers Nikol Paschinjan. Dieser hatte nach seiner ersten Wahl 2018 versprochen, Bergkarabach mit militärischen Mitteln unter Armeniens Schutz zu stellen. Nach dem verlorenen Krieg zwei Jahre später wollte er noch in diesem Juli den Konflikt mit Aserbaidschan diplomatisch beilegen.

Die aktuelle Situation erinnert nicht zufällig an die Zeit um 1988. Das Sowjetreich hatte sich damals durch seinen blutigen Angriffskrieg gegen Afghanistan und durch den internen Tumult seiner Eliten in eine ausweglose Lage manövriert. Es begann zuerst an seinen Rändern zu zerfransen, Konflikte und Pogrome in der Peripherie waren die Vorboten seines Zusammenbruchs. Minderheiten und Zwergstaaten, die bislang auf seinen Schutz vertraut hatten, ließ es im Stich. Und die neue Ordnung, die aus seinen Trümmern entstand, konnte nur in wenigen seiner Nachfolgestaaten das Versprechen von Wohlstand und Demokratie einlösen.

So war es damals. Doch auch heute, nach Russlands verbrecherischem Angriff auf die Ukraine, könnte der erneut aufgeflammte Krieg um Bergkarabach eine Kettenreaktion des Schreckens in Gang setzen, die wir uns vielleicht noch gar nicht vorstellen können. Jetzt ist es Aufgabe des Westens, so zu handeln, dass diese fatale Kettenreaktion noch aufgehalten werden kann. Ob Deutschland und die EU dazu in der Lage sind, ist hingegen fraglich.